Das Blatt wenden
Vorab-Info: Der Text ist vom Februar 2023.
Was heißt ‚Wirklichkeit‘? In einem Aufsatz, „Reality and Realization“, vielleicht „Wirklichkeit und Verstehen“ zu Deutsch oder, wenn man ganz nah beim Englischen bleiben will, „Realität und Realisierung“, einem Aufsatz über buddhistische Philosophie, schreibt die Queer-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick über die verschiedenen Ebenen des Verstehens, über das Missverhältnis zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir begreifen können, könnte man vielleicht sagen (so wissen wir zum Beispiel alle, dass wir irgendwann sterben werden, aber können wir unseren Tod auch begreifen?). Das Missverhältnis zwischen Wissen und Begreifen, zwischen einer Info und dem Verstehen, was eine Info bedeutet, ist jedes Mal präsent, wenn man in einer Zeitung, einer Zeitschrift, auf einer Nachrichtenseite eines E-Mail-Postfachs einen Satz über Tote im Ukraine-Krieg liest. „Sie können gerne noch sechs Monate lang so reden, aber bei uns sterben Menschen, jeden Tag“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit dem ARD-Korrespondenten Vassili Golod im Januar vor der Ramstein-Konferenz, als noch nicht klar war, ob Deutschland Panzer liefern würde. Die Zahl der Toten verrät nichts über die Leben derer, die gestorben sind.
Gerade eben nannte ich als Beispiel für das Missverhältnis zwischen Wissen und Begreifen, dass wir alle wissen, dass wir irgendwann sterben werden, ohne es zu begreifen. Im selben Interview sprach Selenskyj über die ukrainischen Soldat*innen, die wissen, dass sie im Krieg sterben können. Nicht für alle ist die Möglichkeit und Eventualität des eigenen Todes in die ferne Zukunft von „irgendwann“ gerückt. Selenskyj sagte, dass „sie sogar wissen, dass sie sterben werden. Das ist eine andere Sache, zu glauben, dass sie es nur könnten. Aber sie wissen, dass sie sterben werden. Und das ist eine ganz andere Sache.“ Ein weiterer Aspekt des Unterschieds zwischen Wissen und Verstehen/Begreifen lässt sich in die Worte des Liedtitels „Til It Happens to You“ [„Bis es dir geschieht“] der Popsängerin Lady Gaga fassen, ein Song, der ursprünglich für einen Dokumentarfilm über sexuelle Gewalt auf Campus in den USA geschrieben wurde, aber mit dem sich Personen mit jeder Art von Verlust, so die Songwriterin Diane Warren, identifizieren können. Bis es dir geschieht, weißt du nicht, wie es sich anfühlt. Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen im Krieg zu verlieren? Das Problem ist, dass man sich immer nur für einen Moment in eine Erfahrung, die von Dauer ist, hineinversetzen kann. Wenn ich eine emotionale Reaktion auf einen Artikel über ein schlimmes Schicksal, den ich gelesen habe, habe, kann meine emotionale Reaktion, auch wenn sie vielleicht einen Eindruck bei mir hinterlässt, dennoch schnell abklingen und ich mich der nächsten Erfahrung in meinem Leben (eine Kochsession, eine Verabredung mit einem Freund, …) widmen. Wenn ich einen Menschen, dessen Leben mit meinem verflochten war, verliere, wache ich auch am nächsten Morgen mit dem Verlust auf und am Morgen drauf usw., kann keine Abkürzung nehmen, habe eine Begleitung, tue immer wieder das Gleiche, ehre die verstorbene Person auf meine Art und Weise, bis aus der Trauer vielleicht eine Blume wächst. Das alles ist an den Augenblick, in dem der Soldat*die Soldatin im Kampf gefallen ist und der Partner, die Freundin, die Mutter, das Kind, … (natürlich ist die Liste unvollständig) davon erfährt, rückgebunden. Gleichermaßen sind Traumata Produkte von Gewalterfahrungen, die ein Ende haben, deren Folgen aber noch lange nachwirken. „Du erzählst mir, es wird besser? Es wird besser mit der Zeit. Du sagst, ich soll mich zusammenreißen. Es wird schon alles gut werden.“ (Übersetztes Zitat aus „Til’ It Happens to You“) Die Personen, die Opfer von Kriegsverbrechen, von deren Entdeckung nach der Befreiung von besetzten Gebieten wie Butscha, Cherson oder Isjum berichtet wurde, durch russische Soldat*innen wurden und überlebt haben, müssen, auch nachdem die mediale Aufmerksamkeit nicht mehr da ist, weiter mit den Spuren von Vergewaltigung und Folter, die „in ihnen drin“ sind (so drückte sich einmal die Außenministerin Annalena Baerbock bezüglich der Frauen von Srebrenica, die Opfer von Vergewaltigung in einem anderen Krieg wurden, mit denen sie gesprochen hatte, aus), leben. Die Dauer, in der Teile der Ukraine weiter von Russland besetzt sind, besteht also auch aus den Zeiten, die in die Gewalttaten, die in dem Kontext stattfinden, eingefaltet sind.
