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Es kommt mir manchmal so vor, als würde die Politik übersehen, dass wir Menschen sind, und dass sie Politik für Menschen macht.

Ich beobachte die aktuell sehr leidenschaftlich geführte Debatte um Arbeitszeiten mit persönlichem und beruflichem Interesse, mit einigem Engagement, da ich regelmäßig in verschiedenen Zeitungen und Medien über dieses Thema schreibe, zuletzt aber mit einem wachsenden Unbehagen. Schon letztes Jahr, als sich auf einmal so unangenehme Gestalten wie Uli Hoeneß zu diesem Thema geäußert hatten, schien mir langsam der Zeitpunkt gekommen, mich anderen Themen zuzuwenden.

Ich war es ohnehin langsam leid, immer wieder die gleichen Belege und Argumente anzuführen und auf die Wichtigkeit einer anderen Zeit-Balance hinzuweisen, die Menschen ermöglicht, freier und selbstbestimmter zu leben, und stärker den eigenen Interessen zu folgen, als sich in in erster Linie den Interessen der Wirtschaft unterzuordnen.

Dass ich mich noch immer regelmäßig mit diesem Thema beschäftige, hat verschiedene Gründe. Ich hätte mich sicher längst davon abgewandt, wenn es hier nur um eine von vielen arbeitsmarktpolitischen Fragen ginge. Tatsächlich ist die Frage der Arbeitszeit aber grundlegend dafür, wie Menschen leben und miteinander leben. Ich denke gern über die großen, existenziellen Fragen nach, und Zeit erscheint mir als eines der größten Symbole für die grundlegenden Sinnfragen des Menschen zu sein. Mich interessieren als Soziologe aber auch schon immer Fragen der Ungleichheit, der Macht- und Geschlechterverhältnisse, der sozialen Ursachen menschlichen Handelns. Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber die großen Sinnfragen des Menschen und die großen Machtfragen der Gesellschaft sind eng verknüpft mit Fragen der Zeit.

Das lässt sich in der aktuellen Debatte tatsächlich gut beobachten. Nach all den Forderungen nach mehr Bock auf Arbeit und neue Lust auf Überstunden, die als hilflose und undurchdachte Reaktionen auf die offensiv vorgetragenen Wünsche vieler Menschen nach kürzeren Arbeitszeiten den Weg in die Öffentlichkeit fanden, hat diese Diskussion kürzlich ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht.

In einem Interview mit dem Handelsblatt (Si apre in una nuova finestra) erklärte der CDU-Politiker und sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, dass sich der Wohlstand in Deutschland nur durch Wachstum und Vollbeschäftigung erhalten lasse und “das bedeutet für mich die 40-Stunden-Woche für alle.” Kretschmer ging aber noch weiter: “Es war ein Fehler, dass wir Möglichkeiten wie die Teilzeit von der Ausnahme zur rechtlich abgesicherten Regel erklärt haben. Teilzeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. Nur so ist der Wohlstand Deutschlands zu erhalten”, sagte er.

Als ich das las, erschienen mir diese Aussagen als die furchtbarsten, die ich bisher in der Debatte vernommen hatte. Es wäre eine Möglichkeit, solchen Aussagen keine weitere Beachtung zu schenken. Man könnte die Aussagen eines Landespolitikers, der ja nicht über Arbeitszeiten entscheidet, als eine unqualifizierte Meinungsäußerung abtun und das Ganze abhaken. Als Journalist erschien mir die Notwendigkeit zu widersprechen aber zu groß, aus mehreren Gründen.

Vollzeit für alle, Einschränkung des Rechts auf Teilzeit, längere Arbeitszeiten, worum ging es hier eigentlich? Ich schrieb einer früheren Kollegin bei Perspective Daily, dass ich darüber nachdenke, etwas zu dieser Debatte zu schreiben, in der Politiker*innen schon lange nicht mehr argumentieren und belegen, warum längere Arbeitszeiten gut für uns alle sein könnten. Vielmehr, schrieb ich ihr, werde da gerade mit falschen Fakten argumentiert, die Bedürfnisse in der Bevölkerung verleugnet und zu einer erneuten Abwertung und Unsichtbarmachung von Care-Arbeit beigetragen.

In meiner inzwischen erschienenen Analyse des aktuellen Arbeitszeitdiskurses (Si apre in una nuova finestra) führte ich zunächst aus, warum die Ansicht, es werde in Deutschland vergleichsweise wenig gearbeitet, den Daten nicht standhält. Als nächstes konzentrierte ich mich auf die Frage der Rolle von Politik. Ich schrieb:

Offenbar sind viele Politiker:innen der Ansicht, dass sie die Arbeitszeitwünsche einfach ignorieren können. Anders lässt sich jedenfalls nicht erklären, warum sie so intensiv an die Arbeitsmoral appellieren: Wir befinden uns in Krisenzeiten, deshalb müssen alle mehr leisten! Die Bevölkerung scheint aber anders auf die Krisenzeit reagieren zu wollen. Ihr geht es nicht nur um die Frage, wie viel geleistet wird, sondern was überhaupt geleistet wird und zu welchem Preis.

