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Unbehagen

Drei Jahre nach ihrer ersten Begegnung trafen sie sich wieder.

Ihr erstes Aufeinandertreffen war unausweichlich gewesen. Die Beerdigung seines Bruders, ihres Freundes. Zu der untröstlichen Trauer gesellten sich Schock und Verwirrung, als sie ihn das erste Mal sah.

Sie wusste, dass ihr Freund einen jüngeren Bruder hatte, kannte dessen Namen, aber hatte nie ein Foto von ihm gesehen.

In den hektischen, wirren, schluchzenden Telefonaten, in denen die Todesnachricht im Freundeskreis hin und her geflogen war, hörte sie immer wieder den Namen des Bruders, den einige von ihnen kannten, oder zumindest mehr über ihn wussten als sie, und jeder meinte, um den hätten sich doch immer alle Sorgen gedreht, um ihn machten sie sich nun welche. Ein Klassiker. Gänzlich zurückgezogen lebe der, ohne Sozialkontakte, ohne Arbeit, der große Bruder die einzige Verbindung zur Außenwelt, sein Halt. Es wurde immer melodramatischer. Ein aufgeregt plappernder Trauerkitsch; der jüngere Bruder, ja, aber warum denn ihr Freund. Er war doch gerade so erfolgreich, der übliche, hilflose Quatsch.

Sie, die den Bruder nicht kannte, noch nicht kannte, runzelte die Stirn, während sie am Telefon den seltsamen Geschichten über den jüngeren Bruder lauschte, und hatte dabei den Freund vor sich, dem sie von Anfang an die Depressionen angesehen hatte. Damals schon, vor fast dreißig Jahren. Die Nachricht von seinem Tod hatte sie in einen abgrundtiefen Schmerz gestoßen, aber nicht überrascht.

Aber sie wunderte sich jetzt, dass er ihr nie von seinem Bruder erzählt hatte. Von seiner Kindheit, seinen Eltern, nicht unseren gesprochen hatte. Der Mutter, die ihn verlassen hatte, dem Vater, der ihn gepeinigt hatte.

Irgend etwas war eigenartig an diesen Geschichten am anderen Ende der Leitung. Eine falsche Richtung. Ganz falsch.

Sie, all die Freundes des Toten, der seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte, standen in der klirrenden Februarkälte eines Friedwalds in der Nähe von Berlin, ein Begräbnisort, der ihr eigenartig ausgewählt vorkam, war ihr Freund doch ein Mensch des Lebens, des Trubels, der Großstadt gewesen. Sie hatte alle Freundinnen aufgefordert, sich ein schicket Fetzsche, wie der Tote sagen würdeund hohe Schuhe anzuziehen, trotz Kälte und Wald. Etwas anderes wäre für ihren Dorian Gray indiskutabel. Während sie alle gemeinsam im Auto auf der Fahrt hysterisch lachend und heulend zugleich das typisch überdrehte Weißt-du-noch und Er-würde-jetzt-sagen abspielten und sich die Lippen nachzogen, waren sie schlagartig verstummt, sobald sie auf dem Parkplatz hielten. Der Wagen mit den spärlichen Familienmitgliedern erschien und der Bruder des Toten stieg aus.

Sein Anblick traf sie unvorbereitet. Eine gespenstische Ähnlichkeit mit dem Toten als junger Mann.

Der Körper hochgewachsen und schmal, ja zart, mit den gleichen großen, tiefdunklen Augen seines Bruders und den fließenden, vorsichtigen Bewegungen.

Sie starrte ihn an, ihr Herz raste.

Schweigend stolperten sie in ihren hohen Schuhen den Waldweg entlang zu dem Baum, unter dem die Asche ihres Freundes beigesetzt werden sollte und warteten auf die Urne. Nein, darauf, dass der Tote gleich lachend Ich bin schon wieder zu spät rufend auf seiner Vespa auftauchte.

Der Bruder nahm im Kreis um den Baum den Platz neben ihr ein. Er drehte langsam den Kopf zu ihr und sah ihr lange unverwandt in die Augen. Sie konnte den Blick nicht abwenden.

Nach der kleinen intimen Trauerfeier im Freundeskreis wollten sich die aus allen Ecken des Landes Herbeigereisten noch nicht trennen. Ein Italiener, ums Eck. Höflichkeitshalber fragte einer den Bruder, ob er mitwolle und rechnete wie alle mit einem Nein. Doch der Bruder fragte, ob diese Freundin mitkäme und sagte zu.

Im Restaurant nahm er neben ihr Platz und ergriff ihre Hand. Sie hatte stundenlang geheult, war leer und überfordert von diesen Augen und der Berührung eines Fremden, der ihr wie ein Avatar ihres Freundes erschien.

Die anderen, die, die ihr all diese merkwürdigen Geschichten über ihn erzählt hatten, in denen auch immer wieder er hat Asperger auftauchte, tauschten perplexe Blicke und schienen nicht glauben zu können, was sie da sahen. Als säßen sie im Kino. In ihren Blicken spiegelte sich ihre eigene Verstörung wider.

Irgendwann sagte er leise etwas zu ihr und in ihren Ohren rauschte es.

Die Stimme.

Die Stimme, nur verhaltender und umweht.

Ihre Hand festgehalten von ihm, seine Augen wie die dunkle Tiefsee, die sie hinunterzog. Er war ganz nah an sie herangerückt, ihre Beine berührten sich unter dem Tisch, sie war unfähig, sich auch nur ein wenig von ihm wegzubewegen.

Als sich alle um Mitternacht zerstreuten, auch er gegangen war, ihr seine Telefonnummer und E-Mail-Adresse hinterlassend, suchte sie mit einer an ihrer Seite verbliebenden Freundin eine Kneipe auf. Sie betranken sich hemmungslos.

Sie meldete sich nie bei ihm.

Ungefragt wurde ihr dann und wann von ihm berichtet, alles wieder mit der gleichen Melodramatik unter der ein Er lebt noch hing. Jeder schien jederzeit nach dem Tod des Freundes, jetzt erst recht, damit zu rechnen, dass der nunmehr doch gänzlich Verlassene seinem Bruder folgen würde. Als könne das gar nicht anders sein.

Genau drei Jahre nach der Beerdigung begegneten sie sich wieder.

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