Anora (Sean Baker)
Mit Anora veröffentlicht Sean Baker nach Tangerine, The Florida Project und Red Rocket seinen vierten Spielfilm der einen Blick auf die Realität der amerikanischen Sexarbeiter wirft. Wie auch seine letzten Filme besticht Anora vor allem dadurch, dass der Film weder romantisierend noch moralisierend mit seinen Figuren umgeht. Vielmehr begleiten wir die 23-jährige Sexarbeiterin Anora, die sich lieber Ani nennt, wie sie ein paar Wochen mit dem russischen Milliardärssohn Iwan verbringt.
Getreu dem Motto des Films “Love is a hustle” geht es um Sex, Macht, Unabhängigkeit und Geld - viel Geld. Aus einer zunächst auf sexuellen Dienstleistungen basierenden Beziehung, landen Ani und Iwan vor dem Traualtar in Las Vegas. Doch der Traum der persönlichen Cinderella-Story im Sinne von Pretty Woman hält nur kurz, denn die Milliardärseltern zeigen sich nicht begeistert von den Eskapaden ihres Sohnes.
Freie Marktwirtschaft
Im Headquarter, dem Stripclub, in dem Ani arbeitet, wird sie regelmäßig von ihren Kunden mit Geld überschüttet. “Mach mir einen Gürtel aus Geld”, spornt sie den älteren Herren an, der ihr gerade 100-Dollar Noten in den Bund ihres String-Tangas steckt. Anhand der ersten 10 Minuten des Films könnte man meinen, dass Ani in Saus und Braus leben würde, doch sobald ihre Schicht zu Ende ist, ist von den Tausenden von Dollar, um die sie am heutigen Abend ihre gutbetuchten Kunden erleichtert hat, keine Spur mehr. Karl Marx’ Kapitalismus-Analyse bestätigend, bleibt der Mehrwert, den Ani durch ihre Arbeit erwirtschaftet, beim Kapitaleigner, dem Clubbesitzer Jimmy, hängen.
Aber es könnte auch schlechter um Anis ökonomische Situation stehen. So muss sie ihr Haus mit ihrer Schwester teilen und auch die Lage ihres Zuhauses an den Schienen der New-Yorker Bahn könnte durchaus idyllischer sein, aber zumindest hat sie ein Dach über dem Kopf. Der Film legt nahe, dass Anis finanzielle Lage darin begründet ist, dass sie ab und an selbst als Unternehmerin auftritt. Immer dann, wenn Kunden sie nach ihrer privaten Nummer fragen. So auch, als Iwan ihr Geld anbietet, eine Woche für ihn das persönliche “horny girlfriend” zu sein - eine Szene, die eine direkte Referenz zu Pretty Woman darstellt (“Ich hätte dir auch 30.000$ geboten” - “Ich hätte es auch für 10.000$ gemacht”). Jimmy ist nicht glücklich darüber, eine Woche auf Anis Dienste verzichten zu müssen, jedoch kann er auf ihre Forderung, ihr einen ordentlichen Arbeitsvertrag inklusive Sozialversicherung anzubieten, selbstverständlich nicht eingehen. Folglich ist die angedeutete Freiheit von Ani, sich zu entscheiden, für ein paar Tage nicht auf der Arbeit zu erscheinen, im Grunde genommen eine ökonomische Unfreiheit, die sie zwingt, sich Alternativen auf dem Markt zu suchen.
Luhmann
Bei dem Systemtheoretiker Luhmann dreht sich alles um den Kommunikationsbegriff. Die Gesellschaft ist aufgeteilt in kleinere Sozialsysteme, wie Wirtschaft, Politik und Partnerschaft und innerhalb der Systeme spielt die Kommunikation eine essentielle Rolle. Hierbei hängt es vom jeweiligen Sozialsystem ab, welches Kommunikationsmedium genutzt wird. In der Politik, zum Beispiel, begegnet eine Partei der anderen auf Basis von Wahl-Legitimation in einer Demokratie, also auf der Basis von Macht, in der Wirtschaft verhandelt ein Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber auf Basis von Geld, und so weiter.
