Gemeinschaft zwischen Fremden
Ein Rausch wie ein Rave, über ein Wochenende in einer anderen Welt
„Jeder nimmt einen eigenen Schlüssel mit“, war die Ansage, „bevor wir das Haus verlassen.“ Und ich sage: „Ach meint ihr echt, wir kommen alle einzeln zurück?“ Gesagt. Passiert. Zuerst lande ich im Bett, da dämmert es schon. Nik krabbelt zwei Stunden nach mir auf seine Matratze und Sophie schwingt sich erst mitten am Vormittag neben mir in den Kissen.
Zauber des Anfangs
Der ICE steht schon da, als ich am Bahnhof eintreffe. Am Berliner Hauptbahnhof startet mein Wochenende. Wie so oft bei mir, in den Zwischenräumen (Si apre in una nuova finestra) ereignen einen die besten Geschichten. Ich schrieb schon letzte Woche darüber. Kaum steige ich in den ICE Richtung Ruhrgebiet, überschlagen sich die Ereignisse. Erst sitze ich im falschen Zugteil, werde beinahe abgekoppelt, springe rechtzeitig nach vorne und ergattere mit „Ach und Krach“ ein Plätzchen im Coworking Space des Bordbistros. Hier haben sie sich versammelt – solche wie ich – die sich für wichtig halten und auf Reisen ihre Äpfel auspacken und in die Tasten hauen.
Aber was soll ich sagen, ich gehöre dazu. An meinem Tisch sitzen drei Leute mit aufgeschlagenen Laptops. Drei Leute haben Kopfhörer auf den Ohren und vor einer Person liegen sogar zwei Handys. Sie telefoniert und gestikuliert wild mit den Armen und rollt genervt mit den Augen. Ich atme tief den Duft meines Kaffees ein, bevor ich die letzten Zeilen eines Interviews tippe.
Etwas lenkt mich ab. Die schimpfende Lady am Fenster spricht über Ticketverkäufe, meckert über die Allüren von DJs und bittet jemanden, nach der Veranstaltung heute Abend eine geheime Tür aufzuschließen. Der Versuch, mich zu konzentrieren, scheitert kläglich und meine Öhrchen werden immer länger. Ich wage einen Blick zu ihr und sehe ein Schlüsselband mit dem Logo der „Ruhrtriennale“ aus ihrer Tasche hängen. Habe ich es doch geahnt. Genau da fahre ich hin und zur dazugehörigen finalen Veranstaltung der zweimonatigen Kunstausstellung im Ruhrgebiet, der „Respublika“. Ich besuche Sophie (Si apre in una nuova finestra), wie schon im vergangenen Herbst – aber diesmal aus einem anderen Grund. Denn Sophie ist Teil der „Ruhrtriennale“.
Gut zugehört
Als nur noch zwei Leute an unserem Tisch im Bordbistro übrig sind, rutsche ich an Fenster und sitze jetzt gegenüber der Telefon-Lady, ich enttarne mich. Kurz darauf stoßen wir auf diesen wundervollen Zufall an und ich steige beschwipst aus der Bahn. Am Samstagabend treffen wir wieder aufeinander, wieder zwischen den Welten – im Flur an der Garderobe.
Der Rausch des Wochenendes startet im Ohr, bei einer Audio-Vinothek in einer der historischen Spielstätten der Triennale. Die Intendantin des Festivals Barbara Frey nennt die Industriegiganten zwischen Essen, Bochum, Duisburg und Gladbeck Geister. Im spektakulärsten Geist gibt es morgen die „Respublika“, heute geht es für mich noch ein wenig ruhiger zu. Die „Intime Revolution“ ist in jeglicher Hinsicht ein besonderes Hörerlebnis. Die Vinothek STÜH33 befindet sich in Bochum, in einem ehemaligen Magazin einer Eisenhütte. Die Stimmung flirrt, die Gäste wissen nicht, was sie erwartet. Und auch das Menü offenbar nicht viel: Es gibt Getränke und Geschichten. Geschichten über Sex. Es geht um Begehren und was wir bei Körperlichkeiten emotional erleben. Serviert wurden dann Wein und Kopfhörer mit Stimmen, die über ihre Sexualität sprechen, ihre Erfahrungen teilen und uns an Erlebnisse mit den Körpern anderer Menschen mitfühlen lassen. Einige Sätze sind mir in Erinnerung geblieben:
❤︎ Fragt auch mal danach, wie der Sex wirklich war, wer wen zuerst geküsst oder angefasst hat.