Abgesehen von den Klimaschäden der gegenwärtigen Wirtschaftsproduktion sind auch die Kosten für die unmittelbare Gesundheit der Menschen zu groß geworden: 2023 wurde der höchste Krankenstand seit 1991 verzeichnet. 7,3 Millionen Menschen in Deutschland haben innerlich gekündigt. Ungebrochen ist auch der Trend zur Frühverrentung. Praktisch findet gerade eine Arbeitszeitverkürzung durch Erschöpfung und Krankheit statt.

Unweigerlich stellen sich da ein paar Fragen: Was war noch mal die Aufgabe von Politik? Sollte es nicht ihr Ziel sein, Menschen ein gutes, gesundes Leben zu ermöglichen? Wie entfremdet von der Bevölkerung muss eine Regierung sein, wenn sie die Wünsche, Bedürfnisse und Lebenssituationen der Menschen ignoriert? Welches Selbstverständnis haben Politiker:innen, die sich über diese Wünsche hinwegsetzen?

Ich frage mich in dieser Diskussion tatsächlich manchmal, ob die regierenden Politiker wie Michael Kretschmer oder Christian Lindner, noch erkennen, dass sie Politik für Menschen machen, und nicht für den Staatshaushalt oder das Wirtschaftswachtum oder den eigenen Wahlerfolg (der bei der FDP und der sächsischen CDU stark gefährdet ist).

Die politischen Defizite und Handlungszwänge und die Bedürfnisse und Nöte in der Gesellschaft sind schon lange nicht mehr zu übersehen. Der Rekordkrankenstand mit einer Zunahme der beruflichen Fehltage wegen psychischer Erkrankungen zwischen 2012 und 2022 um 48 Prozent, die anhaltenden Kündigungs- und Frühverrentungswünsche, die allgegenwärtigen Klagen über Überlastung und Erschöpfung sowie das langsam zusammenbrechende Care-System finden in der Politik keine Antworten. Der Grund für den Frust darüber liegt, glaube ich, nicht nur im Mangel an Lösungen. Er liegt auch darin, dass viele Menschen, auch ich, sich von der Politik zurückgewiesen und übersehen fühlen. In der Psychologie spricht man von Invalidierung, wenn emotionale Erfahrungen und Belastungen nicht ernstgenommen oder ignoriert werden. Politik sollte das Gegenteil tun, sie sollte validieren, was eine Mehrheit bewegt, weil sie die Mehrheit vertritt.

Ich schreibe über das, was Menschen im Innersten bewegt, weil es noch immer häufig unausgesprochen bleibt, nicht gesehen und relativiert wird, aber auch weil ich mich aktuell selbst intensiv damit beschäftigen muss, da ich seit vielen Jahren von psychischen Problemen betroffen bin. Die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, die ich wieder intensiv aufgenommen habe, führt mich zurück zu meinen tiefen Prägungen, ungesunden Verhaltens- und Denkmustern, unbewussten Ängsten und Verletzungen, sogar zu den teils traumatischen Erfahrungen meiner Eltern und Großeltern, die bis heute fortwirken.

All diese Dinge bestimmen, wer ich bin, wie ich denke, fühle und handle. Sie bilden mein Menschsein. Nur, indem ich dies besser verstehe, kann ich heute und in Zukunft besser mit mir, meinem Leben und den Menschen in meiner Umgebung umgehen. Dazu zählen auch meine Kinder. Ich wünsche mir, dass ich dazu beitragen kann, ihnen Selbstwert und Resilienz zu vermitteln und die generationenübergreifenden Prozesse, die psychische Störungen begünstigen können, zu durchbrechen.

Eine größere und wichtigere Aufgabe, als für mich, meine Familie und Freund*innen Sorge zu tragen, kann ich in meinem Leben nicht erkennen. Das ist ein Grund, warum ich in einer meiner letzten Newsletterausgaben über Care geschrieben habe: Ich habe meinen Purpose gefunden (Si apre in una nuova finestra), und diesen Purpose kann ich derzeit nicht in einem Wirtschaftsunternehmen finden, sondern in meiner Aufgabe als sorgenden Menschen.