In Anora haben wir es mit dem Verschwimmen der Grenzen dieser Sozialsysteme zu tun. Ani bietet ihren Körper und ihre Aufmerksamkeit an, sprich, sie nutzt das Kommunikationsmedium der Liebe, welches in einer Partnerschaft vorrangig ist. Allerdings handelt es sich schlussendlich um einen Geschäftsvertrag, als sie mit Iwan in Verhandlung tritt. Entsprechend ist die Ware, die Liebe und das Zahlungsmittel das Geld, womit sich hier folglich die Sozialsysteme der Partnerschaft und der Wirtschaft vermischen.
Im Weiteren kommuniziert Iwans Mutter Galina Zakharov mit Ani weder über Geld noch über die Liebe, sondern einzig über das Kommunikationsmedium Recht, das eigentlich der Justiz vorbehalten ist. Die Mutter fordert von Ani, der Annullierung der Ehe zuzustimmen. Auf deren Einwand, dass ihr bei einer Scheidung 50% des Vermögens der Oligarchen-Familie zustehen würde, weist sie Galina darauf hin, dass sie in diesem Falle alle Anwälte auf Ani hetzen würde. Dadurch würde Ani das Bisschen, was sie besitzt, auch noch verlieren: Ihr Haus, ihr Angespartes und auch ihre Familie und Freunde würden alles verlieren.
Machtpositionen
Verfügungsmacht über andere und die Unabhängigkeit von anderen sind das zentrale Thema des Films. Dass Autonomie bedeutet, die Herrschaft über die Kommunikation zu besitzen, geht aus Luhmann hervor. Wer über mehr Kapital im Kommunikationsmedium verfügt, kann entsprechend den Diskurs bestimmen. Jimmy ist nicht bereit, Ani eine Festanstellung mit allen Benefits zu geben, also entscheidet Iwan in der (mittelbaren) Verhandlung, mit wem Ani die Woche verbringt. Er verfügt ganz klar über mehr finanzielles Kapital, sprich er kann das Kommunikationsmedium Geld im Sozialsystem der Wirtschaft besser nutzen.
Ani weiß über den Wert ihres Körpers auf dem Markt Bescheid und kann entsprechend die Verhandlungen mit Iwan mitbestimmen und den Preis nach oben treiben. Paul Schrader schreibt in seiner Rezension auf Letterboxd, dass Anis zu schnelle Akzeptanz der 10.000$, die ihr von Toros angeboten wurden, ihrem Charakter widersprechen würde. Dem ist aus zwei Gründen nicht zuzustimmen:
Erstens zeigt diese Szene hervorragend, wie sich die Dynamik ändert und sich Ani nicht mehr auf gewohntem Terrain befindet. Den Preis mit einem potentiellen Kunden auszuhandeln, um eine Woche für ihn körperlich verfügbar zu sein, ist sie gewohnt. Sie hat kein Problem, finanziell mächtigeren Männern auf Augenhöhe zu begegnen. Die Situation allerdings, dass man ihr Geld bietet, damit sie gerade nicht mehr ihren Körper anbietet, sondern aus der Abmachung zurückzieht, ist Neuland für Ani. Die fehlende Erfahrung macht hier deutlich, dass sie nicht auf derselben Ebene verhandeln kann, wie zuvor. Sie ist hoffnungslos unterlegen.
