Eine Jugend ohne Halt. Und Schüsse auf ein Asylbewerberheim.
Ronny
Die 8. Große Jugendkammer verhandelt heute seine neue Sache und Ronny kommt zu spät. Dies das, jenes, weil - niemand will das hören. Der Tag, auch der Verhandlungstag, starten schon mal zu seinen Ungunsten. Geschichte seines Lebens.
Mit einer Gaspistole hat Ronny zehn Schüsse auf das Fenster eines Asylbewerberheims abgegeben, „fremdenfeindlich motiviert“. Ronny ist schmächtig, sehr ordentlich sehr kurz frisiert, 22 Jahre alt und wirkt wirklich komplett verloren und verraten.
„Der Ronny braucht einfach einen strukturierten Rahmen mit Führungsaufsicht“, sagt die engagierte Vertreterin der Jugendgerichtshilfe. „Wenn der Ronny einen klaren, strukturierten Rahmen hat, funktioniert alles, dann ist er auch zuverlässig. Wenn er das Gefühl hat, dass er den Leuten vertrauen kann, dann arbeitet er gut mit. Die ‚Beziehungsabbrüche‘ sind immer der Knackpunkt.“
„Beziehungsabbrüche“ gab es in Ronnys Leben einige. Seine Mutter, die als Zuschauerin im Verhandlungssaal sitzt, sieht aus wie seine Schwester. Sie war siebzehn Jahre alt, als er geboren wurde. Mit der Erziehung war sie alleine überfordert, Ronnys Urgroßeltern versuchten, ihr zu helfen. Als Ronny fünf war, wandte sich seine Mutter das erste Mal ans Jugendamt um Hilfe. Mit ihrem neuen Lebensgefährten zog dann irgendwann so etwas wie ein Familiengefühl ins Haus. Mit sieben wurde Ronny eingeschult, er zeigte sich dort „auffällig“ und kam bis zur sechsten Klasse in eine Förderklasse, da man „sonderpädagogischen Bedarf“ bei ihm sah. „Körperliche Konflikte mit Mitschülern“ trug Ronny aus, die zeigten, „dass er nie Grenzen gesetzt bekommen hat“, erläutert der psychologische Sachverständige, Leiter einer forensischen Klinik, mit seinem wohlklingenden Bariton. Er hat Ronny exploriert und übernimmt es, der Kammer Ronnys Lebenslauf zu schildern. Als Ronny vierzehn war, erwischte ihn sein Stiefvater mit einem Rucksack voller Spirituosen. Der Streit darüber endete in einer Schlägerei zwischen den beiden. Ronny zog zu den Urgroßeltern. „Das hat ihm gutgetan“, sagt der Sachverständige, „aber es hat nicht ausgereicht, ihm Werte zu vermitteln“. Er wird irgendwann beim Klauen von Alkohol erwischt, kommt in die Jugendpsychiatrie zum Entzug. Mit den Joints und dem Alkohol macht er danach weiter, „aber nie kombiniert. Da wird ihm schlecht.“ Man lacht natürlich nicht im Gerichtsssaal.
Ronny fängt an, Vorstrafen zu sammeln wegen Körperverletzung, „Erschleichen von Leistungen“, Widerstand, „Diebstahl mit Waffen“, Beleidigung.
Große strafrechtliche Konsequenzen hat nichts davon, Verwarnungen, Weisungen, gemeinnützliches Arbeiten - niemals ein Arrest. Aber er landet in einer Einrichtung der Jugendhilfe, im betreuten Wohnen. In der Zeit fängt er sich, „macht konsequent den qualifizierten Hauptschulabschluss“, so die zugewandte Jugendgerichtshelferin. Die Wohngruppe wird aber irgendwann aufgelöst, er zieht wieder zur Mutter. Ronnys neunter Eintrag im Bundeszentralregister führt die Beleidigungen auf, die er zwei Polizisten entgegenschleuderte: „Ich ficke dich, du Bullenschwein“, „Ich ficke deine Mutter“, „Mein Opa war bei der Wehrmacht und ihr wärt’ damals alle vergast worden“, „Ich spreng euch in die Luft, ihr Fotzen“. Der Vorsitzende Richter, dies recht unbewegt vorlesend, guckt Ronny anschließend stirnrunzelnd an. Der senkt den Kopf. Seine Verteidigerin arbeitet mit einem kleinen, auffordernden Lachen an der Stimmung im Saal. Mit dem abschließenden Vermerk: „Die Zeugen haben sich in ihrer Ehre verletzt gefühlt“, endet Fall neun der Akte.
Die Realschule bricht Ronny ab, fährt besoffen Auto. „Eine deutliche dissoziale Entwicklung“, wie es der Psychiater nennt, „aber keine Persönlichkeitsstörung“. Er trinkt „exzessiv bis zum Filmriss, auch bis zur Klinikeinweisung oder so, dass er keine Erinnerungen mehr an das Wochenende hat. Leider bekommt er keinen Kater, der ihn eventuell bremsen würde beim nächsten Mal“, meint der Psychiater. Sein leiblicher Vater taucht irgendwoher irgendwann auf; der saß zwischenzeitlich im Gefängnis. Er verspricht Ronny „alles Mögliche“. Zuwendung wohl vor allem. Ronny schließt mehrere Handyverträge für ihn ab - die er bis heute immer noch alleine abstottert. Der Vater ist mittlerweile schon längst wieder verschwunden. Die Auflagen, die ihm die Trunkenheitsfahrt eingebracht haben, verhelfen Ronny, eine Ausbildung als Verkäufer zu beginnen. In der Zeit „orientiert er sich rechts“, die Ausbildung beendet er mit einem Abschluss. Nach seiner elften Straftat, wieder ein „Erschleichen von Leistungen“, kehrt dreieinhalb Jahre Ruhe ein in seine Akte.