Titelbild: Lena Nikcevic

In der multiplen, anhaltenden Krise, die wir erleben, braucht es stabile Menschen, die füreinander Sorge tragen können, mehr als alles andere. Diese Stabilität und die Kapazitäten, Sorgearbeit zu leisten, sind gefährdet. Das blockiert Menschen, die dann nicht mehr in der Lage sind, an den gesellschaftlichen Lösungen und den demokratischen Prozessen mitzuwirken, die es dringend braucht. Ihnen nun zu sagen, dass sie ihre Bedürfnisse zurückstellen und gefälligst mehr arbeiten sollen, ist eine Form von Ignoranz und Kränkung, über deren Folgen sich die jeweiligen politischen und Wirtschaftsvertreter*innen wohl nicht im Klaren sind.

Die mentalen und emotionalen Belastungen in der Gesellschaft sind groß. Ich spreche hier nicht nur über mich, sondern über eine in weiten Teilen erschöpfte, verunsicherte Gesellschaft. Die Politik hat zwar erkannt, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden. Doch es gelingt ihr nicht, dem spürbaren Zeitenende mit dem Bild eines neuen Zeitenanfangs zu begegnen. Stattdessen arbeiten Politiker wie Christian Lindner und Michael Kretschmer mit einem gefährlichen Mittel, das alles noch schlimmer macht: Schuld. Ihr arbeitet zu wenig! Ihr leistet zu wenig! Ihr seid nicht gut genug! Als würden sich Menschen nicht schon genügend Druck und Vorwürfe machen.

Die Botschaft lautet: Eure Gefühle der Erschöpfung, eure Bedürfnisse nach mehr freier Zeit und Selbstbestimmung sind nichts wert. Eure Sorgen um das Klima, um die Zukunft der Kinder, sie sind nichts wert. Ich finde es nicht übertrieben zu sagen, dass die gegenwärtige Politik das Gespür dafür verloren hat, was in der Bevölkerung vor sich geht, wonach sich Menschen sehnen, was sie brauchen und was es überhaupt bedeutet, Mensch zu sein. Vielleicht ist Karl Lauterbach, der kürzlich eine Strategie zur Suizidprävention (Si apre in una nuova finestra) vorgelegt hat, der einzige Regierungspolitiker, der auch die Abgründe der Menschen sieht, und aus ihren Notlagen politischen Handlungsdruck ableitet und Lösungen entwickelt. Andere Beispiele fallen mir nicht ein.

Die Ausblendung unseres Menschseins wird besonders deutlich bei einem dritten Aspekt, den ich in meiner Analyse für Perspective Daily als den vielleicht problematischsten in der aktuellen Diskussion bezeichne. Ich schreibe, dass es Michael Kretschmer um eine Botschaft geht, wenn er das Recht auf Teilzeit in Frage stellt und eine 40-Stunden-Woche für alle fordert:

Da vor allem Frauen in Teilzeit arbeiten, dürften sie auch die Adressatinnen seiner Forderung sein. Schon jetzt leisten sie, Erwerbs- und Carearbeit zusammengerechnet, mehr Arbeitszeit als Männer.

Michael Kretschmer kann den Müttern kein flächendeckendes Betreuungssystem für ihre Kinder anbieten. Gleichwohl erwartet er von ihnen, dass sie die Zeit für Sorgearbeit weiter zurückschrauben, um mehr Erwerbsarbeit leisten zu können. So, als wäre das nichts, Kinder zu betreuen. Als würde es die Bedürfnisse der Kinder oder der zu pflegenden Angehörigen überhaupt nicht geben und als könnte man die Zeit für die intensive körperliche, emotionale und gedankliche Sorgearbeit einfach immer weiter reduzieren. Diese ohnehin ungenügend anerkannte Form der Arbeit erfährt gerade durch Politiker wie Kretschmer und Lindner eine weitere inakzeptable Abwertung.

Genau das ist der Grund, warum man ein solches Interview, wie es der sächsische Ministerpräsident gegeben hat, nicht ignorieren sollte. Man muss mindestens genauso oft auf die Mechanismen hinweisen, mit denen versucht wird, die Lebensleistung der betreuenden und pflegenden Menschen zu entwerten.

Es geht hier also schon lange nicht mehr nur um ein paar Stunden mehr oder weniger Erwerbsarbeit pro Woche. Es geht um das Selbstverständnis von Politik, um falsche Fakten, um Macht- und Geschlechterverhältnisse. Es geht natürlich auch um die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Und nicht zuletzt geht es darum zu verteidigen, was uns als Menschen ausmacht, was uns bewegt und prägt, was wir brauchen und uns wünschen, was uns Angst und was uns Hoffnung macht. Für eine Politik, die das alles nicht sieht, sehe ich keine Legitimation.

Mein gesamter Text ist bei Perspective Daily nachzulesen:

https://perspective-daily.de/article/3135-40-stunden-woche-fuer-alle-darum-geht-es-in-der-debatte-wirklich/wnNhLsap (Si apre in una nuova finestra)

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Danke fürs Lesen und bis bald,
Stefan

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