Die Aussage des ukrainischen Präsidenten, wonach Deutschland noch sechs Monate reden könnte, während in der Ukraine tagtäglich Menschen sterben, beleuchtet die Tatsache, dass ein Handeln (z.B. Panzerlieferungen) bzw. dessen Ausbleiben (in diesem Fall: Reden) stets in Bezug zu einer Situation stehen. Als an einem Dienstagabend, vier Tage nach der Ramstein-Konferenz, Nachrichten in den Medien waren, dass sich die Bundesregierung dafür entschieden habe, anderen Ländern die Lieferung von Leopard-Panzern aus deutscher Fertigung zu genehmigen und selbst Leopard-Panzer aus den Beständen der Bundeswehr zu liefern, konnte man sich die Frage stellen, warum jetzt der Moment für Kampfpanzerlieferungen („Free the Leopard“, hieß es auf Twitter) gekommen war und nicht früher, ob sich die Situation in der Ukraine irgendwie geändert hatte. Jürgen Hardt, Abgeordneter der CDU, stellte die Frage in einer Bundestagssitzung am darauffolgenden Tag dem Bundeskanzler, wie folgt:
“Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen, dass wir mit unserer Unterstützung der Ukraine keine Provokation gegenüber Russland erzeugen wollen, um den Konflikt Russland/NATO nicht herbeizubeschwören. Was ist eigentlich an der Lieferung von Kampfpanzern im Mai mehr Provokation als an der Lieferung von Panzerhaubitzen [die im Mai 2022 zugesagt und im Juni 2022 geliefert wurden], und was ist jetzt, im Januar des Jahres 2023, anders, dass es jetzt keine Provokation darstellt – in Anführungsstrichen –, als die Sie das ja angesehen haben, als wenn diese Entscheidung vielleicht im letzten Jahr gemeinsam mit Partnern getroffen worden wäre?”
Der Bundeskanzler antwortete, dass er das Wort ‚Provokation‘ nicht in den Mund genommen habe und dass es, wenn es eine Provokation gebe, die der russischen Regierung mit ihrem imperialistischen Angriffskrieg sei, und sagte dann: „Wenn irgendjemand hier hingeht und wirklich glaubt, dass es nicht richtig wäre, dass man hier Stück für Stück vorgehen muss, dass man herausfinden muss, was geht, […] dass man den ersten Schritt und den zweiten Schritt und den dritten Schritt zur richtigen Zeit tut, dann wäre das nicht gut für Frieden und Sicherheit in Europa.“ (Ich habe den Teil der Antwort, in dem der Bundeskanzler meinte, „dass man eng miteinander abgestimmt handel[n]“ müsse, ausgelassen, weil der Abgeordnete Hardt ja konkret danach fragte, ob die Entscheidung für Kampfpanzerlieferungen nicht auch schon im letzten Jahr „gemeinsam mit Partnern“, oder in enger Abstimmung mit Partnern, hätte getroffen werden können.)
