"Eine ganze Stunde der Seligkeit! Ist das etwa wenig, selbst für ein ganzes Menschenleben?"
Ich habe in den letzten Tagen und Wochen wieder genügend Material für diesen Newsletter gesammelt, um es, wie so oft, beiseitezulegen, sobald ich anfange eine neue Ausgabe zu schreiben. So wie viele andere Newsletterautor*innen habe ich die inseln der zeit anfangs als eine Art Dienstleistung verstanden, um zum Beispiel neue Erkenntnisse aus der Zeitforschung zu teilen oder über Entwicklungen aus zeitpolitisch relevanten Bereichen zu berichten, um einen "Mehrwert" zu bieten und natürlich auch, um die mir unterstellte Expertise unter Beweis zu stellen.
Es gibt auch immer vieles, das ich hier gerne thematisieren würde und kaum alles unterbringen kann. Heute wollte ich zum Beispiel auf die Forschungsergebnisse der Ökonomin Claudia Goldin eingehen, die den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen hat. Besonders interessant dabei fand ich, dass Goldin die Gender-Pay-Gap unter anderem durch die Existenz sogenannter gieriger Jobs erklärt. Das sind Jobs, die gut bezahlt sind und zwar deshalb, weil die Beschäftigten in diesen Jobs unverhältnismäßig lange arbeiten, Überstunden machen und ständig auf Abruf sind. Diese Jobs werden häufig von Männern ausgeübt. Für Menschen, die Kinder oder pflegebedürftige Menschen betreuen, ist es in der Regel nicht möglich, solche gierigen Jobs anzunehmem. Die Gesellschaft ist aber so strukturiert, dass Männer (auf den ersten Blick) davon profitieren, wenn sie ihre Arbeitszeit erhöhen und flexibilisieren, und damit (langfristig auf Kosten ihrer Freizeit, ihrer Gesundheit und ihrer sozialen Beziehungen) mehr Geld verdienen.
Daraus wollte ich ableiten und begründen, warum es caresensible und zeitgerechte Arbeitsmodelle braucht, die die ungesunden gierigen Jobs ersetzen und dazu beitragen, die Ungleichheiten in Arbeit und Familie abzubauen. Vielleicht mache ich das ein anderes Mal, aber nicht heute. Ich wollte auch schon länger noch einmal kritisch auf die Viertagewoche schauen und auf die wissenschaftliche Fundierung und Aussagekraft der weltweiten Pilotstudien. Mache ich vielleicht auch noch. Aber heute möchte ich auf etwas anderes hinaus, was aber vielleicht gar nicht so weit entfernt liegt von Goldins Forschung und der Viertagewoche.
Ich bin heute Morgen, wie immer, gegen 7 Uhr aufgestanden, habe geduscht, die Zeitung reingeholt (Ich bin noch unschlüssig über den Sinn und Zweck der Wagenknecht-Partei), Kaffee gekocht, und – das war überhaupt nicht wie immer –, ausgiebig mit meinen Kindern gefrühstückt. Erst für 9 Uhr hatten wir ein Gespräch in der Kita vereinbart, um über meine Tochter zu sprechen. Also stand plötzlich eine Stunde mehr zur Verfügung. Da erst kürzlich ein Entwicklungsgespräch in der Kita stattgefunden hatte, in dessen Folge einige Fragen (und Gefühle) offengeblieben waren, hatten wir ein weiteres Gespräch vereinbart, ich rechnete damit, dass es nicht länger als eine halbe Stunde dauern würde.
Meine Frau und ich saßen mit der Erzieherin, die als Integrationsfachkraft für meine Tochter verantwortlich ist, der Gruppenleiterin und der Kitaleiterin zusammen und sprachen über eine Stunde. Wir redeten über meine Tochter, bald aber auch über andere Themen, Empathie bei Kindern, Inklusionsbemühungen, die nicht nur meine Tochter, sondern alle Kinder und Eltern angeht, und über den Wechsel an die Grundschule, in der nach Aussage der Erzieherin plötzlich richtig "geschuftet" werden müsse, weil das Ministerium dies so vorgebe. Zeit, um individuell auf die Kinder einzugehen, bleibe wenig.
Ich hatte keine Eile, das Gespräch abzukürzen, und die anderen auch nicht. Mit einem guten Gefühl haben alle den Raum verlassen. Als ich nach Hause kam, setzte ich eine vegetarische Bolognese auf. Gleich, wenn ich diesen Text verschickt haben werde (ich werde mir heute nicht so viel Zeit dafür nehmen), werde ich noch einen Kaffee kochen, die Bolognese umrühren und in dem wundervollen Roman Zeitzuflucht von Georgi Gospodinov weiterlesen.
Es ist erstaunlich, was plötzlich möglich ist, wenn Zeit vorhanden ist. Wenn Zeit nicht davonrennt, sondern sie tatsächlich Zuflucht bietet. Wenn nicht 20 Minuten für ein Elterngespräch anberaumt sind, in dem das Wichtigste geklärt wird, so wie neuerdings ja alle Meetings super kurz und effizient sein müssen, sondern eine Stunde, oder bei Bedarf noch mehr Zeit, in der sich gemeinsame Gedanken entwickeln, Grundlagen geschaffen werden können, auf denen man dann aufbaut, um mit der Zeit immer mehr gegenseitiges Verständnis und Verständigung zu erreichen. Wie viel schon allein dadurch erreicht werden kann, dass wir uns zuhören! Ich glaube, ohne solche offenen Ideenräume, die nicht von vornherein durch Zeitfristen und strikte Tagesordnungen abgesteckt sind, sind wir wirklich verloren.
