Weltloser Frieden
Vorab-Info: Der Text ist vom Mai 2023.
Seit der Ukraine-Krieg angefangen hat, habe ich ein paar wenige Male die Reise-Funktion auf ROMEO, einem Online-Portal für schwules, bi und transgender Dating, genutzt, um mir – voyeuristisch, wie ich jetzt erkenne – Profile in Kiew anzuschauen. Im Raster der Plattform werden Nutzer* nach dem Standort ihrer Geräte geordnet und angezeigt (zumindest in der ‚Entfernung‘-Suche), weswegen ein Konsortium von Profilen auch ein geographisches Areal repräsentiert. Ich wollte wissen, inwiefern sich der Krieg in den Profilen niederschlug. Mir ist der Hashtag „ukraineisdying“ im Profiltext eines Nutzers in Erinnerung geblieben, weil er bei mir den Gedanken auslöste, dass Geschichten von ukrainischem Widerstand und ukrainischer Stärke uns nicht vergessen machen sollten, dass die Ukrainer*innen keine übermenschlichen Wesen sind, die endlosen Terror, z.B. in Form der wiederholten russischen Angriffswellen auf zivile Infrastruktur, verkraften können müssen sollten. Der Wille des ukrainischen Volkes, sich seinem Angreifer entgegenzustellen, sich zu wehren, muss deshalb unbedingte Unterstützung erfahren.
Warum? Ich erinnere mich an ein Video, das von tschetschenischen Kämpfern in einem zerstörten Mariupol aufgenommen wurde, in dem die Einheit vor rauchenden Ruinen posiert und ihr Anführer verkündet, dass Putins Auftrag zur Zerstörung und Säuberung Mariupols erfüllt sei. Ich dachte, dass es sich bei dem Anführer in dem Video um Ramsan Kadyrow, den Präsidenten Tschetscheniens, einer russischen Teilrepublik, handelte, aber es war offenbar sein Cousin, der sprach. Als ich das Video sah, hatte ich eine gedankliche Verknüpfung mit einem Bericht der Journalist*in Masha Gessen von 2017 über eine gegen homosexuelle Männer gerichtete Säuberungsaktion, die damals in Tschetschenien stattfand, bei der die Opfer festgenommen und gefoltert wurden, u.a. um die Identitäten anderer homosexueller Kontakte preiszugeben (Gessen führte Interviews mit Männern, die vor der Säuberung geflohen waren). Wenn Personen Verhandlungen im Ukraine-Krieg fordern, womit, nehme ich an, oft gemeint ist, dass die Ukraine Gebiete abgeben soll, oder wenn Leute nicht verstehen, warum die Ukrainer*innen kämpfen, möchte ich dieses Tableau als Erklärung anführen, von Kadyrow-Kämpfern in Mariupol, von rauchenden Ruinen und den gefolterten Leibern der tschetschenischen homosexuellen Männer, die in Friedenszeiten einer Säuberung zum Opfer gefallen waren.
Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann sprach während des Zweiten Weltkriegs in einer Reihe von Radiosendungen aus dem Exil an Deutsche Hörer. In einer Sendung vom Jahr 1941, die der Historiker Timothy Snyder mit den Worten „leider noch sehr aktuell“ in ein paar Beiträgen auf Twitter zitierte, sagte Mann Folgendes bezüglich der Themen ‚Kriegsverlängerung‘ und ‚Frieden‘: „Den Widerstand Englands, den Beistand, den Amerika ihm leiht, brandmarken eure Führer als ‚Kriegsverlängerung‘. Sie verlangen ‚Frieden‘. Sie, die vom Blute des eigenen Volkes und anderer Völker triefen, wagen es, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Friede – damit meinen sie: Unterwerfung, die Legalisierung ihrer Verbrechen, die Hinnahme des menschlich Unerträglichen. Aber das ist nicht möglich. Mit einem Hitler gibt es keinen Frieden, weil er des Friedens von Grund aus unfähig, und weil dieses Wort in seinem Munde nur eine schmutzige, krankhafte Lüge ist – wie noch jedes Wort es war, das er je gab und sprach.“ Heute werden wieder Forderungen nach Frieden laut, die „Unterwerfung, [der] Legalisierung [von] Verbrechen [und der] Hinnahme des menschlich Unerträglichen“ gleichkommen. Wie ist diesen Forderungen zu begegnen?
