Project K Filmfestival 23.10. - 27.10.
Bisher konnte ich das koreanische Filmfestival leider nur in digitaler Form besuchen, aber dieses Jahr habe ich es nach Frankfurt vor Ort geschafft. Unter dem thematischen Schirm der Generationen handelten viele Filme von der intergenerationellen Kommunikation. Bedingt durch die längere Anfahrt beschränkte sich meine Festivalzeit auf lediglich fünf Filme, von denen ich hier den Ersteindruck darlegen möchte.
The Dream Songs (Cho Hyun-chul)
Im April 2014 kamen bei einem Fährunglück vor der Ferieninsel Jejudo 250 Schülerinnen und Schüler ums Leben. Vor diesem Hintergrund spielt das Regiedebüt von Cho Hyun-chul The Dream Songs. Die Handlung folgt Se-mi, die, alarmiert und verwirrt durch einen Tagtraum, ihre beste Freundin Ha-eun davon überzeugen möchte, doch auf den Schulausflug am morgigen Tag mitzukommen. Ha-eun liegt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus und entschied sich daher, dem Schulausflug fern zu bleiben.
Die Tragödie außen vor gelassen, haben wir es hier mit einem lupenreinen Liebesfilm und einer Coming-of-Age Geschichte zu tun. Über die gesamte Laufzeit versucht Se-mi ihrer besten Freundin ihre Liebe zu gestehen und auszuloten, ob Ha-euns Gefühle auch romantischer Natur sein könnten. Es geht um Missverständnisse, jugendlichen Egozentrismus, Freunde, die einem erst nochmal den Kopf waschen müssen und Trauerbewältigung. Sprich, es geht um die ganz großen Gefühle des Erwachsenwerdens.
Die Handlung spielt sich an nur einem Nachmittag ab. Gezeigt wird dieser Tag in pastellfarbenen, überblendeten Bildern, die eine traumhafte, fast schon ätherische Atmosphäre erzeugen. Gepaart mit dem wiederholten Auftauchen von Spiegeln, durch die wir die Protagonistin beobachten, die ansonsten nicht in der Szene wäre, sind wir uns schon von Anfang an bewusst, dass Se-mi nicht lebend von dem Schulausflug zurückkehren wird. Der Effekt, der dadurch erzeugt wird, ist zweierlei:
Erstens entsteht dadurch eine Dringlichkeit des Liebesgeständnisses. Für Se-mi gibt es keine höhere Priorität, als ihre Gefühle für Ha-eun. Für die Jugendliche bricht die Liebe wie ein Sturm über sie hinein, weswegen sie sich auch so irrational verhält, dass sie von ihren Freundinnen gestoppt werden muss. Als Publikum bekommen wir durch die Themensetzung des Fährunglücks unmissverständlich vermittelt, wie dringend und überwältigend das anstehende Geständnis für Se-mi ist, sind wir es doch gewohnt, über die Jugend als etwas Unendliches nachzudenken. Solange wir jung sind, haben wir alle Zeit der Welt. Wenn wir heute unsere Liebe nicht gestehen, dann machen wir das eben morgen. Für Se-mi wird es aber kein Morgen mehr geben, wenn sie heute nicht ihre Gefühle gestehen kann, wird sie es nie können.
Zweitens entsteht konträr zu der Dringlichkeit auch eine Art Ewigkeit. Die Welt und vor allem Ha-eun werden immer an Se-mi denken, ihr Geist wird Ha-eun auf ewig begleiten. Die Reflektion im Spiegel wacht über Ha-eun, so kann sie sich sicher sein, dass das Wasserglas am Ende doch nicht von der Tischkante fällt, obwohl Se-mi nicht mehr da ist, um das Glas zu retten.
Interessanterweise spielt gesellschaftliche Ideologie in diesem Film keine Rolle. Allzu naheliegend wäre es gewesen, die Ursachen des Fährunglücks zu beleuchten. Man muss sich nur einmal den Wikipedia Artikel durchlesen, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie groß das menschliche Versagen gewesen sein muss, dass es zu so vielen Toten gekommen ist. Cho Hyun-chul hat aber kein Interesse daran, den moralischen Zeigefinger auf jemanden zu richten, stattdessen konzentriert er sich zu hundert Prozent auf seine beiden Protagonistinnen. Das macht den Film auch weit weniger frustrierend, als befürchtet. Was hier geschaffen wurde, ist eine ergreifende Liebesgeschichte, die von zwei fantastischen Schauspielerinnen und großartig geschriebenen Dialogen zu mit dem schönsten Film geworden ist, den ich je gesehen habe.