Zweitens schreibt Schrader, dass ein Abfindungsanwalt ihr locker ein vielfaches des Betrags hätte rausschlagen können. Wenn wir allerdings die Szene mit Galina betrachten, in der sie in einem Atemzug sämtliche rechtliche Drohungen von Ani verpuffen lässt, ist klar, dass kein Anwalt der Welt hier etwas hätte regeln können. Als Mark Zuckerberg in einem Interview meinte, dass Meta sich niemals aussergerichtlich einigen wird, sondern jede Gerichtsverhandlung bis zur endgültigen Urteilsverkündung ausfechtet, ist klar, dass man Milliardären als normalsterblicher Bürger niemals auf Augenhöhe im Gericht begegnen kann. Die Zakharov-Familie verfügt über so viel finanzielle Macht, dass sie sich die rechtliche Macht einfach kaufen können - in Form von dutzenden der besten Anwälte und dem nötigen Kapital, um jede noch so lange Gerichtsverhandlung aussitzen zu können.
Hier sehen wir auch in reinster Klarheit, wo die wahre Macht liegt. Ginge es nur um das Geld, könnte Galina Ani nur Geld anbieten, um die Annullierung der Ehe durchzuziehen. Dann stünde es in letzter Konsequenz Ani immer noch frei, das Angebot anzunehmen oder doch die Ehe mit Iwan weiterzuleben. Da Galina allerdings auch über rechtliche Macht verfügt, kann sie Ani drohen, ihr nicht nur kein Geld zu bezahlen, sondern vielmehr, ihr auch das wenige wieder wegzunehmen, das sie hat. In anderen Worten, Galina verfügt nicht nur über ihr eigenes Kapital, sondern über den Rechtsweg auch über Anis Kapital.
Glück
“Bist du glücklich?” fragt Iwan seine frisch vermählte Ani. “Ja,” antwortet sie. Die Frage nach dem Glück wird hier wenig romantisch verhandelt. Ob Ani Iwan jetzt liebt oder der Heirat nur wegen des Geldes zustimmte und ob es umgekehrt, Iwan nur um die Green-Card ging oder ihm tatsächlich an Ani persönlich etwas liegt, ist irrelevant. Im Endeffekt wird Glück von beiden durch die Unabhängigkeit gefunden - finanzielle Unabhängigkeit und Unabhängigkeit von den Eltern. Das bedeutet allerdings nicht im Umkehrschluss, dass ihre Handlungen dem anderen gegenüber unmoralisch sind. Soweit beide glücklich sind, urteilt der Film nicht über sie. Eine spontane Hochzeit in Las Vegas ist genauso viel wert wie die romantisch überhöhte Vorstellung einer Heirat aus Liebe zum Partner.
Erst als ihre Ehe zu zerbrechen droht, treten die fundamentalen Unterschiede zwischen Iwan und Ani zutage. Iwan bestätigt Ani gegenüber noch einmal , dass er über die letzten zwei Wochen wirklich Spaß hatte. Jetzt sei es eben vorbei. Für Ani hingegen ging es nicht nur um Spaß, sondern fundamental um das Ausbrechen aus dem Prekariat. Wo die elterliche Abhängigkeit für Iwan lediglich bedeutet, dass er jetzt arbeiten muss (wir können uns vorstellen, dass die Arbeit, die der Milliardärssohn in der Firma des Vaters verrichten muss, kaum den Begriff Arbeit verdienen wird), bedeutet es für Ani wieder täglich ihren Körper in Nachtschichten zur Verfügung stellen zu müssen.
Als Nikolai im Standesamt in schallendes Gelächter ausbricht, während seine Ehefrau und Ani sich gegenseitig anschreien, entlarvt sich seine wahre Haltung: Für ihn ist alles nur ein großes Schauspiel. Weder Familienehre noch bürgerliche Werte wie Recht und Ordnung haben in seiner Lebenswelt auch nur den geringsten Stellenwert. Selbst die lästige Reise über den Atlantik kann er akzeptieren – solange ihm das Standesamt eine derart unterhaltsame Bühne bietet.