Auf was stützte der Bundeskanzler seine Behauptung, dass es „nicht gut für Frieden und Sicherheit in Europa“ wäre, wenn man hier nicht „Stück für Stück“ oder Schritt für Schritt vorgeht, bzw. dass es richtig ist, wenn man dies tut? Laut einer Analyse des Instituts für Kriegsstudien [Institute for the Study of War] in den USA waren vor allem Verzögerungen in der Bereitstellung von Langstreckengeschossen, Luftabwehrsystemen und Panzern durch westliche Verbündete dafür verantwortlich, dass das ukrainische Militär nach den erfolgreichen Befreiungskampagnen in Charkiw und Cherson nicht in der Lage war, weitere Gegenoffensiven zu initiieren, um mehr Gebiete zu befreien und damit den Krieg zu verkürzen. Die Verfasser*innen des Berichts teilen den bisherigen Kriegsverlauf in drei Phasen ein (erste Phase: russische Initiative und Offensive von Kriegsbeginn bis Anfang Juli; zweite Phase: ukrainische Initiative und Gegenoffensiven von August bis zur Befreiung des westlichen Teils des Oblasts Cherson am 11. November; dritte Phase: Stellungskrieg seitdem, teilweise Initiative von russischer Seite) und weisen daraufhin, dass sich bereits Ende Mai und im Juni letzten Jahres abgezeichnet habe, dass die russische Offensive bald gipfeln und zu einem Ende kommen würde. Im selben Zeitraum wurde bekannt, dass die Waffenbestände aus Sowjetzeiten von der Ukraine knapp wurden, und es seien die ersten klaren Anzeichen aufgetreten, dass die Ukraine Panzer brauchen würde, um sich zu verteidigen. Zusammen genommen hätten diese Entwicklungen und Erkenntnisse ein Umdenken in der Art der militärischen Unterstützung der Ukraine und eine Reihe von Entscheidungen, inklusive zur Umstellung des ukrainischen Miltärs auf westliche Waffensysteme und Vorbereitung von Panzerlieferungen, beim Westen hervorrufen sollen. Man braucht eine Strategie. Wenn westliche Verbündete im Juni mit den Vorbereitungen für Panzerlieferungen begonnen hätten, hätten die ukrainischen Streitkräfte diese ab November oder Dezember, so die Berechnung des ISW (ich vermute, das ISW geht bei der Berechnung eher von US-amerikanischen Lieferwegen aus), also in der Zeit, als die ukrainische Gegenoffensive in der Realität endete, einsetzen können. Tatsächlich erfolgte die Zusage für die Lieferung von Schützenpanzern an die Ukraine durch Deutschland und die USA Anfang Januar 2023, die Zusage für die Lieferung von Kampfpanzern gegen Ende Januar 2023. Das Zeitgefühl zwischen diesen beiden Entscheidungen muss im Hinblick auf die Tatsache, dass bereits mehr als ein halbes Jahr seit den ersten klaren Anzeichen von der Notwendigkeit von (Kampf- und Schützen-)Panzerlieferungen vergangen war, als sich die Bundesregierung für sie entschied, verstanden werden. Diese Verspätung kostete die Ukraine wahrscheinlich die Chance für eine Gegenoffensive in diesem Winter (das ISW schloss in dem Bericht vom 29. Januar, auf den ich mich beziehe, nicht aus, dass eine ukrainische Gegenoffensive noch in diesem Winter stattfinden könnte, aber mit der Zeit sinkt natürlich die Wahrscheinlichkeit). Außerdem konnte die russische Armee die Zeit nutzen, um seine Linien zu stabilisieren, Verteidigungspositionen zu etablieren, Soldat*innen und Ausrüstung zu mobilisieren, mit der Rationalisierung der eigenen Kräfte zu beginnen, und so die Kosten für die nächste Gegenoffensive der Ukraine beträchtlich anzuheben. Im Novermber-Dezember wäre das russische Militär daher deutlich anfälliger für eine ukrainische Gegenoffensive gewesen als jetzt. Das ISW warnt vor dem Fehlschluss, dass zukünftige ukrainische Gegenoffensiven deswegen unmöglich seien – es ist weiter optimistisch hinsichtlich der Kapazität der Ukraine, mit der gegenwärtigen und versprochenen westlichen Unterstützung kritisches Terrain zu befreien, und gibt an, dass laufende und geplante russische Offensiven höchstwahrscheinlich ohne entscheidende Gewinne zu Ende gehen und womöglich sogar günstige Bedingungen für eine ukrainische Gegenoffensive schaffen werden –, „aber der Westen muss verstehen, welchen Beitrag diese Verspätungen [in der Unterstützung] dazu geleistet haben, die Fähigkeit der Ukraine einzuschränken, mehr seiner Gebiete schneller zu befreien.“
