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Es ist die Wucht der winzigen Augenblicke, die das Leben ausmachen.

Als ich letzten Sonntag früh morgens auf die Terrasse trat, zeigte das Thermometer 14 Grad Celsius an. Seit Wochen trug ich nur kurze Hosen, was sich jetzt völlig unpassend anfühlte. Ich fror, wahrscheinlich zum ersten Mal seit Monaten, doch das war mir egal. Ich blieb noch eine Weile draußen stehen und atmete die unerwartet angenehme, kühle Luft ein. Ich horchte in die Stille der Nachbarschaft und spürte, dass sich etwas verändert hatte. Selten habe ich so eindeutig wahrgenommen, dass der Sommer vorbei ist. Schon seit Wochen befinde ich mich in einer Art Übergangszeit. Ungeachtet der Hitze der letzten Wochen habe ich viel Zeit draußen verbracht in dem Bewusstsein, dass die dunkle Jahreszeit näher rückt, die bei mir häufig auch mit dunklen Gefühlen verbunden ist. Ich wollte die letzten Sommertage auskosten.

Ganz einfach ist das natürlich nicht bei wochenlanger Hitze und in dem Bewusstsein, dass Hitzeperioden aufgrund der Klimaveränderungen künftig ganz normal sein werden. Die Medien lernen gerade, dass Hitzewellen etwas Krisenhaftes sind und die Berichte darüber nicht mit Bildern von Freibädern und Eiscreme unterlegt werden sollten, wenn anderswo gerade Wälder brennen und Flüsse trocken liegen.

Trotzdem merkte ich, je länger ich draußen war, welcher Zauber von diesen letzten Sommertagen ausgeht. Ich machte Radtouren bei über 30 Grad, in der glühenden Hitze, vorbei an den schon abgeernteten, golden leuchtenden Kornfeldern. Am Straßenrand reiften die Äpfel, Zwetschgen und Brombeeren. Hier und dort standen Sonnenblumen am Rande eines Feldes. Mit meiner besten Freundin unternahm ich den wohl letzten Waldfreibadbesuch. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden gerade hinter den Baumkronen und wir entschieden uns noch ein paar weitere Bahnen zu ziehen, obwohl wir einen Zug bekommen mussten. Sie erklärte mir den Unterschied zwischen uhrzeit- und impulsorientierten Menschen. In diesem Moment versuchten wir die Balance zu finden und unserem Impuls zu bleiben zu folgen, aber trotzdem den Zug zu bekommen. Wir schwammen noch zwei Bahnen, sprangen ins Auto und waren rechtzeitig am Bahnhof.

Einmal noch, das ist vielleicht der Wunsch, der sich in diesen letzten Sommertagen ganz besonders stark äußert. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, was die Zeit zwischen Sommerende und Herbstanfang so besonders macht. Ist es die Ahnung des langsamen Verstreichens von Lebenszeit?

Ich merke jedenfalls, dass sich zu Beginn des Herbstes der Wunsch nach einer Neuausrichtung einstellt. Eigentlich markiert der Frühling den Beginn von etwas Neuem. Es ist ein leichter und erleichternder Beginn, nach Monaten der Dunkelheit und Kälte, nach Rückzug und nach dem leblosen, meiner Meinung nach schlimmsten aller Monate: dem Februar. Der Herbstanfang hingegen ist kein leichter Anfang. Er zwingt uns loszulassen. Häufig schwingen Wehmut und Melancholie mit, Erinnerungen an die guten Augenblicke, die nur der Sommer geben kann. Es ist das Gefühl von Gegenwärtigkeit, von Resonanz und Verbundensein, das das Leben ausmacht. Das ist im Sommer besonders intensiv zu spüren. Deshalb ist auch der Übergang, die Verabschiedung dieser Zeit und vielleicht die damit verbundene Sorge, dass die kommende Zeit unglücklicher und schwieriger sein könnte, intensiver zu spüren. Die Sorgen, das etwas Wertvolles vorüber ist und in dieser Form nicht wiederkehren wird.