Poetry (Lee Chang-dong)
In Lee Chang-dongs Film von 2010 geht es um Yang Mi-ja, die mit ihrer beginnenden Demenz und ihrem schmalen Geldbeutel zu kämpfen hat, während sie gleichzeitig versucht zu ihrem Enkel durchzudringen, der mit seinen Freunden eine Mitschülerin vergewaltigte und sie somit zum Selbstmord trieb. Um sich geistig fit zu halten, schreibt sich Mi-ja in einen Poesiekurs ein und versucht, innerhalb eines Monats ein Gedicht zu schreiben. In ihrer Jugend wurde sie schon für ihre Gedichte gelobt und so will sie sich noch einmal der Herausforderung stellen.
“Gedichte geben die Schönheit der Welt und des Lebens wider”, erklärt ihr der Lehrer. Doch welche Schönheit kann ein Gedicht ausdrücken, wenn der Alltag Mi-jas geprägt ist, von einem undankbaren Enkel, einer abwesenden Tochter, einer quasi nicht vorhandenen Rente und einer Alzheimer-Diagnose? Entsprechend sucht Mi-ja immer wieder nach Antworten von ihrem Lehrer und anderen Hobby-Dichtern: Wie schreibt man ein Gedicht? Wann kommt der inspirative Funke? Hilfreiche Antworten bekommt sie keine.
Die einzige Antwort, die sie immer wieder erhält, ist die Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist. Sechs Schüler, darunter Mi-jas Enkel Jong-wook, vergewaltigten regelmäßig eine Mitschülerin, die sich daraufhin das Leben nahm. Die Väter der Jungs sind besorgt um die Zukunft ihrer Kinder und beschließen, bevor es zu einer öffentlichen Untersuchung kommt, sich mit der Mutter der Verstorbenen außergerichtlich mit einem Geldbetrag zu einigen. “Wir haben uns beraten und sind zu dem Schluss gekommen, dass 30 Millionen Won eine angemessene Summe sind”, weiß einer der Väter. Die Antwort auf die Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist, lautet also 30 Millionen Won.
Lee Chang-dong verhandelt in Poetry die Frage der Schuld. Kann man sich aus so einer Tat einfach freikaufen? Inwiefern sind die Eltern hier mitverantwortlich? Wer kommt hier als Elternfigur in Betracht? Am Ende wird die Poesie mit der Moral in Verbindung gebracht, wenn der profane Stand-Up Dichter, der nur anzügliche Witzchen macht, sich als Polizist zu erkennen gibt, der dann auch Jong-wook verhaften kann. Das kreative Schreiben dient also nicht der bloßen Wiedergabe des Schönen, sondern vielmehr als Kompass in einer ungerechten Welt seinen eigenen Standpunkt zu finden.
Allein die Alzheimer Diagnose ist unnötig und trägt nichts zu der starken Story bei, im Gegenteil, ist man dadurch beim Zuschauen immer mehr damit beschäftigt, sich zu fragen, ob die Handlungen Mi-jas jetzt bewusst vorgenommen werden, oder irrationale Symptome der Demenz sind.
Peppermint Candy (Lee Chang-dong)
Der zweite Film des Festivals von Lee Chang-dong stammt aus dem Jahr 1999. Verhandelt wird hier das koreanische Generationen-Trauma, welches das Gwangju Massaker, die nationalen Studentenproteste, Polizeibrutalität und die Wirtschaftskrise beinhaltet. In umgekehrt chronologischer Reihenfolge begleiten wir Young-ho von seinem Selbstmord in sechs Stationen bis hin zu seiner ersten Begegnung mit seiner großen Liebe Sun-im beim Firmenpicknick.
Der Zug, der Young-ho tötet, fährt rückwärts die Schienen entlang und zeigt uns die verschiedenen Stationen, die Young-ho in seinem Leben durchmachen musste. Die Analogie ist klar, für Young-ho gab es mit dem ersten Einsatz in Gwangju keinen anderen Ausweg. Wie auf Schienen musste er sich seinem Schicksal fügen und immer weiter abrutschen. “In deine Hände habe ich mich zuerst verliebt”, sagte ihm Sun-im. “Sie sehen zwar hässlich aus, aber vor allem auch gutmütig. Das sind die Hände einer gutmütigen Person”. Young-hos Traum war es, später einmal Fotograf zu werden, so formten bei seinem ersten Treffen mit Sun-im seine Finger eine Kameralinse. Doch in Gwangju haben seine Hände eine Studentin getötet, bei der Polizei haben seine Hände Verdächtige gefoltert bis sie wortwörtlich mit Scheiße beschmiert waren. “Das wirst du nie wieder los”, erklärte ihm damals schon ein Polizeikollege, der Young-hos verzweifelten Versuch beobachtete, die Fäkalien mit Seife abzuwaschen.
