Gespensterbrief #14 - Rauben und Geben
Mein liebes Gespenst,
ich bin hier, um ein paar Illusionen zu zerstören.
Die Sache mit sozialen Orten, kulturellen Treffpunkten für alle und Tagen wie heute ist nämlich, dass sie einen winzigen Einblick geben in eine von vielen möglichen Welten. Doch es sind immer nur Projekte.
Zeitlich begrenzte Momente, deren Ablaufdatum bereits feststeht, wenn es losgeht. Es lohnt nicht, die Elektrik zu erneuern oder die schlimmen Stellen im Boden auszubessern, an denen Menschen mit Rollatoren und Gehstöcken hängenbleiben. Und schließlich ist auch kaum genug Geld da. So ist das immer, wenn es um Menschen geht und nicht um Ware. Auch wenn heute Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist, der Kapitalismus geht an niemandem vorbei, vor ihm sind wir fast alle gleich arm dran.
Die Förderung für den Ort, an dem wir uns treffen, endet Anfang 2025. Und wir müssen uns fragen: Wer auf der Welt wäre bereit, in kulturelle Teilhabe zu investieren, damit es weitergehen kann.
Versteh mich nicht falsch. Ich weiß genau, dass es vielen so geht und wir im sozialen Kulturbereich alle strugglen. Aber weil es vielen so geht, heißt es nicht automatisch, dass es okay ist.
Es gibt Menschen, die zeigen sich heute sehr bewusst nicht. Es tut ihnen weh, heute, und nur heute im Mittelpunkt zu stehen und das restliche Jahr über darum kämpfen zu müssen, überhaupt gesehen zu werden.
Der 5. Mai ist mehr als nur ein Tag. Der 5. Mai ist die Erinnerung daran, dass es immer noch besonders ist, Inklusion zu leben.
Mein liebes Gespenst,
ich bin hier, um dir Hoffnung zu machen.
Die Menschen, die sich heute vielerorts versammeln und die, die sich in aktiven Gruppen engagieren, tun dies freiwillig, weil sie es gern machen. An dieser Stelle könnte man aufzeigen, welche Formen der Behinderung durch Menschen in meinem Umfeld vertreten sind, aber das Outing überlasse ich jenen, die behindert sind und werden gern selbst. Der Grat, über Menschen mit Behinderung zu sprechen und nicht über sie, ist schmal. Aber ich hatte im letzten Jahr oft das Gefühl, er verläuft in manchem zerbrechlichen Moment durch den Ort, den wir uns gemeinsam schufen.
Der 5. Mai ist mehr als nur ein Tag. Er bringt Menschen zusammen, mit und ohne Behinderung(en), die die übrigen 364 Tage für Inklusion einstehen. Solidarisch und mit Blick auf eine Welt, in der alle gut leben können. Das ist ein hoher Anspruch für echte Idealist:innen, ich weiß. Das Ziel - eine Welt für alle - ist so groß, dass der Weg dorthin sehr lange dauert. Darum lass uns Realist:innen sein. Es wird nicht leicht werden. Aber zusammen gehen wir ein Stück und achten darauf, denen, die nach uns kommen, den Weg etwas geebnet zu haben.
Gespenster,
seht euch um. Wer fehlt?
Wer sich treffen möchte, heute ab 15 Uhr in der Düne Lüneburg. Wir lesen kurze Illusionen rauben- und Hoffnung geben-Texte, schlimm und schwer und schön. 🤍🖤
Jess & Gespenst