Manche sorgen sich vor einem Krieg zwischen der NATO und Russland, aber es muss klar sein, dass die besten Chancen für die Abwendung eines solchen Kriegs darin bestehen, die Ukraine zu verteidigen. Bei der Bundestagssitzung, in der der Bundeskanzler auf Fragen der Abgeordneten antwortete, sagte der fraktionslose Abgeordnete Robert Farle: „Ich habe immer hinter Ihnen gestanden, wenn Sie Sachen hinauszögern, die nicht unbedingt notwendig sind.“ Der Bundeskanzler wurde auch zum „Flurschaden“, der bei den Beziehungen mit Verbündeten und Partnern durch das Zögern der Bundesregierung in der Panzerfrage entstanden sei, befragt. Diesen habe es nicht gegeben. Ich weiß nicht, warum der Bundeskanzler diese Stimmen nicht zulässt. ‚Du liegst in einer Badewanne. Das Wasser ist warm. Du schließt deine Augen. Alles fühlt sich richtig an und es gibt, in diesem Moment, keine Widersprüche, keine Ecken und Kanten.‘ So beschreibt Selenskyj das Gefühl, von russischer Propaganda beschallt zu werden, aber irgendwie assoziiere ich auch das Wort ‚Zusammenhalt‘ jetzt damit. „Er sprach über das Fernsehen“, erklärt der Historiker Timothy Snyder, der die Analogie wiedergibt (und dessen Worte ich lose zitiere - https://www.youtube.com/watch?v=00F1VhggSvc (Si apre in una nuova finestra) (41:06)). Pluralismus beinhaltet dagegen auch Streit. Vom YouTube-Algorithmus wird mir ein Video vom Guardian vorgeschlagen: „Augenblick, in dem Selenskyj erfährt, dass Deutschland Panzerlieferungen zugesagt hat“ der Titel. In dem Video sagt Selenskyj: „Jetzt gerade? […] Mein Sprecher hat mir gerade gesagt, dass Scholz, Kanzler Scholz, zugestimmt hat, uns Leopard-Panzer zu geben. Ich habe ein Telefonat mit ihm nach diesem Interview. Ich bin sehr glücklich.“ Er sagt das Wort „Kanzler“, soweit ich raushöre, auf Deutsch. Eine militärische Stärkung der Ukraine bedeute aber nicht, dass Deutschland unbegrenzt ukrainischen Lieferwünschen nachkommen könne, so die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Kampfjetlieferungen aus verschiedenen Gründen ablehnt. Meine Kritik am Kanzler: dass er manchmal Dissens vom Tisch fegt und dass man sich so viel Gedanken um ihn machen muss. Am besten gefällt mir, wenn er sich zeigt. Auch wenn Deutschland Deutschland ist, Finnland Finnland, Spanien Spanien, Polen Polen, usw., ist die Ukraine zum Kontaktpunkt europäischer Zukunft geworden.
Seit ein paar Wochen ist mir der Slogan „Das Blatt wenden“ im Kopf, nachdem ich die Formulierung in einem Artikel las. Eigentlich ist er anachronistisch, wenn man sich erinnert, dass die Ukraine schon im letzten Jahr Gegenoffensiven durchführte, aber ich denke, dass er für die übergreifende Phase des Kriegs, die notwendigerweise erfolgen muss, damit die Ukraine ihn gewinnt, stehen kann. Ich erinnere mich an eine Soli-Demo, die von einer ukrainischen Gruppe mit dem Namen „Vitsche“ vor dem Bundeskanzleramt am Tag der Invasion organisiert wurde. Es gab ein kleines Zelt mit Lautsprechern, wo Slogans gerufen wurden, um Sprechchöre anzuleiten, Nachrichten durchgesagt wurden, und Leute sprechen durften. Mir sind vor allem zwei Reden im Kopf geblieben (deren Inhalt ich im Folgenden aus meiner Erinnerung wiedergebe). Eine war von einer jungen Frau aus der Ukraine, ich glaube eine Studentin, die sagte, dass der Ukraine-Krieg nicht erst heute begonnen habe, sondern schon acht Jahre anhalte. Sie erzählte, dass sie das ihren Freund*innen gesagt habe, die ihr nicht glaubten. „Müssen erst Bomben fallen, bis ihr mir es glaubt?