Das „Manifest für Frieden“, das von der Publizistin Alice Schwarzer und der Politikerin Sarah Wagenknecht verfasst und als Petition veröffentlicht wurde und zum Zeitpunkt des gegenwärtigen Schreibens 786.372 Unterschriften auf der Webseite www.change.org zählt (während ich den Tab geöffnet habe, wird angezeigt, wer in den letzten Stunden noch unterschrieben hat), beginnt mit einer Zusammenfassung des 352. Kriegstags in der Ukraine. Schwarzer und Wagenknecht schreiben: „Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.“ Bis auf den dritten Satz („Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land.“), in dem bereits einige Dinge unklar sind, diese Unklarheiten jedoch bestimmte Annahmen und Schlüsse vorschreiben (Was bedeutet ein ‚weiter so‘ der Kämpfe? Wenn das ukrainische Militär über genügend Waffen verfügt, um erfolgreiche Befreiungskampagnen von russisch besetzten Gebieten durchzuführen, wie es bei den Befreiungskampagnen von Cherson und Charkiw der Fall war, würde ein ‚weiter so‘ der Kämpfe doch das Zurückschlagen der Angreifer und den Sieg der Ukraine bedeuten… Wann müsste von einer entvölkerten und zerstörten Ukraine die Rede sein?) – ausgenommen dieses Satzes würde ich den ersten Absatz unterschreiben. Der Rest des Manifests setzt sich aus einer Reihe von rhetorischen Fragen („Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges?“), aus Prophezeiungen („Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt.“), aus Thesen („Aber sie [die Ukraine] kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“) und aus der Performance von Affekten und Gefühlen/Gesten („Im Ernst?“, „Es ist Zeit, uns zuzuhören!“) zusammen, die kritisch reflektiert werden sollten. Die zwei Aspekte, die ich herausheben will, beziehen sich jedoch auf die Entmündigung des ukrainischen Volkes, die Schwarzer und Wagenknecht vollziehen, indem sie die Forderung nach Waffen in ihrem Text ausschließlich mit dem ukrainischen Präsidenten in Verbindung bringen, und auf die Weltlosigkeit von Schwarzers und Wagenknechts Forderungen.
Schwarzer und Wagenknecht schreiben: „Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“ Die Projektion, die hier stattfindet, vom ukrainischen Präsidenten als Kriegsherrn, der Russland „auf ganzer Linie [besiegen will]“ – beachtlich ist auch hier, dass zuerst festgehalten wird, dass ‚Präsident Selenskyj‘ kein Geheimnis aus seinem Ziel mache, dieses Ziel zu Ende des nächsten Satzes dann aber nur als Unterstellung in Form einer suggestiven Frage geäußert wird (und was heißt hier ‚auf ganzer Linie‘?) –, erlaubt Schwarzer und Wagenknecht an anderer Stelle noch von der „von Russland brutal überfallene[n] ukrainische[n] Bevölkerung“, die „unsere Solidarität [braucht]“, zu sprechen, ohne dass daraus ein ethischer Anspruch auf Wehrfähigkeit entstünde, dem Schwarzer und Wagenknecht begegnen müssten. Für sie muss die Art, wie sie die Situation darlegen und interpretieren, bequem sein. Meine Reaktion auf die Forderung nach Verhandlungen, die Schwarzer und Wagenknecht verlautbaren, bestünde wie die vieler anderer in einem Protest, dass sie komplett von der Realität, dass Putin keine legitimen Interessen hat, über die verhandelt werden könnte, losgelöst ist, aber dieser Widerspruch steht bereits im Text. Schwarzer und Wagenknecht sprechen von der Vergewaltigung von Frauen, von der Verängstigung von Kindern, von der Traumatisierung eines ganzen Volkes, eines, das brutal überfallen wurde, so wie ich sie zuvor wiedergegeben habe, und sie sprechen davon, dass beide Seiten Kompromisse machen müssen („Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten.“). Das Versprechen, dass die Ukraine in Frieden leben könnte, wenn sie ein Kompromiss mit ihrem Angreifer einginge, wäre entschuldbar, wenn es sich dabei einfach nur um eine Fehleinschätzung handelte. Das Übel, das Schwarzer und Wagenknecht jedem einzelnen Ukrainer und jeder einzelnen Ukrainerin mit ihrem Manifest widerfahren lassen, besteht jedoch darin, dass sie sich nicht auf die Ebene der Optionen, die die Ukrainer*innen haben, begeben, dass sie deren Freiheit nicht achten und deren Entscheidung zu kämpfen nicht respektieren, und dass sie sie dazu verdammen würden, in den dunklen Stellen der Inkohärenz ihres Weltbilds zu existieren.
