Kleine Fluchten
Ein RauschvonWoLken an der Ostsee
Als ich die Vorhänge zur Seite schiebe, ist der Himmel schwarz. Die Seebrücke von Zinnowitz ist ganz leicht zu erkennen und die Ostsee rauscht leise. Ich stehe im Hotel auf dem obersten Balkon und fühle mich genauso dunkel, wie es um mich herum aussieht. Der Krieg in der Ukraine, eine ungewisse Zukunft und das ewige Grau mit den endlosen Stürmen geben meinem Blues den Rest. Und wie jedes Jahr frage ich mich, ob das zu dieser Jahreszeit immer so ist. Habe ich jedes Jahr aufs Neue diese schwarzen Gedanken, oder kommt es dieses Jahr alles schlimmer und doller? Ich setze das Glas an und spüre, wie der rote Wein Schluck für Schluck, Zentimeter um Zentimeter meine Kehle hinunter rinnt und meine Seele ein bisschen betäubt. Noch ein kleiner Schluck, dann ab ins Bett. Mein Körper fühlt sich sehr schwer an, als ich in die weißen Laken sinke. Hoffentlich bekomme ich nicht ausgerechnet heute meine Periode (Si apre in una nuova finestra) inmitten der weißen Hotelbettwäsche, denke ich noch bevor ich einschlafe und wünsche mir, friedlich zu träumen – und sonnig.
Als unser Kind am nächsten Morgen die Vorhänge aufreißt, bin ich noch nicht wirklich bereit, dem Tag eine Chance zu geben. Vom Bett aus sehe ich den Himmel:
Grau.
Wie.
Immer.
Also schließe ich lieber wieder die Augen.
„Ist der Krieg weg?“, frage ich meinen Mann.
„Nein“, seufzt er.
„ACHTUUUUUUNG!!! Ich kooooommeeeeee!“, schreit das Kind sehr laut und springt mit einem beachtlichen Wums und vor allem sehr treffsicher in unsere Mitte. Erschrocken reiße ich doch mal meine Augen auf und entdecke jetzt was echt Verrücktes: „Ich glaube, die Sonne kommt raus. Kann das sein?“ Zwischen den Wolken hat sich ein winziger Schlitz gebildet, als würde die Sonne sich ihren Weg bahnen. Ich beschloss noch ein bisschen in den Himmel zu schauen und Wolken gucken zu üben, das habe ich lange nicht gemacht.
Wolken gucken
Wolken spielten in meinem Leben schon oft eine entscheidende Rolle. Meistens waren es für meinen Geschmack zu viele, aber ich habe verstanden, wie gut sie tun können. Mal davon abgesehen, dass ich während unserer Corona-Infektion (Si apre in una nuova finestra) so viele Wolken geschaut habe, wie schon lange nicht mehr, hat mich genau das „Wolkengucken“ einst aus einer beginnenden Depression geholt. Ich steckte mitten in einer sogenannten Anpassungsstörung. Angst, Sorge, Trauer, Bedrängnis, Ärger, Verbitterung, waren Teil meines Alltags. Ich wusste nicht weiter und weinte (zu) viel. Aber der Therapeut rettete mich irgendwie und bestätige, dass ich rechtzeitig zu ihm gekommen war, bevor es schlimmer wurde. Nachdem wir beschlossen hatten, dass wir es gemeinsam versuchen würden, sagte er etwas, das ich nie vergessen werde: „Wenn wir hier fertig sind, Frau Arnold, dann schaffen sie es, eine Stunde lang in die Wolken zu gucken. Und dabei machen sie nichts anderes.“ Ich brach in Tränen aus, das war undenkbar. Ich wusste genau, das kann ich nicht. Bis heute fällt es mir schwer, aber der Blick in den aufreißenden Himmel über der Ostsee erinnerte mich daran. Vor allem, weil ich ein ganzes Wochenende Zeit hatte. Wo ließe es sich besser Wolken gucken als am Meer?
Wolkenmassen
Schon auf dem Weg nahm ich mir vor, genauestens alle Wolken anzuschauen und zu fotografieren. Dieses Vorhaben gestaltete sich etwas schwierig, denn es waren weniger Wolken, mehr das bereits erwähnte Dauergrau. Aber immerhin in verschiedenen hellen und dunklen Farbnuancen, mal, als würde es sich gleich auflösen und mal mit dicken Regentropfen, die aus einer noch dickeren grauen Masse herausquollen.
Bis nach Koserow wollten wir am Meer entlanglaufen und dann von dort mit der Bahn wieder zurückfahren. Frisch gefrühstückt schwangen wir unsere Hintern an den Strand und betraten den weichen Ostseesand. Er knirscht ein bisschen unter den Füßen, anders als Schnee mit mehr Reibung. Als könnte man so noch die Reste der Muscheln erahnen, aus denen der Sand sich in vielen Jahren herausgerieben hat. Die Farbe ist einmalig, nirgendwo anders habe ich solch hellen, knirschenden Sand erlebt wie hier. Aber auch das Meer ist besonders, ich finde. Es sieht immer irgendwie kalt aus. Selbst wenn man im Sommer einige warme Tage erwischt, ist die Ostsee für mich ein Eismeer. Ich bekomme den Gedanken nicht aus dem Kopf. Grau und kühl führt sie immer weiter Richtung Norden, Richtung Eis und Richtung Osten. Der Krieg fällt mir wieder ein und ich bleibe stehen, schaue aufs Meer und nach rechts und frage mich, wie viele Menschen dort in Angst und Schrecken sind, während ich unbedarft am Meer entlang latsche. Der Gedanke bedrückt mich so lange, bis ein langgezogenes „Maaaaaaaamaaaaaaaaaa, guck mal“, an mein Ohr dringt und mich aus meinen trüben Gedanken reißt.
