In Pfützen springen
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Kürzlich lief ich den Landwehrkanal in Berlin entlang, es hatte geregnet, große Pfützen und Schlamm überall, ich ging im Slalom drum rum, und dann tappte dann doch mit der Fußspitze ins Wasser.
Ich hörte das leise Platsch, kleine Ringe kräuselten über das braune Wasser, spielten mit den Reflexionen der herbstgelben Bäume, und sofort dachte ich: Natürlich lieben es Kinder, da reinzuspringen.
Es gibt viele Definitionen von Erwachsenwerden. Camus meinte, es kommt, wenn das Kind den Ekel erfährt. Der Klassiker ist das erste Mal Sex. Völlig sinnbefreit: das Erreichen den 18. Lebensjahr. Ich glaube, Kinder werden erwachsen, wenn sie die eigene Sterblichkeit begreifen, wenn die Unendlichkeit begrenzt wird, die Angst einsetzt.
Und irgendwann dann setzt bei vielen auch der Prozess ein, der unsere Gesellschaft auf spiritueller Ebene mit am meisten prägt: der Versuch, gegen den Tod anzuarbeiten, anzubauen, anzuraffen. Als würde ein großes Haus, ein teurer Teppich, ein schneller Laptop den Tod aussperren können. Gedeckte Grundbedürfnisse, ja, sie verlängern, verschönern das Leben, keine Frage. Aber wo früher Gott war mit seinem Versprechen auf ewiges Leben, ist heute der Versuch mit dem Verwandeln unserer Mitwelt in Konsumprodukte gegen das Unvermeidliche anzukommen – und das hat so etwas unglaublich Totes. Warum springen Erwachsene nicht mehr in Pfützen?
Ein Fitnessstudio ist das Gegenteil einer Pfütze, in die man springt. Stattdessen begreift man den Körper als Maschine, spannt ihn ein in Geräte, vermisst, wiegt und bewertet ihn, statt das Wechselspiel der Mitwelt zu genießen. Kein Platsch.
Douglas Rushkoff hat ein spannendes Buch geschrieben, wie das Silicon Valley dieses Verständnis noch weitertreibt, in der Hoffnung mit seinen digitalen Parallelwelten das Leben auszusperren und damit den Tod zu überwinden.
Die traurige Pointe: in dieser aussichtslosen Materialschlacht, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen.
Ich glaube, der Prozess des (Selbst-)Bewusstwerdens der ökologischen Klasse ist ein Sich-Neu-Verlieben in die Lebendigkeit.
Klingt abstrakt. Aber es lebt in uns allen. Das Gefühl, wenn es zum ersten Mal im Jahr wieder nach Frühling riecht. Die Ruhe, die kommt, wenn die Tage kürzer werden. Das Fell eines Tieres kraulen. Die süßen dicken Armen eines Babys kneifen. Flunkyball spielen. Liebe machen. Ein Beet bepflanzen. Eine bestimmte Art von Gruppenselfie. In den Schnee pinkeln. Einen Fremden anlächeln. Jemandem etwas beibringen. Eine Straße blockieren. Tango und Moshpit. Kochen. Eisbaden. Trösten. Ein Haus bauen. Am besten immer gemeinsam.
Hartmut Rosa nennt das Resonanz. Hesse hat in Narziß und Goldmund das delikate Wechselspiel der Lebendigkeit mit dem Sterben rausgearbeitet, denn ja: Lebendigkeit leben, bedeutet auch, die eigene Sterblichkeit anzuerkennen.
Wollen wir nicht das Leben auf diesem Planeten mit uns in den Abgrund reißen, ist es – glaube ich – unsere große Aufgabe, das Sterben zu lernen und das Leben zu lieben. Und ich glaube, das ist die schönste Aufgabe von allen.
Eine meiner anderen Lieblingsaufgaben ist es, diesen Newsletter zu schreiben, auch wenn ich derzeit nicht so viel Zeit dafür habe, wie ich es gerne hätte, weil ich viel im Protest bin.
In einer ruhigen Minute habe ich den Anbieter gewechselt und alle Abonnent:innen mitgenommen. Es kann sein, dass da auch welche drunter waren, die sich eigentlich schon abgemeldet hatten – falls das zutrifft: mea culpa, entschuldigt bitte und klickt einfach unten auf den “abmelden”-Link, dann seid ihr wieder draußen.
Für alle, die bleiben: Ich freue mich wie immer über eure Mails und Kommentare!
Bleibt lebendig
Raphael