„Warum sind Sie heute hier?“ fragt eine Spiegel-Reporterin einen Mann, der als Reichsbürger bei der ‚Friedens’demo, zu der Schwarzer und Wagenknecht zum 25.02.2023 (ein Jahr und ein Tag nach Invasionsbeginn) aufgerufen hatten, mit einem Schild („Deutschland ist derzeit handlungsunfähig und liefert keine Waffen! / Die faschistische BRD ist kein Staat und liefert Waffen !!! Die friedliche Beseitigung der BRD ist möglich, durch: / Nicht – wählen – gehen – in – der – BRD“) vor dem Brandenburger Tor zugegen ist. Eine Unterzeichnerin von Schwarzers und Wagenknechts Petition schreibt in einem Kommentar darunter, dass „die Russen“ noch nie ihre Feinde gewesen seien, dass die Natostaaten und Amerika „endlich ihr zutun an dieser Misere offenlegen“ müssen und dass gerade „wir Deutschen“ Schreckliches getan haben, „auch gegen die Russen“, und sich daraus eine Pflicht zur Neutralität im Krieg ableite. Sie fordert, wie Schwarzer und Wagenknecht, Frieden und beendet ihren Kommentar, indem sie die Regierung, die Kriegspolitik und die Politiker als eine Schande bezeichnet. Wie sind die Äußerungen dieser Personen zu beurteilen? Was sie gemeinsam haben, ist eine Abneigung gegenüber der Bundesregierung bzw. im Fall des Reichsbürgers die komplette Verneinung des Staats, für dessen Rechtsordnung sie steht. Im Fall des Schilds des Reichsbürgers haben wir es mit der Auslegung von politischen Verhältnissen und der darauf fußenden Behauptung einer Wirklichkeit, die von einer anderen überdeckt werde, sowie einem Verweis, wie man diese andere Scheinwirklichkeit beseitigen könnte, zu tun. Im Fall des Kommentars der Unterzeichnerin der Petition von Schwarzer und Wagenknecht geht es stattdessen um die Bewertung der Entstehungsgeschichte einer „Misere“ und anderer historischer Fakten sowie um persönliche Empfindungen, die die Verfasserin des Kommentars zusammen zu einem Fazit führen. Die Äußerungen beider Personen sind also durch bestimmte Faktoren motiviert.
Die Journalistinnen Anne Applebaum und Nataliya Gumenyuk haben auf der Grundlage von Interviews und Recherchen, die vom Reckoning Project (eine multinationale Gruppe von Journalist*innen und Forscher*innen mit der Aufgabe, Beweise von Kriegsverbrechen in der Ukraine zu sammeln) durchgeführt wurden, einen Artikel über „Inkompetenz und Folter“ in den besetzten Gebieten der Ukraine geschrieben, der aufzeigt, wie beide – das Unwissen und die Brutalität von russischen Soldat*innen – miteinander verflochten sind. Applebaum und Gumenyuk schildern zunächst die Geschichte des Bürgermeisters von Stara Zburjivka – einem Dorf, das in der Nähe von Cherson (auf der anderen Seite des Dnepr) liegt –, namens Viktor Marunyak, der von russischen Soldat*innen gefoltert wurde (zunächst wurde er geschlagen, später wurden ihm Elektroschocks gegeben; nach einer mehrtägigen Gefangenschaft wurde er mit neun gebrochenen Rippen und einer Lungenentzündung gehen gelassen) und den die russischen Soldat*innen bezichtigten, einer ukrainischen Sabotagegruppe anzugehören, weil sie seinen Patriotismus und zivilgesellschaftlichen Geist, so die Autorinnen, nicht zuordnen konnten.