Das alles ist schwer greifbar und kaum zu benennen. Übergänge sind Prozesse, die sich nicht an einem festen Datum ablesen lassen. Doch ich bin mit meiner Empfindung nicht allein. Der Schriftsteller Daniel Schreiber schrieb gerade in seinem sonntäglichen Wochenrückblick bei Instagram, dass er glaube, dass man sich in diesen Zwischenphasen häufig neu justiert. „Das ist nicht immer ein angenehmer Prozess und auch einer, der eher, ohne dass es einem bewusst ist, abläuft. Was ich vielleicht damit sagen will: Vielleicht brauchen unsere Psychen diese Phasen, diese Zeit zwischen Nichtmehr und Nochnicht, die sich auch ein wenig traurig anfühlen kann. Vielleicht braucht man sie, um irgendwann tatsächlich in den Herbst oder eine neue Lebensphase starten zu können.“

Auch die Journalistin Teresa Bücker widmete sich in ihrem Newsletter Zwischenzeit_en (Si apre in una nuova finestra) diesem Thema. Sie schreibt: „Der August ist für mich der Monat, in dem sich Freiheit, Sehnsucht, Leerstellen und Antworten als kleine Explosionen mischen.“

Die sichtbarste Zäsur eines Jahres ist der 1. Januar. Doch die Vorsätze eines neuen Jahres werden schnell bedeutungslos. Womöglich liegt das daran, dass es sich um einen Anfang handelt, der zwar kalendarisch deutlich wird, aber kaum spürbar ist. Das ist am Ende des Sommers anders. Wie Daniel Schreiber schon andeutet, ist das Ende des Sommers eine Zeit, der oft lebensverändernde Neuanfänge folgen. Der erste Kindergartentag, der erste Schultag, der Beginn einer Ausbildung, eines Studiums oder früher des Wehr- oder Zivildienstes fallen in diese Zeit. Als Vater erlebe ich, wie sich diese Übergänge wiederholen. Noch ist es unvorstellbar, dass meine Tochter in zwei Jahren die Schule besuchen wird. Auf meinem Smartphone sind noch Babyfotos von ihr. Für sie muss das weit weg sein. Manchmal beginnt sie Sätze mit „Wenn ich ein Baby bin …“ und meint „Als ich ein Baby war“. Für ein Kind folgt Unmittelbares auf Unmittelbares, wie die Soziologin Helga Nowotny in Eigenzeit schreibt. „An der Periodizität seines Leibes entwickelt es seine ersten Zeitvorstellungen, aber auch seine ersten Strategien im Umgang mit Zeit. Im Rhythmus von Atmen, Essen und Schlafen erfährt das Kind seine frühesten Befriedigungen und Versagungen.“

Das ist die innere Zeit des Kindes, die Eigenzeit des menschlichen Körpers. Später tritt die äußere, fremdbestimmte, sozial strukturierte Zeit hinzu. Die Zeit der anderen. Im besten Fall deckt sich die äußere Zeit mit der individuellen Eigenzeit einigermaßen. Um uns besser auf die Erfordernisse des Alltags einzustellen, etablieren wir Gewohnheiten, Erwartungen, Rituale. Es entsteht eine Kontinuität, die für Menschen unglaublich wichtig ist, um den Alltag bewältigen zu können. Treten Übergangsphasen ein, wird diese Kontinuität unterbrochen. Die Gewohnheiten und Rituale werden in Frage gestellt. Erwartungen drohen nicht mehr erfüllt zu werden. Deshalb sind Übergangsphasen oft schwer auszuhalten.

Selbstverständlich hat sich unsere Gesellschaft etwas einfallen lassen, um diese Übergänge besser zu bestehen. Die Forschung beschäftigt sich schon lange damit und bezeichnet solche Übergänge als liminale Phasen. Der Ethnologe Arnold van Gennep beschrieb in seinem 1909 erschienenen Buch Übergangsriten die Rituale, die in verschiedenen Kulturen existieren, um die Übergänge in neue Lebensphasen zu markieren. Wir durchlaufen mit der Zeit verschiedene Lebenszyklen; werden erwachsen, treten ins Berufsleben ein, binden uns an einen Partner oder eine Partnerin, gründen eine Familie, sterben. Übergangsrituale wie die Taufe, die Abschlussfeier, die Hochzeit und die Beerdigung dienen als symbolische Akte, um solche Brüche und die damit verbundenen Anpassungsleistungen zu bestehen.

Aufbauend auf dieser Theorie untersuchte der Ethnologe Victor Turner, was während des Übergangs geschieht, wenn sich Menschen von einer Lebensphase gelöst haben und die neue noch nicht begonnen hat. Liminale Phasen sind Zeiten zwischen den Zeiten. Wer die Passage durchläuft, ist nicht mehr die Person, die sie einmal war, aber auch noch nicht die, die sie einmal sein wird, wenn der Übergang vollendet ist. Es sind Phasen der Unbestimmtheit und Unsicherheit, aber auch der Verwandlung und der Innovation.