Die Schüsse auf das Fenster des Asylbewerberheim fallen an einen Tag, an dem er eine Flasche Wodka und ein Sixpack Bier getrunken hat. Nur „erschrecken“ habe er die Einwohner wollen, „um sich überlegen zu fühlen“, erklärt seine Verteidigerin, die sich gerne in AfD-Manier auf Gerichtsfluren äußert und gleichzeitig ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit abgelehnten Asylbewerbern und Nebenklagevertretungen zu verdienen scheint. Außer ihrer sehr blondierten Haare zeichnet sie sich durch eine krawallige Stimme aus. In vielen Kammern ist man um jede Minute froh, die sie schweigt.
Die Bewohner des Asylheims haben Glück. Ronny auch. Hinter dem Fenster steht niemand, es entsteht nur Sachschaden. Auf dem Überwachungsvideo der Einrichtung sind „keinerlei Gangstörungen“ bei Ronny zu erkennen; die Polizei findet ihn „nicht beeinträchtigt in seiner Steuerungsfähigkeit“ - bei vier Promille. Auf seinem Computer sichten die Beamten „rechtsradikale Propaganda, NPD-Material und Bilder von der Waffen-SS“. Beim Amtsgericht kriegt Ronny eine Verwarnung wegen der Sachbeschädigung. Die Staatsanwaltschaft protestiert. Sie findet „das Tatmotiv nicht ausgearbeitet“ und legt Berufung ein. Ein Jahr liegt Ronny das Verfahren im Nacken, bevor die Sache im Landgericht neu verhandelt wird. „Für jeden echten Rechtsextremen ist das Kindergarten, was er auf dem Rechner hat“, gibt sich Ronnys Verteidigerin mit Verve ihrer Sache hin. „Er ist gar nicht politisch aktiv. Er hat sich das falsche Objekt ausgesucht und es tut ihm leid“. Was eventuell ein besseres gewesen wäre - dazu lässt sich nicht ein. Ronny, der „aktiv bei der Exploration“ mitmachte, habe nun „erkannt, was seine Möglichkeiten sind“.
Der psychiatrische Sachverständige rät der Kammer zum Versuch, Ronny zur Entwöhnung acht bis zwölf Wochen stationär unterzubringen, anschließend mit eine ambulante Therapie fortzusetzen, zweimal wöchentlich. Dazu regelmäßig unangekündigte Drogentests vorzunehmen. Seinen Job im Getränkemark sollte Ronny kündigen, da dort „Alkoholkonsum gang und gebe“ sei. Bei Verstoß gegen die Auflagen sollte er jedoch in den Maßregelvollzug, nach Paragraph 64, in dem es heißt: „Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“, wenn „hinreichend konkrete Aussicht besteht, (…) zu heilen oder (…) über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen“.
Wie lange soll er denn dann untergebracht werden, will der Vorsitzende wissen, das Gesetz erlaube ja maximal zwei Jahre. „Ich kann keine Therapie gegen jemanden machen.Therapie ist nichts anderes als lernen. Ein Vierteljahr wird alles versucht, wenn einer nicht will, länger nicht“, lautet die Antwort.
Die Kammer, in ihrer Urteilsbegründung, sieht „die Voraussetzungen für den 64er klar gegeben“. Ronny zeige „eine hohe Aggressivität unter Alkohol“. Der Maßregelvollzug, „eines der schärfsten Geschütze, die unser Rechtsstaat aufzubieten hat“, wird drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Im Übrigen folgt das Gericht den Empfehlungen des Sachverständigen. Zwölf Wochen stationäre Entwöhnung, anschließend zwei Mal die Woche zur Therapie, „Führungsaufsicht“, Drogentests, neues Umfeld, neuer Job. Dazu noch eine Jugendstrafe zu verhängen, wie von dem Vertreter der Staatsanwaltschaft gefordert, hält die Kammer für „kontraproduktiv. Diese Sanktion hier ist schon verdammt hart“.
Beinah väterlich wendet sich der Vorsitzende an Ronny: „Diesen Beschluss hängen sie sich über das Bett und arbeiten das Punkt für Punkt ab. Und nicht noch mal irgendwo einen kleinen Joint oder ein Bierchen gezwitschert! Wir überwachen das.“ Na klar.
Dass Ronny den „Bewohnern nur einen Schrecken einjagen wollte“ sei nicht widerlegbar, „mehr haben wir nicht“. Und das bei ihm gefundene Material „ist zwar politisch unangenehm, aber keine Straftat“.
„Der Wahrung des Rechtsfriedens ist Genüge getan.“
Wenn man Herzblatt-Schreiberin wäre, würde man Ronny jemanden wünschen, der ihn liebt und mal dauerhaft an den Schultern packt. Dem Jungen, der sich festbestellt, bei jedem, der ihm eine Art von Zugewandtheit vermittelt.
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