Eine weitere Gruppe von gefährdeten Personen in den besetzten Gebieten sind freiwillige Helfende – „Menschen, die Wohltätigkeitsorganisationen koordinieren, Menschen, die zivile Organisationen koordinieren, Menschen, die spontan anderen helfen“. Applebaum und Gumenyuk liefern folgenden Erklärungsversuch dafür: „Vielleicht wirken sie verdächtig auf russische Funktionäre, weil ihr eigenes Land Spontaneität, unabhängige Vereine, und Graswurzelbewegungen zerstört und unterdrückt.“ Ein Freiwilliger, der bei einer Nachbarschaftspatrouille, die die (nicht mehr funktionierende) Polizei ersetzte, und einem Verteilungszentrum für humanitäre Hilfe geholfen hatte und festgenommen wurde, erzählt, dass er zu nicht-bestehenden Verbindungen zum ukrainischen Geheimdienst, zur Central Intelligence Agency (CIA) der USA, und zu George Soros‘ Open Society Foundations befragt wurde. Er wurde von mehreren Männern gleichzeitig geschlagen, mit einem Baseballschläger geschlagen, mit Elektroschocks gefoltert und mit einem Hammer geschlagen, um ihn dazu zu bringen zuzugeben, dass er Teil einer größeren Verschwörung ist. Die Fragen der Verhörer hätten den Eindruck erweckt, dass sie noch nie von so etwas – einem Freiwilligen – gehört hatten. Applebaum und Gumenyuk schreiben dazu: „Alle, die irgendeiner unabhängigen Tätigkeit nachgehen – alle, die sich zivilgesellschaftlich engagieren oder die man als soziale Unternehmer*innen beschreiben könnte – sind in einer Besatzungszone, die von Männern verwaltet wird, die womöglich noch nie zuvor einer echten Wohltätigkeitsorganisation oder einem echten Freiwilligenverein begegnet sind, Gefahr ausgesetzt.“
Eine weitere Illusion der russischen Soldat*innen besteht darin, dass sie glauben, dass sie durch ihren Überfall russischsprachige Menschen in der Ukraine von der vermeintlichen Unterdrückung und Diskriminierung ihres Staates befreien. „Aber als russischsprachige Bürgermeister*innen und Wahlbeamte ihnen erklärten, dass sie von niemandem dafür diskriminiert werden, dass sie ihre Muttersprache sprechen, und dass Russisch weitverbreitet in der Region ist, hatten sie keine Antwort.“ Eine ähnliche Illusion liegt vor, wenn behauptet wird, dass mehrere Imperien in der Ukraine um ihre Interessen kämpfen, so wie es der Papst zuletzt tat. (Die Ansicht, wonach es sich beim Ukraine-Krieg um einen Krieg zwischen Russland und den USA handelt, klingt für mein Gehör auch in dem „und“, im Gegensatz zum „oder“, an jener Stelle in Schwarzers und Wagenknechts Manifest, an der sie sagen, dass Deutschland „nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäische Nachbarn einwirken“ könne, an.) Solche Deutungen laufen immer Gefahr, dass sie die Person (ich meine mit dem Begriff auch Staaten wie die Ukraine), deren Souveränität angegriffen wurde und deren Recht auf Selbstbestimmung auf dem Spiel steht, aus dem Diskurs verdrängen und damit selbst zu einem Teil eines imperialistischen Mindsets werden, in dem die Welt nur in bestimmte Einflussgebiete einer Handvoll Imperien eingeteilt ist. Wenn es im Ukraine-Krieg nicht um die Interessen „mehrerer Imperien“ geht, um was wird dann gekämpft?
Um die Frage zu beantworten, habe ich mir überlegt, dass es Sinn macht, zwei Ereignisse der ukrainischen und der russischen Geschichte der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte einander gegenüberzustellen, die beide mit einer Erinnerungskultur verknüpft sind und die unterschiedliche – oder in Wirklichkeit radikal gegensätzliche – Ansätze, auf welcher Grundlage man eine Welt bauen sollte, aufweisen: die Geiselnahme von Beslan im Jahr 2004, bei der mehr als 1.000 Menschen von einer tschetschenischen separatistischen Terroreinheit in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan (im Süden Russlands) als Geiseln genommen wurden und mehr als 330 Menschen, darunter mehr als 180 Kinder, starben, und der Euromaidan von 2013-2014.