❤︎ Nach meinem Tod muss mein Nachttisch versiegelt und vernichtet werden, keiner soll sehen, was da drinnen ist.
❤︎ Ich mag es anständig ausschweifend.
❤︎ Kommunikation über Sex müssen wir lernen.
❤︎ Ich suche den Rausch.
❤︎ Ich finde es blöd keinen Orgasmus zu haben.
❤︎ Sex ist für mich die größte intime Öffnung.
❤︎ Man sollte unbedingt mit guten Freund*innen ins Bett gehen. Verletzt werden kann man immer und überall.
❤︎ Ich bin eine mittelalte Baby-Queer.
❤︎ Meine Suche nach Nähe ist triebhaft.
Ich lasse das mal kommentarlos stehen und erzähle weiter:
Des Nachtens traf unser gemeinsamer Freund Nik zu unserer kleinen Runde. Wir schliefen ins Sophies Ein-Zimmer-Wohnung und kamen uns vor wie im Ferienlager. Wir kicherten, quatschten und kommentierten die Geräusche unseres Schlafes. Und dann gab es etwas ganz Wunderbares: Ein gemeinsames Frühstück. So schön. Ich liebe Frühstück. Zu Hause frühstücke ich stundenlang mit meiner Familie, also mehr mit meinem Mann, weil das Mädchen natürlich irgendwann genug gelabert und gelesen hat und sich in ihr Zimmer zurückzieht. Aber hier saß ich mit Sophie und Nik und wir hatten uns so viel zu erzählen, dass wir beinahe die Zeit vergaßen. Es ist schade, wie selten wir uns Zeit nehmen, die Zeit zu vergessen.
Szenenwechsel: Ein kleines Waldstück. Viele Birken stehen aneinandergereiht und das erste Herbstlaub weht durch die Luft. Wir schreiten die Treppe zur Jahrhunderthalle in Bochum hinunter. Die Geschichte dieser Halle ist alt und beginnt im Jahr 1902. Einst gebaut für eine „kleine Weltausstellung“ in Düsseldorf, diente sie als Ausstellungshalle. Im darauffolgenden Winter wurde die monumentale Stahlkonstruktion vom Rhein an die Ruhr transportiert und nahm im Herzen des Stahlwerks ihre Funktion als Gaskraftzentrale auf. Über 60 Jahre versorgte dieses Herz das Werk und die umliegenden Siedlungen mit Energie. Eine Energie, die ich auch jetzt noch spüre. Bedacht schreite ich mehr durch den Eingangsbereich, als das ich gehe und staune über die massive Konstruktion. Mehr als 100 Jahre später ist die Halle denkmalgeschützt und schon in der zweiten Saison dient sie der Ruhrtriennale als „Montagehalle für die Kunst“. Groß und rot leuchtet es im Inneren und ich kann gar nicht gleich erfassen, was vor mir zu sehen ist. Ich fühle die Hitze und die Magie dieses Ortes und eine Unruhe packt mich, die mir sagt, hier passiert heute etwas Besonderes
Aufgeregt schaue ich mich in der Halle um. Verschiedene Orte sind unterschiedliche Spielstätten. Ich wusste, was passieren würde, aber nicht wie es genau geschehen sollte. Die „Respublika“ ist eine Mischung aus Schauspiel und Tanz. Kaum möglich sich darunter etwas vorzustellen. Alle sollten Teilnehmende sein. Teilnehmende eines großen Theaterstückes mit Musik. Je nachdem, an welchem Ort ich mich aufhielt, wenn dort zum Beispiel gerade gespielt wurde, war ich vielleicht ein Teil der Aufführung.