Keine Wolken
Mein Mädchen kommt aufgeregt auf mich zu gerannt und hat die Hände voller Muscheln: winzig kleine, große dünne, alle irgendwie angeditscht, alle anders, aber alle schön. „Ach, die meisten sind kaputt. Ich schmeiße sie weg“, sagt sie traurig und ich schüttele den Kopf. „Nein, wir behalten alle. Sie sind wunderschön, genauso unterschiedlich wie sie sind. Wie wir Menschen, alle haben ihre Sorgen und trüben Gedanken, wie die Muscheln, aber alle sind wir besonders und sehr schön.“ Das Kind guckt mich ein bisschen verdutzt an und lacht über meine philosophischen Ausbrüche. „Ach Mama, guck mal hoch, die Wolken sind fast weg.“ Tatsächlich, der Nordwind pustet alles Richtung Berlin, bald werde ich ganz erleuchtet, denke ich schmunzelnd. „Wo soll ich die Muscheln hinpacken?“, werde ich gefragt. „Steck sie bei Papa in den Rucksack“, flüstere ich ihr ins Ohr und muss lachen. Sie flitzt los und ich stehe da und schaue immer zwischen Meer und Himmel hin und her. Ich war kürzlich in einer Ausstellung mit dem schönen Namen „Songs of the Sky (Si apre in una nuova finestra)“. Ganz grob gesagt, geht es um Wolken ;) und was die mit unseren digitalen Clouds gemeinsam haben. Die Ausstellung beginnt mit der Faszination von Wolken, die Menschen schon immer hatten. Ein Blick in den Himmel und man sieht die verrücktesten Gebilde, Gemälde, Gesichter, Tiere. Ein wunderbares Spiel mit der Fantasie und so meditativ wie kaum etwas anderes. Wolkenraten nennen wir es.
Alles speichern wir im digitalen Himmel ab und all diese Daten werden vielleicht von großen Unternehmen für kommerzielle Zwecke verkauft, aufgekauft, was auch immer. Die Ausstellung stellt die Frage, ob nicht die technische Cloud mit ihrem enormen CO2-Fußabdruck die Erderwärmung so vorantreiben wird, dass wir in Zukunft nur noch selten vielgestaltige Wolkenwesen über den Himmel wandern sehen? Daran denke ich, während ich in den Himmel schauend weiter laufe. Wie schön diese kleine Flucht aus dem Alltag ist. Da erwischt mich fast eine Welle, ich springe zur Seite, stolpere, falle hin. Ich höre meine Familie lachen und meine Tochter schreien „ich komme schon Mama“. Und in dem Moment schmeißt sie sich auf mich. Wir rollen durch den Sand und bleiben dann auf dem Rücken liegen. „Siehst du die Sonne?“, werde ich gefragt.
„Ja klar, sehe ich die Sonne.“
„Nein, ich meine die Wolke da, die wie die Sonne aussieht.“
Jetzt sehe ich sie und sie schiebt sich sogar vor die echte Sonne. Ich sage „Sonne auf Sonne“ bedeutet Schatten und springe auf und renne am Strand entlang bis mir die Puste ausgeht. Ich schreie dabei wie eine Irre aufs Meer hinaus. Gut, dass zwischen Zempin und Koserow sehr wenig Menschen unterwegs sind.
Als ich meinen Weg fortsetze, entdecke ich im Sand einen Stein mit Loch. „Ein Hühnergott“, sage ich sehr laut. Ein alter slawischer Volksglaube sagt, sie beschützen vor bösen Geistern. Vielleicht hat das Loch auch jemand reingebohrt, dann werde ich bestimmt nicht beschützt, sondern bin eher verflucht. Sofort ärgere ich mich über meine negativen Gedanken, anstatt ich mich freue. Ich muss lachen und schaue in den Himmel, blau. Sehr blau, noch blauer, keine Wolken mehr. Klarer Blick. Ich stecke den Stein meinem Mädchen in die Tasche, „der beschützt dich vor bösen Gedanken“ sage ich ihr und dann setze ich ein bisschen leichter und lebendig einen Fuß vor den anderen.
Helen
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PS: Kleine Geschichte aus der S-Bahn
Schenkelklavier
Er las ein Notenheft wie andere die Zeitung oder ein Buch: Blättert um, wippt mit dem Kopf, lächelt. Und dann beginnt er doch tatsächlich mit den Fingern auf seinem Bein Klavier zu spielen, auf seinem Oberschenkel. Ich kann es direkt klopfen hören. Gezielte rhythmische Schläge auf den Schenkel. Er wandert mit der Hand weiter rum auf seinem Bein, als wäre ein Klavier wie ein Strumpfband drumherum gewickelt. Als er erneut umblättert erhasche ich einen schnellen Blick: „SCHUMANN, Fantasiestücke, Opus 12“ steht drauf. Ich habe keine Ahnung. Aber der junge Mann da gegenüber in der Bahn fasziniert mich. Jetzt nimmt er das Heft in die Klavierhand und mit der anderen beginnt er in der Luft zu dirigieren. Er ist richtig aufgeregt. Die Locken seiner Frisur wippen fröhlich im Takt. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber seine Augen schauen hochkonzentriert in die Noten. Gerade als ich mich trauen will ihn zu fragen (ja was eigentlich?), steigt er aus. „Auf wiedersehen Herr Schenkelmusiker“, sage ich in Gedanken und wünschte, ich hätte seine Fantasiemusik auch in meinem Kopf.
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Danke Sophie für deinen illustrierten Wolken:
Was siehst du?