Das Militär und die Polizei haben Young-hos Hände beschmutzt - haben Young-hos Unschuld geraubt, aber danach hat er es genauso weitergegeben. Wenn er sich am Ende das Leben nehmen will, schreit er verzweifelt, welchen von den Männern, die ihm Unrecht getan haben, er mitnehmen soll. Sein ehemaliger Partner, der Kredithai oder der Gläubiger? Von den Generälen, die ihn haben auf Unschuldige schießen lassen, oder den Polizisten, die ihn haben wehrlose Menschen foltern lassen, ist hier nicht mehr die Rede. Wenn wir Young-ho als Präsident seiner Investmentfirma sehen, schlägt er seine Frau, tritt seinen Hund, lässt seine Sekretärin stundenlang im Auto warten, bevor er mit ihr schläft und ist auch ansonsten ein Kotzbrocken. Von den gutmütigen Händen ist keine Spur zu sehen.
Aber auch schon früher, nachdem er aus dem Militäreinsatz in Gwangju zurückkommt, stößt er mit aller Macht die zu ihm zurückgekehrte Sun-im von sich. Die Kamera, die sie extra für ihn gekauft hat, gibt er ihr wortlos zurück. Nachdem er die junge Studentin in Gwangju, die er für eine kurze Zeit für Sun-im hielt, erschossen hat, hat er damit gleichzeitig seine Zukunft mit ihr ermordet. Wenn Sun-im Fünfzehn Jahre später im Sterben liegt, und als letzten Wunsch ihrem Mann gegenüber äussert, noch einmal Young-ho zu sehen, kommt dieser zu spät. Sie hat schon ihr Bewusstsein verloren. Alles, was bleibt, ist eine letzte Träne von ihr und die Kamera, die sie über all die Jahre aufbewahrt hat. Die Kamera, die von Young-ho postwendend für 40.000 Won verscherbelt wird.
Peppermint Candy zeigt schonungslos, wie ein individuelles Leben zerstört werden kann, obwohl Young-ho eigentlich alle Wege offen standen. Krieg, Gewalt und bedingungslose Autorität vernichteten unwiederbringlich die Unschuld nicht nur derjenigen, die sich auf dem Schlachtfeld befanden, auch die Frauen in Young-hos Leben müssen am eigenen Leib erfahren, was er an ihnen stellvertretend rauslässt.
Troll Factory (Ahn Gooc-jin)
Als Verfilmung des Buchs The Comments Army beleuchtet der Ahn Gooc-jin in seinem Thriller das Social Media Verhalten in Südkorea und die Relevanz des Troll-Postings. Der Film beginnt mit einer gehetzten Einleitung verschiedener Demonstrationen in der jüngeren Vergangenheit und wie eine Firma wegen diverser Missstände angeprangert wird, aber am Ende doch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen wusste. Es wird direkt so einiges in die Waagschale geworfen: Zivilcourage, eine Regierung, die das zu unterdrücken versucht, eine Öffentlichkeit, die davon nicht behelligt werden möchte, eine Firma, die zu großen Einfluss auf die Politik hat und eine Medienlandschaft, die zwischen Konformität und aufklärerischem Geist zerrissen wird.
Der Auftakt wird gefolgt von der Einführung des Hauptcharakters Sang-jin, der als Investigativjournalist für eine renommierte Zeitung arbeitet. Entgegen den Anweisungen seines Chefredakteurs geht er einem Tipp nach, auf der Suche nach der großen Verschwörung eben jener Firma vom Anfang des Films. Danach wandelt der Film auf genretypischen Pfaden: Es gibt Tote, Paranoia, anonyme Quellen, Zweifel am System und opportunistische Chefs.
Das größte Problem des Films bleibt in der Auflösung. Irgendwie hat jeder jeden verraten, um die ganz große Enthüllung zu vertuschen. Die böse Firma, die mächtiger ist, als der Staat selbst, hat eine Abteilung geschaffen, eigens, um mit stimmungsmachenden Posts die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Noch nicht mal, um wirkliche Fake-News und andere Lügen zu verbreiten, oder um gezielt Regierungsbeamte und Gremien an sich zu binden, sondern nur, um das öffentliche Image zu pflegen. In anderen Worten, die Firma hat eine Werbeabteilung gegründet.