“ fragte sie sie. Jetzt, wo die Bomben fallen, wisse sie nicht, wie sie weiter mit ihren Freund*innen sprechen soll. Die Rede unterstreicht, denke ich, die Instabilität der Definition davon, (ab) wann man sich in einem Krieg befindet. Der zweite Redebeitrag war von einem deutschen Mann, der eine ukrainische Frau (die mit im Publikum stand und zuhörte) geheiratet hatte und mit ihr und ihrer Familie, die in der Ukraine lebt, auch ein Land lieben gelernt hatte. Er sagte, dass Putins Angriffskrieg die dreisteste, brutalste, verlogenste Kriegsanzettelung seit dem Zweiten Weltkrieg sei. Zum Schluss seiner Rede sprach er davon, was jetzt passieren sollte. Er forderte Unterstützung für die Ukraine und rang sich dazu durch, auch Waffen zu fordern. Am ersten Kriegstag (die Studentin würde widersprechen) war die Kluft zwischen Gewohnheit und Notwendigkeit für viele Deutsche wahrscheinlich am größten. Ungefähr elf Monate danach stoße ich auf einen Twitter-Thread, in dem der Schriftsteller Oleksandr Mykhed den im Donbas getöteten ukrainischen Soldaten Viktor Onysko ehrt. Mykhed postet ein Foto von Onysko mit seiner Frau Olga (bei einem Besuch, nehme ich an) in Mykheds Haus in Hostomel vom Sommer 2020 (das Haus wurde im übernächsten Frühling von einer russischen Bombe zerstört). Sowohl Onysko als auch seine Frau sind auf dem Bild barfuß, sitzen auf einer korbähnlichen Bank und haben ihre Beine übereinandergeschlagen. Onysko hält sein Handy in seinen Händen, hat vielleicht gerade etwas gesagt; Olga kratzt sich gerade an der Stirn und blickt zu ihrem Mann herüber. Das Leid ist unvorstellbar. Onysko schloss sich nach dem Beginn der russischen Großinvasion im Februar den ukrainischen Streitkräften an; ich weiß noch, wie die Aufnahmen vom Truppenaufmarsch des russischen Militärs an der ukrainischen Grenze den ganzen Garten, den ich aus der großen Fensterfront von meinem Zimmer sah, mit Krieg überzogen. Fast ein Jahr später wohne ich in einer anderen Wohnung, schreibe eine frühere Fassung dieses Artikels, mache eine Pause und gehe raus in den nahegelegenen Park, wo Leute auf den Wegen spazieren. Die Freiheit, in der die Leute und ich wandeln, ist den kämpfenden Ukrainer*innen zu verdanken. Das Opfer Onyskos ist in dieser Freiheit, in diesem Park. Ich entdecke ein paar Wochen später ein Requiem, das Mykhed für Onysko geschrieben hat. In dem Requiem sind auch Zitate aus Onyskos Korrespondenz mit Olga. Er schreibt ihr nach einer „furchtbaren Nacht“. Wenn ich zitieren darf: „Ich war ja in der Nacht selbst völlig am Ende, und da sind doch diese Typen [seine Kameraden] tatsächlich schon aufgestanden, machen ihre Witze, fluchen und suchen sich was zu essen. Da sind mir zum ersten Mal die Tränen gekommen. Meine Fresse, die sind vielleicht krass drauf. Wir werden gewinnen, Olja. Garantiert.“
In einem Artikel vom Dezember schreibt die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum über die „brutale Parallelwelt, in der die USA die Ukraine allein gelassen hat“ und unterstreicht dabei, wie wichtig die humanitäre und militärische Unterstützung durch Europa und die USA für die Ukraine – und primär natürlich der Kampfgeist der Ukraine selbst – gewesen sind, um eine Vielzahl von Leid und Schrecken abzuwenden. Solche Vorstellungen von alternativen Realitäten, von Parallelwelten, von „was gewesen wäre, wenn …“ entstehen vor allem dann, wenn viel auf dem Spiel steht, und sie haben immer einen politischen Kontext. Applebaum richtet ihren Artikel – das legen zumindest der Publikationsort (die US-amerikanische Zeitschrift The Atlantic) und die Überschrift des Artikels nahe – in erster Linie an eine US-amerikanische Leser*innenschaft und der Artikel soll durch die Anerkennung, wie viel schlimmer die Realität ausgesehen hätte, wenn westliche Verbündete der Ukraine nicht beigestanden wären, bzw. wie viel Gutes dieser Beistand geleistet hat, sicherlich auch die elementare Wichtigkeit von der Fortsetzung bzw. der Intensivierung dieser Unterstützung für die Ukraine aufzeigen. Andere Fantasien haben dieselbe Stoßrichtung, verfahren aber auf umgekehrte Weise, indem sie zum Beispiel schildern, wie viel mehr Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn man besser oder schneller gehandelt hätte. So sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter über die „sehr, sehr spät[e]“ Entscheidung der Bundesregierung zur Lieferung der Marder-Panzer: „Wenn diese Panzer früher geliefert worden wären, dann wären weniger ukrainische Soldaten gestorben, das muss man ganz klar sagen, […] und es hätte die Ukraine früher in die Möglichkeit versetzt, mehr besetzte Gebiete zu befreien und damit die Zivilbevölkerung schneller vom russischen Terror zu befreien.