Ich hatte dann, wie gesagt, Zeit, um ein gesundes Mittagessen zu kochen, statt zum nächsten Bäcker oder Supermarkt zu rennen und irgendein überteuertes Fast Food zu kaufen. Zeit, um mich weiter von meiner merkwürdigen Kurzgrippe zu erholen, die mich in den letzten beiden Tagen heimgesucht hat und nun fast wieder verschwunden ist. Wie gut das ist, zu sagen, ich erhole mich noch zwei Tage, und nicht: Ja, ich glaube, ich kann schon wieder arbeiten, das geht schon.
Es ist unnötig zu erwähnen, dass natürlich auch an solchen Tagen Betreuungs- und Haushaltsarbeit zu leisten ist. Aber wenn ich mich jenseits des durchgetakteten Lebens befinde, wie es so schön im Untertitel von Jenny Odells neuem Buch Zeit finden heißt, wenn ich meine Tagesstruktur selbst gestalten kann, Raum und Zeit habe für die Dinge, die gerade wichtig sind, dann ist das wirklich ein komplett anderes Leben als das durchgetaktete Leben, das sich in erster Linie an einer vorgegebenen Zeit für Erwerbsarbeit orientiert. Das, was häufig fehlt, ist gar nicht immer mehr Zeit, wie Jenny Odell so schön beschreibt, sondern ein anderer Umgang mit ihr: "Was zunächst als der Wunsch nach mehr Stunden am Tag erscheint, erweist sich vielleicht nur als ein Teil eines einfachen und doch ungeheuer großen Verlangens nach Autonomie, Sinn und Zweck."
Ich glaube, die Diskussion über die Viertagewoche ist der leise Versuch, sich ein anderes Leben vorzustellen. Nach Jahrhunderten der kapitalistischen, industriellen Arbeit ist das gar nicht so leicht. Und so wird häufig, auch von mir, für die Viertagewoche argumentiert mit dem Hinweis, dass die Wirtschaft produktiver werden muss und dass Menschen, die Vollzeit arbeiten oder sogar Überstunden machen, ab einem bestimmten Punkt nicht mehr produktiv sind und deshalb eine Verkürzung der Arbeitszeit durch den Produktivitätsgewinn in vielen Jobs aufgefangen werden kann. Es wird auch argumentiert, dass Beschäftigte in einer Viertagewoche seltener krankheitsbedingt ausfallen, dass also die geringere Anwesenheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz durch die kürzeren Ausfallzeiten kompensiert wird.
Man muss also, um die Wirtschaft von Arbeitszeitverkürzung zu überzeugen, mit wirtschaftlichen Argumenten kommen. Ich finde das auch alles in Ordnung und vielleicht geht es auch nicht anders. Aber es geht bei dieser ganzen Diskussion um viel mehr als Produktivitätsgewinne und Vorteile bei der Fachkräftegewinnung.
Es geht nicht allein darum, die Arbeit besser zu machen und dafür zu sorgen, dass Menschen mehr Bock auf Arbeit haben. Es geht darum, das Leben besser zu machen. Es geht darum, sich ganz grundsätzlich ein anderes Leben vorzustellen. Ein Leben, in dem man einfach so einen freien Tag hat. Ein Tag, der keinen Nutzen generieren, keinen Wert schöpfen muss.
Ein Tag, an dem ich Bolognese kochen und lesen darf und einen Newsletter schreibe, nicht weil ich muss, sondern weil ich mag. Deshalb ist die Viertagewoche, als verwendbares Narrativ, aber auch als konkret gestaltetes Modell, ein Anfang, vielleicht ein Startpunkt, um über ein solches Leben jenseits des durchgetakteten Alltags nachzudenken. Jenny Odell schreibt in Zeit finden:
Ich denke, der Grund, warum die meisten Menschen Zeit als Geld betrachten, ist nicht, dass sie das wollen, sondern, dass sie es müssen. Diese moderne Sicht der Zeit ist nicht von der Lohnbeziehung zu lösen, der Notwendigkeit, seine Zeit zu verkaufen, die – so gebräuchlich und unumstritten sie heute erscheint – so historisch spezifisch ist wie jede andere Methode zur Bewertung von Arbeit und Existenz.
Dass es historisch spezifisch ist, also nicht naturgegeben und keine menschliche Kontinuität, dass wir Zeit als Geld betrachten und Lohnarbeit eine derartige zentrale Bedeutung hat und so viel Zeit beansprucht, ist ein sehr, sehr interessanter Punkt, wie ich finde. Über die kulturelle Prägung im Umgang mit Zeit würde ich gerne noch ein wenig weiter schreiben. Aber ich muss jetzt nach der Bolognese sehen, und werde in der Zeitzuflucht dieser Woche noch ein wenig darüber nachdenken, was jenseits des durchgetakteten Lebens zu finden sein könnte. Wenn es ein freier Vormittag ist, an dem die Zeit nicht drängt, ist das vielleicht schon alles. Ich bin da ganz bei Dostojewski: "O mein Gott! Eine ganze Stunde der Seligkeit! Ist das etwa wenig, selbst für ein ganzes Menschenleben?"
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