Troll Factory verrennt sich mit überstilisierten Bildern in einer belanglosen Story. Der Anfang und das Ende sind viel zu rasant erzählt, während der Mittelteil mit der Hintergrundgeschichte über Cyber-Bullying langweilt. Wenigstens waren die drei Hacker-Boys hot.
That Summer’s Lie (Sohn Hyun-lok)
Obwohl That Summer’s Lie in der Kategorie Indie und entsprechend nicht unter dem thematischen Schirm der Generationen lief, dreht sich in Sohn Hyun-loks Drama alles um die Frage, ob die ältere Generation der jüngeren zuhören will und sie verstehen versuchen kann. Die Handlung folgt der Schülerin Da-young, die im Rahmen ihrer Sommerhausaufgaben ins Lehrerzimmer diktiert wird. Die Aufgabe war lediglich, eine nette Erinnerung an die Ferien aufzuschreiben. Da-young war allerdings die einzige, die die Hausaufgabe überhaupt gemacht hat und hat diese auch dazu genutzt, über die Erlebnisse mit ihrem Freund zu schreiben. Weil der Text wohl etwas zu explizit und frivol war, wurde der Lehrer misstrauisch und vermutet nun, dass Da-young eventuell Alkohol getrunken haben könnte.
Wir erleben Da-youngs Sommer folgend in Retrospektive. Während der Ferien wurde Da-young von ihrem Freund Byung-hoon verlassen, hat ihren verheirateten Mathematik-Tutor verführt, hat die neue Freundin ihres Ex-Freunds attackiert, hatte einen positiven Schwangerschaftstest, ist mit ihrem Ex zusammen gekommen, hat die Ehe ihres Tutors ruiniert, sich mit ihrer Mutter zerstritten und schlussendlich mit Hilfe einer Tür abgetrieben. Typischerweise würde man eine Geschichte über Teenagerschwangerschaften eher am Rande der Gesellschaft vermuten, was hier nicht der Fall ist. Da-young führte ein ganz normales Leben in der Mittelschicht, zumindest wurden keinerlei Geldsorgen der Mutter oder der Tochter angesprochen, und auch sonst genoss Da-young einen guten Ruf als fleißige Schülerin. Abseits des gutbürgerlichen Milieus allerdings, zeigt der Film wenig, was man nicht sonst schon einmal gesehen hat.
Die tradierte Story dient aber vielmehr als Vehikel für Sohn Hyun-loks These der generellen Verlassenheit der Jugend, unabhängig vom sozialen Stand. Da-youngs Mutter findet nicht nur nicht die passenden Worte für den Liebeskummer der Tochter, sie weiß noch nicht einmal, dass sie einen Freund hatte. Als Da-young ihr die Schwangerschaft beichtet, rastet sie komplett aus und versucht gar nicht erst, ihre Tochter zu verstehen. Byung-hoons Eltern werden hysterisch, als sie sein geschwollenes Gesicht sehen, so dass auch hier das Geständnis über die Schwangerschaft unmöglich erscheint. Der Nachhilfelehrer tut alles dafür, die Schuld für den Sex auf Da-young zu schieben und seine Exfrau trifft sich mit Da-young nur, um ihr mit Geld die Abtreibung zu ermöglichen - wahrscheinlich um ihren eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Interesse am Gefühlsleben der beiden Schüler hat von den Erwachsenen niemand.
Auch der Lehrer, für den Da-young die Hausaufgaben macht, kommt nicht auf die Idee, dass seine Schülerin einfach jemanden braucht, um sich anzuvertrauen. Dass sie die einzige der ganzen Klasse ist, die die Hausaufgaben überhaupt gemacht hat, nur, um sich potentiell in Gefahr zu bringen, macht ihn nicht stutzig. Alles, was er vermutet, ist, dass Da-young Alkohol getrunken haben könnte. Allein deswegen blüht ihr am Ende ein Disziplinarverfahren von der Schule. Wenn herauskommen würde, was sie tatsächlich erlebt hat, wäre Alkohol sicherlich das geringste Problem.
That Summer’s Lie krankt leider an einer uninspirierten Story und überzeichneten Charakteren. Die Grundthematik des mangelnden Verständnisses der Erwachsenen wird nur beim Lehrer vielschichtig inszeniert und bleibt bei den anderen zu oberflächlich. Auch Da-young kann nur schwerlich erfasst werden, zu irrational und sprunghaft sind ihre Handlungen und Ausbrüche. Aber vielleicht gehöre ich ja selbst nur zu den Erwachsenen, die den Bezug zur Jugend verloren haben.