Nach der Geiselnahme von Beslan stellte sich heraus, dass die hohe Zahl der Todesopfer auch dem Vorgehen des FSB, des russischen Inlandsgeheimdienstes, bei der Abwicklung der Geiselnahme geschuldet war. Eine Geiselnahme ist eine heikle Situation. Der Schwebezustand, in dem sich die Schicksäle der Geiseln befinden, schafft einen Kontext, in dem die Handlungen der Sicherheitskräfte, die vor Ort sind, von großer Tragweite sind. Man sollte daher versuchen, in konstanter Responsivität gegenüber der Dynamik der Situation kluge Entscheidungen zu treffen, um möglichst viele Menschenleben – am besten natürlich alle – zu retten und den Schaden zu begrenzen. Das FSB setzte stattdessen Panzerkanonen, Flammenwerfer und Granatenwerfer zum Beschuss des Gebäudes ein. Wieso? Gessen (die Journalist*in, die den Bericht über die Säuberungsaktion gegen homosexuelle Männer in Tschetschenien verfasste), glaubt, dass das FSB alles daran setzte, um durch die Maximierung der Zahl der Todesopfer den größtmöglichen Schockeffekt zu erreichen. „Es ist auch möglich, dass sie einfach so unmenschlich waren, dass sie, auch ohne dieses Ziel im Kopf zu haben, so handeln würden.“ Auch wenn Gessen Recht hat, stellt sich immer noch die Frage, für was die Kinder und Erwachsenen in Beslan geopfert wurden.
„Wir lernten damals, dass das Unmögliche zu erreichen vielleicht romantisch und schön in Liedern und Filmen ist. Aber wir bezahlten dafür, wir bezahlten einen Preis, der schon vom ersten Beginn an zu hoch war“, schreibt die Schriftstellerin Kateryna Mishchenko in einem Artikel über den Euromaidan und die Frage, die er für Europa heute aufwirft: „Will Europa die Ukrainer*innen als lebende Partner*innen oder als tote Held*innen?“ Mishchenko erzählt von dem Menschenmeer auf dem Maidan, das die Särge der erschossenen Aktivist*innen trug. „Aber das Bild des mit europäischen Flaggen gefüllten Maidans blieb ein Bezugspunkt und ein Symbol für den Wandel, den wir wollten.“ Wenn Mishchenko sagt, dass der Preis, den die Ukrainer*innen für das Erreichen der Ziele des Euromaidans bezahlten, von Beginn an zu hoch war, wirft das die Frage auf, wieso es sich dann weiter lohnt, für diese Ziele zu kämpfen. Die Euromaidan-Proteste werden auch als „Revolution der Würde“ bezeichnet. Wenn der Preis, den du für ein Leben in Würde bezahlen musst, eigentlich zu hoch ist, drückst du durch die Handlung, die sich dennoch dieser Hoffnung verschreibt, aus, wie viel dir ein Leben in Würde wert ist. Der Ausdruck eines Werts verlangt immer nach Formen, in denen er sich manifestieren kann. So versammelten sich die Protestierenden auf dem Maidan, um dem Wert eines Lebens in Würde Ausdruck zu verleihen, um ihn zu manifestieren, um ihn geltend zu machen. Solche Manifestationen erfordern manchmal Opfer. Der ukrainische Soldat Viktor Onysko, der im Dezember im Kampf an der Front in Soledar starb, sagte zu seiner Frau (ich zitiere die Worte aus einem Requiem, das ein Freund von ihm, der Schriftsteller Oleksandr Mykhed, für ihn verfasste): „Ich sage es noch einmal. Vielleicht hinterlassen wir Sacharija [der gemeinsamen Tochter] eines Tages nicht viel Knete, aber was wir ihr auf jeden Fall mitgeben, ist der Wert der menschlichen Würde und Freiheit.“
Für die Medien. Wenn ich mir überlege, was den Kern des Verhaltens des FSB in Beslan und den Angriffskrieg gegen die Ukraine verbindet, dann ist es der Umstand, dass es in beiden Fällen darum geht, eine Medienrealität zu produzieren, ganz egal wie viele Menschen dafür sterben oder traumatisiert werden müssen. Wenn aber nicht der Wert menschlichen Lebens als Grundbaustein für die Schaffung einer Welt, als Wahr-heit fungiert (ich spreche in diesem Kontext bewusst von menschlichem Leben, auch wenn ich andere Lebensformen nicht ausschließen möchte), auf was bauen die Leute ihre Welt dann? Der Soziologe Grigory Yudin spricht über die Emotion, die ein beträchtlicher Teil der russischen Bevölkerung mit ihrem Präsidenten teilt: „Ressentiment – monströses, endloses Ressentiment“. Auch bei den politischen Allianzen, die sich in letzter Zeit in Deutschland in Opposition gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine aber auch bezüglich anderer Themen gebildet haben, frage