Igor
Eine der interessantesten Figuren des Films ist der Handlanger Igor. Die Hierarchien sind klar abgesteckt: Galina Zakharov gibt ihre Anweisungen direkt an den Kleriker Toros. Ihr Wort ist allmächtiger als das von Gott selbst. Wenn Toros’ Telefon klingelt, muss er rangehen, auch wenn er zur Not die Taufe des Neugeborenen hierfür unterbrechen muss. Toros’ Mann vor Ort wiederum ist der Armenier Garnick. Er ist dafür zuständig, dass die Befehle von der Chefin schnell und effizient umgesetzt werden. Ganz unten in der Nahrungskette steht Igor, der Mann fürs Grobe. Die Fragen, "warum", "wie" und “weshalb” stellen sich Igor nicht, so gehen seine Befehle selten über simple Kommandos hinaus. Mehr als “halt sie fest” oder “verletz ihn nicht” muss Igor nicht wissen.
Später erfahren wir, dass Igor allerdings in einer ähnlichen Situation wie Ani steckt. Als Galina ihm verheißungsvoll zuzwinkert, wenn sie Ani mit den Anwälten droht, wird klar, dass ihr Zugriff auf Igor genauso begründet und damit umfassend ist. Das Auto und das Haus seiner Großmutter stehen zu jeder Zeit auf dem Spiel und damit ist Igors Abhängigkeit von fundamental anderer Art, als die von Toros oder Garnick. Beide biedern sich im Flugzeug bei den Zakharovs an, in der Hoffnung, einen Teil vom Kuchen abzubekommen. Selbstverständlich werden auch sie niemals einen Platz an der Sonne ergattern können, aber das ist ihnen nicht bewusst. Igor muss sich diese Blöße nicht geben, er weiß genau, dass er im besten Falle auf Galinas Ignoranz hoffen kann.
Durch die Parallelität der Lage von Ani und Igor, versucht Igor immer mehr, Ani emotional beizustehen. Er bietet ihr einen Schal gegen die Kälte an oder versucht auf persönlicher Ebene eine Verbindung aufzubauen. Ani nimmt Igor zu Anfang als Antagonist war, hat er sie doch auf der Couch gefesselt. So unterstellt sie ihm, den Schal nur mitgenommen zu haben, um sie abermals zu fesseln und dass er sie vergewaltigt hätte, hätte er die Chance dazu bekommen. Auch bei der Namensfrage, nimmt Ani den gegensätzlichen Pol zu Igor ein: Er mag seinen und ihren Namen, sie findet beide peinlich und will selbst nicht bei ihrem richtigen Namen Anora genannt werden.
Erst, wenn Igor ihr am Ende den Ehering überreicht, den er für sie gestohlen hat, erkennt Ani seine Gutmütigkeit an. Mehr noch, erkennt sie, dass beide im Grunde die gleiche Rolle spielen. In einer Welt, die von den Zakharovs beherrscht wird, können sich Menschen wie Ani und Igor nur gegenseitig beistehen, Hilfe von Oben wird nicht kommen. Als Ani ihm in der finalen Szene danken will, und zwar auf die einzige Art, wie sie sich zu bedanken weiß - mit Sex - versucht Igor sie zu küssen. Plötzlich ist Sex keine Währung mehr und es geht nicht mehr nur um einen Tauschhandel. Durch die genuine Zärtlichkeit wird aus Ani wieder Anora.
Fazit
Mit Anora ist Sean Baker ein großartiger Film geglückt, der die Zwänge und Freiheiten am oberen und unteren Rand der Gesellschaft beleuchtet. Wir sehen, dass wir mit moralistischen Fragen, was vor allem die Sexarbeit betrifft, nicht weiterkommen können, so lange es Einzelpersonen gibt, die mit ihrer finanziellen Macht nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Recht, die Politik und die romantische Partnerschaft beherrschen. Entgegen den Parallelen zu Pretty Woman haben wir es hier nicht mit einer Cinderella Story zu tun, wo man einfach nur mit genug Liebe jeden Kapitalisten moralisch bekehren kann.