„Wir befinden uns direkt im Zwischenraum, zwischen dem alten Leben, das wir verloren haben, und dem neuen Leben, das noch nicht ganz entstanden ist“, schreibt der Psychologe Tim Leberecht im Fachmagazin Psychology Today (Si apre in una nuova finestra). Liminalität sei die Grauzone, in der nichts endgültig und noch alles möglich sei.

Die Pandemie wurde oft als eine solche liminale Phase beschrieben. Doch aus meiner Sicht spricht vieles dafür, dass wir uns aktuell wieder in einem Zwischenraum befinden. Wir spüren die Gewissheit, dass ein altes Leben, das Frieden und Sicherheit garantierte, verloren ist. Wir wissen, dass wir gezwungen sind, uns den großen Herausforderungen der Zukunft endlich zu stellen. Und damit auch den Sorgen und Ängsten, die wegen des Krieges, der Inflation, der Versorgungsunsicherheit, der Hitze und Dürre tief an uns rühren, ob wir es zulassen oder nicht. Diese Gewissheit, die vielmehr eine Ungewissheit ist, verlangt nach Halt. 

Es sind schwer fassbare, uneindeutige Verluste, mit denen wir es zu tun haben. In meiner Jugend bin ich oft in den Wald gegangen, wenn mir die Welt zu viel wurde. Alles dort schien in Ordnung, es herrschte Ruhe, die auch bald wieder in mir einkehrte. Ich habe mir dann gesagt: Du siehst doch, es ist alles in Ordnung, beruhige dich. Ich kann es nur schwer beschreiben, doch die Natur war damals für mich der Beweis dafür, dass alles nicht so schlimm ist und ich eine Distanz einnehmen kann zu den anstrengenden und schlimmen Dingen, die auf der Welt passieren. Das kann ich heute nicht mehr, denn dem Wald geht es schlecht.

Teresa Bücker schreibt: „Unbeabsichtigt sind die Beschreibungen von Jahreszeiten und typischen Monaten jetzt Klima-Literatur, die daran erinnern, wie es einmal war. Die markieren, was verschwindet.“ Der August sei in diesem Jahr kein sanfter Übertritt in eine andere Jahreszeit, er wirke vielmehr „wie ein Schrei, der ausdrücken will, dass wir uns nicht mehr an verlässlichen Rhythmen orientieren können, weil wir sie durcheinanderbringen.“

"Es ist in mancher Hinsicht schwierig, liminale Zeiten auszuhalten, nicht zuletzt, weil man nicht weiß, was nach ihnen kommt", schreibt Daniel Schreiber in Allein. Aber in ihnen liege auch eine Chance. "Sie bieten die Möglichkeit, sich selbst, sein Leben und die Welt mit einem gewissen Abstand, aus einer neuen Perspektive zu betrachten und über Dinge nachzudenken, über die man lange nicht nachdenken wollte oder konnte."

Das ist das Gute an der Unsicherheit des Übergangs, in dem wir uns vielleicht gerade kollektiv befinden: Wir betrachten Krisen nicht mehr als vorübergehenden Zustand, sondern als permanente Herausforderungen, denen wir uns verantwortungsvoll stellen. Wir geben uns nicht länger der Illusion hin, dass Sicherheit, Gesundheit und Frieden gegeben sind. Wir flüchten nicht mehr in die Vorstellung, dass bald schon alles wieder gut werden wird. Wir stellen uns vielmehr auf eine neue, ungekannte Unsicherheit ein. Doch wir suchen nicht nach Auswegen, sondern nach einer Form von Resilienz, mit der wir uns in diese Wirklichkeiten hineinbewegen können, ohne unterzugehen.

Ich tue mich oft schwer mit tiefgreifenden Veränderungen, und suche sie doch immer wieder. Ich suche sie in dem Wissen, dass sie ein natürlicher, unvermeidlicher und letztlich wertvoller Bestandteil des Lebens sind. Das letzte Abtauchen ins kühle Wasser des Waldfreibads war doch auch nur deshalb so kostbar, weil ich wusste, dass dieser Moment vergeht, dass ich ihn nicht festhalten, nicht besitzen, nicht kontrollieren kann. Und doch ist es die Wucht dieser winzigen Augenblicke, die das Leben ausmachen. Und die wahrscheinlich die Kraft geben für all die Veränderungen, Umbrüche und Anfänge, die wir bewältigen müssen.

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