“ Beide, sowohl die Anerkennung dessen, was erfolgt ist und Leben gerettet hat, als auch die nüchterne Betrachtung, wo Hilfe zu spät kam oder zu gering ausfiel, sind wichtig, um die richtigen Weichen für zukünftige Entscheidungen zu legen. Aber es ist auch wichtig, sich eine Zukunft vorzustellen, nach der Sehnsucht besteht, die Zukunft, für die die ukrainischen Soldat*innen auf dem Schlachtfeld kämpfen, wohlwissend, dass sie bei dem Kampf sterben können (oder werden, eingedenk Selenskyjs). Um sich diese Zukunft vorzustellen, kann man bei den Momenten, die bereits stattgefunden haben und an ihr teilhaben, anfangen, bei den Küssen und Umarmungen, die nach den Befreiungen von besetzten Gebieten stattgefunden haben, die gefühlt worden sind (der Kuss auf die Backe eines jungen Soldaten von einem älteren Ukrainer nach der Befreiung von Cherson; eine Großmutter, die von Umherstehenden gehalten werden muss, als sie ihren Enkel in Uniform wiedersieht), und sich die Freudenmomente und die Erleichterung bei der Befreiung weiterer besetzte Gebiete sowie die Feier zum Schluss vorstellen. Ich habe ambivalente Gefühle zu meinem Land, das einerseits alte Illusionen abgeschüttelt und schwere Fehler eingestanden hat, das andererseits in entscheidenden Momenten bis jetzt nicht genügend Führung gezeigt hat; ich träume von einem zukünftigen Deutschland, das sich selbstbewusst gebart und an der Geschichte beteiligt, das Verantwortung in der Welt übernimmt und sich überlegt, wie es die Macht, die es hat, nutzen kann, um Gerechtigkeit zu dienen, und das auch seine eigenen Leute dadurch besser schützen kann, aber ich fühle auch, dass es jetzt wichtiger als sonst je ist, dass es das tut. Ich will weiter machen mit der Vorstellung eines ukrainischen Siegs. Ich denke an eine EU mit neuen Mitgliedsstaaten, eine gestärkte demokratische Gemeinschaft und die Fähigkeit, sich auf andere Konflikte zu konzentrieren. Man sollte nicht über die Signalwirkung des ukrainischen Seigs für andere bedrohte Staaten wie Taiwan (und die Aggressoren, von denen die Bedrohung ausgeht) hinwegsehen oder die Hoffnung, die dieser Sieg für Menschen, die in autokratischen Regimen leben, bedeutet, außer Acht lassen. Weiter geht es bei der iranischen Revolution, bei den gesteigerten Chancen der rebellierenden Frauen, ihre Unterdrücker zu Fall zu bringen und sich ein Leben in Würde und Freiheit zu erkämpfen, wenn ein von seiner Niederlage geschwächtes Russland keine nennenswerten Ressourcen hat, um das iranische Regime durch Bankgeschäfte oder andere Kooperationen in der Unterdrückung seiner Bevölkerung zu unterstützen, und internationaler Druck, wenn es ihn gibt, seine Wirkung entfalten kann. Man kann auch über eine Zukunft für ein nicht-brutales Russland nachdenken. Die russisch-US-amerikanische Dissidentin und Journalistin Masha Gessen glaubt nicht, dass Russland den Tod Putins überleben kann, und wünscht sich ein totales Auseinanderbrechen des Reichs, einen Staat von Moskau, einen Staat von Sankt Petersburg, usw. Nichts davon steht jetzt schon fest, aber es ist in jedem Fall klar, dass eine russische Niederlage im Ukraine-Krieg, eine Absage an imperialistische Manie, die besten Chancen bietet, dass demokratische Stimmen das unvermeidliche politische Vakuum, das nach Putins Verschwinden entstehen wird, füllen können. Zuletzt muss wiederholt werden, dass die Wunden der Ukrainer*innen im Vordergrund stehen müssen, dass die Verbrecher des Kriegs zur Verantwortung gezogen werden müssen, dass die Wut und die Trauer Ausdruck finden müssen, dass die Ukrainer*innen zu einem Alltag zurückkehren können müssen und ihre Leben leben, dass die Toten geehrt werden müssen, aber ich wollte mit dem Gedankenspiel deutlich machen, was alles mit dem Schicksal der Ukraine zusammenhängt. Also: Slava Ukraini!