Die zentrale Frage: Wie könnte eine gerechtere Welt aussehen, wie lässt sie sich gestalten? Ich weiß nicht ob ich das erkannte in dieser Nacht. Aber ich entdeckte die Faszination für Rave wieder und erinnerte mich an wilde Zeiten bei der Berliner Loveparade, als ich noch ein Teenager war. Und genau damit entstand dann dieses Gemeinschaftsgefühl, zwischen vielen Fremden. Meine Partybegleitungen und ich verloren uns immer wieder in der riesigen Halle, aber ich fühlte Nähe. Nicht zuletzt auch, weil ich die Sofas auf der Panorama-Terrasse liebte, sie übten aus vielerlei Gründen eine ganz besondere Anziehungskraft auf mich aus. Ich mag es nämlich sehr zwischen vielen Ruhe zu finden, die Leute anzuschauen, wegzudämmern, an einem Drink zu schlürfen und inmitten von allen ein bisschen allein zu sein. Zu Hause allein sein finde ich schwerer als in der Anonymität einer Party.
Es gab eine Küche, in der man sitzen und trinken konnte, ein Spaceship für die intimen Dinge dazwischen, eine Sauna und eine Rave-Cave, natürlich ein Wohn-und Schlafzimmer. In all diesen „Räumen“ wurde das Stück aufgeführt. Gleichzeitig wurde es gefilmt und die Teilnehmenden konnten es auf der Leinwand an der Tanzfläche sehen. In den Umbaupausen gab es Rave. Dann stand eine*r oder Protagonist*in am Mischpult und die Beats durchdrangen die Körper aller. Techno, Film, Schauspiel und Kunst verbanden sich so zu einer eigenen Welt und ich war ein Teil dessen. So saß ich in der Sauna und traf auf Menschen, die mir bekannt waren, obwohl fremd. Ich traf jemanden wieder, den ich lange nicht gesehen hatte und staunte, welch andere Wirkung Menschen auf einen haben könne, wenn man sie in einer fremden Umgebung neu entdeckt. Die Person roch wie vor vielen Jahres, als ich meine Nase an ihren Hals schmiegte, und die stimmte klang im Lärm aller zwar dumpf, aber vertraut. Mich faszinieren Gerüche und Geräusche, die sich nie verändern und eine Person stets die Gleiche bleiben lassen, egal wie sie jetzt aussieht. Das Theaterstück ging sechs Stunden und brachte mich zum Nachdenken: über all die Feiernden, die hier zusammenkamen, wieder gingen und zurückkehrten..
Am Ende kam der nachtausfüllende Rave – als Widerstand gegen die Ohnmacht unserer Zeit. Und ja so ähnlich fühlte es sich an, denn die Bässe schlugen zu, prügelten auf mein Gehör und ließen mich gleichzeitig ein bisschen abheben. Zum Finale der „Ruhrtriennale“ gab es hier einen letzten gemeinsamen kollektiven Rausch, wie es im Programmheft steht. Ich war ein Teil dessen. Frei nach dem Motto „Je schrecklicher die Weltlage, umso besser die Party“ gab ich mich hin, tanzte und wütete, verlor die Kontrolle und nahm sie rechtzeitig wieder an, als ich drohte, zu entgleisen nicht mehr aus der Sofaecke aufzutauchen.
Am frühen Morgen, mit der ersten Helligkeit rollte ich mich ins Bett. Nik schlich zwei Stunden später auf seine Matratze und Sophie schlüpfte kurz vor der Mittagsstunde neben mich unter die Decke. Als ich erwachte, wusste ich, ich war kurz ein Teil einer anderen Welt.
Bleibt leicht&lebendig und gebt ruhig mal die Kontrolle ab,
Helen
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