Menschen brauchen Menschen
Drei Stunden verbrachte ich mit dem Fotografen, um eigentlich nur ein vernünftiges Porträt Foto für meine Startseite zu schießen. Drei Stunden aus einem scheinbar anderen Leben. Jetzt kommen wir diesem alten, neuen Leben wieder etwas näher. In Berlin entfällt die Ausgangssperre, die Außengastronomie öffnet und mehrere Menschen dürfen sich treffen. Natürlich alles unter ganz bestimmten hygienischen Voraussetzungen, aber es ist möglich.
Bei meinem Fototermin stand das alles in den Sternen. Es sollte ein kleines Shooting werden, weil ich finanziell noch nicht so auf der Höhe bin, aber es wurde mehr als das. Stefan Wieland hat Fotos von mir gemacht, die ich dachte nicht zu brauchen. Jetzt, wo sie da sind, brauche ich sie auf jeden Fall. Was soll ich nun tun? Ein Porträt sollte es sein. Jetzt sind es viele: sitzend, hüpfend, rennend, ernst, verträumt, wild. Nicht nur Porträts, sondern auch Ganzkörperfotos in verschiedenen Klamotten an unterschiedlichen Orten. Ich weiß nicht genau, ob das normal ist, dass viele gute Bilder entstehen, aber ich war sehr erstaunt. Ich wusste nicht, dass ich so viele Gesichter habe. Mir war schon klar, dass in mir mindestens zwei Seelen schlummern, aber bisher erschien mir meine Visage immer irgendwie gleich.
Zuerst war es komisch in die Kamera zu lachen und den Anweisungen des Fotografen zu folgen, aber wir kamen ins Plauschen und die Situation lockerte sich. Vermutlich ist das auch der Job des Fotografen und seine Kunst, die Leute so zu entspannen, dass sie sich irgendwie hingeben. Aber mich hat es unheimlich fasziniert. So sehr, dass ich am liebsten gleich bei weiteren Shootings Mäuschen spielen möchte. Was ich da über die Menschen erfahren könnte.
Ein Tag am Meer
Vermutlich sind JournalistenInnen und FotografenInnen vom gleichen Schlag Mensch. Als Studentin habe ich ein Praktikum bei einer TV-Zeitschrift gemacht, ich war unheimlich stolz. Traf einige Prominente und war sogar bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises.
Und ich war bei einem Filmdreh, ich sollte ein Interview mit den Hauptdarstellern führen. Dafür musste ich an die Ostsee fahren. An den Ort kann ich mich nicht mehr erinnern. Was mir aber im Gedächtnis blieb: Ich war mit einem Fotografen unterwegs. Also nicht digitale Interviews und Pressebilder, sondern ein richtiger Fotograf. Er holte mich von zu Hause ab und dann fuhren wir drei Stunden zusammen ans Meer. Im Auto erzählten wir uns viel. Ein geschlossener Raum, zwei Menschen, die ihren Job lieben. Wir verbrachten den Tag zusammen am Strand.
Das klingt jetzt romantisch, aber es war sehr professionell. Denn er machte Fotos und ich stellte meine Fragen. Nach einer gemeinsamen Mittagspause am Strand und einem Spaziergang im seichten Wasser waren wir beinahe Freunde (zumindest für diesen einen Tag). Auf dem Rückweg quatschten wir wieder die ganze Fahrt und wurden uns immer vertrauter. Wir sprachen über Familie und Freunde, über unsere (nicht) vorhandenen Beziehungen. Wir vertrauten uns unsere Geheimnisse an. Er fuhr mich nach Hause und ich sah ihn genau nur noch einmal, als er für einen Kaffee in die Redaktion kam und seine Rechnung vorbeibrachte.
Sehnsucht nach Geselligkeit
Das war irre, wir hatten einen unheimlichen, ich möchte fast schreiben, intimen Tag und das war es. Aber das macht genau den Zauber aus. Diese Menschen, die gleiche Interessen und Bedürfnisse haben. Das Bedürfnis nach Nähe und anderen. Wie bei meinem Fototermin. Erst war es fremd, dann vertraut. Vielleicht lag es auch an der generellen Sehnsucht nach Menschen, die wir im vergangenen Jahr so geschürt haben.
In der NDR Talkshow (Si apre in una nuova finestra) letzte Woche war Nora Tschirner zu Gast. Sie hat eine WG gegründet, weil sie nach einer überstandenen Depression gemerkt hat, wie sehr wir Menschen andere Menschen brauchen. Sie erklärte:
„Jede andere Tierart, die auch aus einer sozialen Gruppe besteht, denkt sich doch: Dafür, das die Menschen so ein krasses Gehirn haben, stehen sie aber ganz schön auf dem Schlauch. Wir sind DNA mäßig schon Leute, die in einer Horde um ein Feuer sitzen. Wir sind immer noch Tiere, die in Gruppen besser funktionieren.“
Wer zu viel alleine ist, bekommt Depressionen. Auch der Sänger Wincent Weiss, zu Gast in der gleichen Runde, litt an Depressionen. Er füllt riesige Hallen und kommt dann alleine nach Hause. Irgendwann wollte er morgens nicht mehr aufstehen. Meine Tochter, übrigens Fan des guten jungen Mannes, wollte ihn gleich zu uns einladen. „Wir haben doch noch ein Bett frei, Mama.“, stellte sie fachmännisch fest. Ja, dachte ich, bei uns könnte er nicht liegen bleiben. Spätes, wenn er den Duft frischer Brötchen (Si apre in una nuova finestra) in die Nase bekommt, steht jeder auf.
Alle sind einsamer geworden
Im Corona-Jahr waren wir alle viel mehr alleine. Wer bis dahin noch nie Depressionen hatte, bekam mindestens eine kleine Anpassungsstörung. Wir müssen dagegen dringend etwas unternehmen. Ich merkte es bei meinem Fototermin. Ich hatte offensichtlich so nach Geselligkeit gelechzt, dass meine Bilder eine ganz andere Dynamik bekamen und ich mich kaum wieder erkannte. Aber das hatte auch etwas Gutes, so hab ich mich doch von einer anderen neuen Seite kennengelernt. Es war ein fantastischer Vormittag, der meine Seele gestreichelt hat.
Am liebsten hätte ich den Herrn Fotografen und seine gleich dazu Freundin zum Dinner zu uns nach Hause eingeladen, wir haben gerne Gäste und neue Menschen sind zurzeit rar. Meine Geselligkeit und meine Gastfreundschaft kennt keine Grenzen, immer schon hatte ich gerne Leute um mich herum. Mein Mann teilt diese Leidenschaft, welch Glück.
Aber noch müssen wir uns ein bisschen gedulden, noch sind zu wenig geimpft. Obwohl ein Anfang gemacht ist. Ein Freund schrieb mir kürzlich eine Nachricht: „Halte durch liebe Helen, es ist bestimmt bald geschafft. Versuche, die Schritte in die richtige Richtung wahrzunehmen und freue dich auf ein bisschen mehr Normalität. Und dann grillen wir mal wieder gemeinsam.“ Mein Herz ging auf und ich sah mich schon mit der versammelten Nachbarschaft auf der Straße Bierbänke aufbauen. Bald, bald, denke ich und weiß es wir doch noch dauern.
Aber ab Freitag dürfen sich in Berlin wieder zwei Haushalte treffen. Und dann machen wir tolle Fotos, damit wir die neuen und alten Gesichter nicht vergessen und uns erinnern können.
Bleibt leicht&lebendig, Eure Heli