ich mich, inwiefern deren Zusammenhalt nicht auch viel weniger mit irgendwelchen ‚Positionen‘, die man als rechts oder links einordnen könnte, als mit dem Affekt des Ressentiments grundsätzlich zu tun hat. Affekte kennen keine Grenzen. Yudin sagt weiter, dass Putin, wenn er, wie aus dem Ultimatum, das er im Dezember 2021 vor der Großinvasion in der Ukraine an die USA und die NATO stellte, deutlich hervorgeht, das gesamte Osteuropa als seine Einflusssphäre ansieht, diese Zone „zweifellos“ auch Ostdeutschland miteinschließe, „einfach weil Putin persönliche Erinnerungen daran hat“ (Putin war als KGB-Offizier fünf Jahre in Dresden stationiert). „Ich kann mir echt schwer vorstellen, dass er wirklich denkt, dass dieses Territorium nicht ihm gehört.“ Wenn man bedenkt, dass Ostdeutschland vier Jahre unter sowjetischer Besatzung war und die darauf gegründete DDR über 40 Jahre Bestand hatte und in den Ostblock eingeflochten war, ist es komisch, wie wenig präsent derzeit diese Dimension eines womöglich osteuropäischen Deutschlands – sollte ich das in Anführungszeichen setzen? – und wie stark die Abgrenzung, gemäß derer alle Staaten rechts (auf der Landkarte) von Deutschland zu Osteuropa gehören, in meiner Vorstellung ist. Insofern hätte [wenn man der These, dass Putin einen Anspruch auf Osteuropa hat] Putin nicht weniger ‚Anspruch‘ auf deutsche Territorien als auf andere osteuropäische: er hat gar keinen. Gleichzeitig haben Kundgebungen wie die ‚Friedens’demo von Schwarzer und Wagenknecht für mich das Phänomen von pro-russischen Separatisten ein bisschen näher gebracht. Es gibt sicher Individuen wie, nehme ich an, den Reichsbürger, die sich eher mit Putin als mit der Bundesregierung identifizieren würden, und einige wenige, die eine Beseitigung der bundesdeutschen Realität, die sie hassen, auch notfalls durch eine ‚Spezialoperation‘ herbeisehnen. Da bin ich mir nicht sicher. Ich kann mir lediglich vorstellen, wie solche extremistischen Bestrebungen durch propagandistische Mittel in den Medien zu einem Allgemeinwillen verklärt werden können und wie eine Gruppe von Leuten unterhalb dieser virtuellen Scheinrealität vielleicht tatsächlich auf eine Befreiung durch Putin hofft, spätestens bis eine russische Granate ihre Wohnung oder ihr Haus zerstört.
„Aber schreibt Europa uns die Tugenden von Tapferkeit und Unbezwingklichkeit zu, weil unser Gebiet beängstigend nah ist?“ Diese Frage von Mishchenko bringt mich zu den zwei Paradigmen, durch die der Ukraine-Krieg bzw. die Handlungsoptionen Deutschlands in Bezug auf ihn verstanden wurden: erstens der Ukraine-Krieg als ein militärischer Konflikt, in den man nicht hineingezogen werden will; zweitens als Sturm, der zu dir kommt, wenn du nicht eigenmächtig Schritte, also konkret: Handlungen zur Verteidigung der Ukraine, ergreifst, um ihm zu begegnen. Wie aus dem Text hervorgeht, bin ich der Meinung, dass das zweitgenannte Paradigma zutrifft. Mishchenko spricht über die „mentale Metamorphose“, die sie durchlebt, wenn sie die Grenze zwischen der Ukraine und der Europäischen Union überquert, vom Krieg in den Frieden oder vom Frieden in den Krieg reist, und fragt sich, wie „Anti-Kriegs-Politik aussähe, wenn das blutige Gemetzel nicht an den Rändern Europas stattfände“. Sie schreibt, dass das Überwinden jener Grenze eine Friedensfrage sei und dass die schnellstmögliche Integration und Aufnahme der Ukraine in Europa auch die Integration des Verdrängten bedeute. Sie führt des Weiteren aus, dass, wenn ihre Kolleg*innen angesichts des Ukraine-Kriegs über „russischen Imperialismus, Russifizierung, über Stalinismus und Kolonisierung sprechen“, sie an den Maidan als klaren Referenzpunkt für den Krieg denke. „Vielleicht lohnt es sich zu diesem Platz zurückzukehren, um unsere Zukunft zu finden“, schreibt sie, „Unsere gemeinsame Zukunft. Die letzte europäische Revolution, die nicht – noch nicht – ihren gebührlichen Platz in der Geschichte Europas bekommen hat. Der Maidan war ein Zeichen von Menschen an den Rändern Europas, dass Frieden und Gerechtigkeit, zentrale Ziele der Europäischen Union, eine komplexe, feinfühlige und inkludierende Konstruktion erfordern. Aber wurde dieses Zeichen wahrgenommen?“ fragt Mishchenko.
Ich habe manchmal über das Wort ‚Annexion‘ nachgedacht, über seine heutige Bedeutung von ‚widerrechtliche und meist gewaltsame Inbesitznahme fremden Staatsgebiets‘ laut des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache und seinen ursprünglichen etymologischen Sinn von ‚An-knüpfung, An-bindung‘. Auch wenn ich nicht denke, dass das Wort gerettet werden kann, erkenne ich dennoch einen Wert in dieser ursprünglichen, etymologischen Bedeutung, mit dem die brutale Annexions- und Kriegspolitik Putins kontrastiert werden kann. Bei dem Wert geht es um die Destabilisierung – im allerbesten Sinne –, die ein Gefüge erfährt, wenn ein neues Teil hinzukommt, und um die Transformation, die im Zuge einer Anknüpfung, einer Anbindung auf beiden Seiten dadurch stattfinden kann. Ich meine mit ‚Destabilisierung‘ auch das Gefühl, wenn ich eine Gruppe von Menschen, die auf einem Platz zusammengekommen sind, um für ein würdevolles Leben zu protestieren, sehe und mir überlegen muss, ob ich mich in Bewegung setze und dem Protest anschließe, ob ich mich an diese Menschenmasse ‚an-nektiere‘. Die Verkörperung europäischer Werte durch die Protestierenden auf dem Maidan und die kämpfenden ukrainischen Soldat*innen im Ukraine-Krieg hat einen Raum für eine Zukunft in Würde und Freiheit eröffnet. Die Frage ist, ob es das Europa, das evoziert wird, gibt, ob die ukrainische Präsenz, die europäische Werte repräsentiert, zugelassen wird. Das ist eine regionale Frage. Sie ist dort, wo Welten entstehen, mit anderen Friedens- und Gerechtigkeitsfragen verknüpft. Ich denke erneut an die homosexuellen Männer in Tschetschenien, die der Säuberung, über die Gessen berichtete, zum Opfer gefallen oder vor ihr geflohen waren. Am Ende ihres Artikels gibt Gessen ein Videokonzept von einem der Männer, die sie interviewte, wieder. In dem Video liegt er, nachdem er geschlagen wurde, mit Makeup-Spuren und einer schwarzen Leggings oberkörperfrei auf einem schmutzigen Boden, bis die L.G.B.T.-Community hereinkommt, die Menschen, die ihn gedemütigt haben, fesselt und ihn herausführt. Draußen ist eine Menschenmenge versammelt, die glotzen und Steine auf ihn werfen. Er läuft durch. „Ich habe Blut im Gesicht, aber ich habe auch meine Würde, und ich trage Stöckelschuhe.“ Eines der Mädchen gibt ihm eine Regenbogenflagge. Zum Schluss steigt er in eine Limousine und verabschiedet sich mit einer obszönen Geste.
Um solche Fantasien von Emanzipation und Freiheit, von Würde, zu verwirklichen, brauchen wir den Willen, uns damit zu beschäftigen, in welcher Welt – mit welchen Werten – wir leben wollen, und auch in Ablehnung eines weltlosen ‚Friedens‘ für diese Welt zu kämpfen. Demokratie als ein Name für nicht-brutale Formen des Zusammenlebens ist für mich ein Symbol jener Welt, für die es sich zu kämpfen lohnt.