26.02.2021 Prozess: Irakischer Kindersoldat seit 2017 in deutscher Untersuchungshaft
15-jähriger soll bei Hinrichtung des IS in Mossul geholfen haben
Im Podcast hört ihr auch die Anwälte Abbas´ und den Leiter der Jugendstrafanstalt Berlin:
Abbas, inzwischen 21 Jahre alt, ist der mutmaßlich am längsten in Untersuchungshaft einsitzende junge Mann in der Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin. Jetzt ist er ein "Fall" für den UN-Ausschuss für Kinderrechte in Genf.
Seit Mai 2017 sitzt Abbas in Untersuchungshaft. Er ist Iraker und kommt aus Mossul. Nach der Eroberung der Stadt durch den IS sollen er und sein Vater an der Hinrichtung eines hohen früheren Polizeioffiziers als Mitglieder der islamistischen Terrororganisation teilgenommen haben. Ende Oktober 2014 sollen Raad A. (45) und sein Sohn Abbas (heute: 21) an der Erschießung des gefangenen Polizeifunktionärs maskiert mitgewirkt haben. Abbas, damals 15 Jahre alt, soll vor der Erschießung den Gefangenen beschimpft und bespuckt haben. Ihm wird u.a. Behilfe zum Mord vorgeworfen. Der Fall wird seit über zwei Jahren vor dem Berliner Kammergericht verhandelt. Das deutsche Jugendstrafrecht soll bestrafen, aber auch erzieherisch wirken, um gerade junge Menschen (wieder) in die Gesellschaft integrieren zu können. Abbas gilt nach internationalem Recht als Kindersoldat. Jetzt droht, noch vor dem Urteil in Berlin wegen Mitgliedschaft im IS und Beihilfe zum Mord seine Abschiebung in den Irak.
Gerichtsreporter Morling recherchierte monatelang. Er schildert, wie Deutschland, die Ermittler und die Justiz mit diesem Kindersoldaten und mutmaßlichem IS-Mitglied umgehen.
Die gesonderte Behandlung von Jugendlichen in der Strafjustiz hat in Deutschland eine über 80 Jahre lange Tradition, in seinen Grundzügen hat sich das Jugendgerichtsgesetz seit 1923 jedoch nicht geändert: Erziehung statt Strafe und nicht durch Strafe.
Ende Oktober 2014. Der Himmel ist grau über der zweitgrößten Millionenstadt des Iraks: Mossul. Ein Konvoi von schwer bewaffneten Islamisten läuft vermummt durch die Straßen zum Quassem-al-Khayat-Platz. Dort bleiben die neun maskierten Islamisten stehen, in ihrer Mitte ein Mann in weißem Gewand, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Er war vor der Machtergreifung des IS in Mossul der Chef einer paramilitärischen Einheit der Polizei. Plötzlich tritt ein Junge in rotem Pullover auf den Gefesselten zu: Abbas, damals 15...
In Deutschland werden Abbas Vater und er als mutmaßliche IS-Kämpfer gefasst. Inzwischen sind sie hier Flüchtlingw. Für Abbas gilt das Jugendgerichtsgesetz, da er zur Tatzeit 15 Jahre alt gewesen sein soll. Als das Gesetz vor fast genau 98 Jahren als "Reichsjugendgerichtsgesetz" in Kraft trat, wurde "Erziehung" der noch "unfertigen" Erwachsenen groß geschrieben. Deutschland war ein Vorreiter in Europa im Jahr 1923. Jugendliche wurden mit 14, statt wie bisher mit 12, strafmündig. Bis zum Alter von 18 konnte verurteilt werden 1 Mit dem Gesetz von 1923 wurde die Strafmündigkeit auf 14 Jahre (zuvor 12 Jahre) heraufgesetzt, das Gesetz galt für Jugendliche bis 18 Jahre, es gab Bewährungsstrafen. Gustav Radbruch war damals Justizminister. Es gab Jugendgerichte und der Erziehung verschriebenen Jugendhaftanstalten. Nicht mehr Rache und Sühne sollten im Vollzug einer Strafe im Vordergrund stehen, sondern Erziehung...
Zumindest für Jugendliche sollten nicht mehr Rache und Sühne im Mittelpunkt der Strafpraxis stehen, sondern Erziehung.
Wie ist das mit Abbas, fast 100 Jahre nach den ersten Neuerungen des JGG (Jugendgerichtsgesetzes)? Wo wurde in den knapp vier Jahren seiner Untersuchungshaft versucht, ihn zu erziehen, wieder "gesellschaftsfähig" zu machen? Wurde versucht, aus einem mutmaßlichen Islamisten des IS einen jungen Mann zu machen, der die universellen Menschenrechte achtet?
Die Bundesrepublik ist bestrebt, Abbas selbst ohne gerichtlichen Schuldspruchs aus Deutschland herauszubekommen. Das Berliner Verwaltungsgericht untersagte in Eilentscheidungen bish er seine Abschiebung.
https://openjur.de/u/2252796.html (Si apre in una nuova finestra)Abbas war im Irak Kindersoldat beim IS. Sein Wirken für den IS erfüllt die international geltenden Normen der Kinderrechtskonvention von 1989. Im "Deutschne Bündnis Kindersoldaten" ist u.a. die Kindernothilfe, Unicef, Missio, Plan, Amnesty International und Terre des Hommes (TdH) zusammengeschlossen. Ralf Willinger von TdH sagt im "Bericht Kindersoldaten 2019" über die Einhaltung der Kinderrechte in Deutschland:
»15 Jahre nach der Ratifizierung des Zusatzprotokolls ist die deutsche Bilanz angesichts der Auswirkungen von Rekrutierung auf die betroffenen Kinder katastrophal«, sagte Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte von terre des hommes. »Die zentralen Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes an Deutschland werden immer noch nicht umgesetzt – im Gegenteil, die Situation hat sich weiter verschlechtert...Offensichtliche Defizite gibt es beim Schutz geflüchteter Kindersoldaten und -soldatinnen aus Kriegsländern wie Afghanistan oder Somalia. »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verweigerte ehemaligen Kindersoldaten aus Somalia mehrfach die Anerkennung als Flüchtling mit dem Argument, in Somalia sei jedes Kind von Rekrutierung bedroht, deshalb handele es sich nicht um individuelle Verfolgung. Ein unzulässiges Argument, denn damit wird die besonders hohe Bedrohungslage den Kindern zum Nachteil ausgelegt«, kritisierte Ralf Willinger. »Dabei ist bekannt, dass ehemalige Kindersoldaten in Somalia sowohl von gegnerischen bewaffneten Gruppen als auch von ihren eigenen ehemaligen Gruppen mit dem Tod bedroht oder getötet werden.«
"Deutsches Bündnis Kindersoldaten" (Sprecherorganisationen: Kindernothilfe, Terre des hommes) im Internet:
http://www.kindersoldaten.info/ (Si apre in una nuova finestra)2019: Schattenbericht "Kindersoldaten" (PDF)
https://www.tdh.de/fileadmin/user_upload/inhalte/04_Was_wir_tun/Themen/Weitere_Themen/Kindersoldaten/2019-11_Schattenbericht-Kindersoldaten.pdf (Si apre in una nuova finestra)Im November 2020 versenden die Kinderhilfsorganisationen, die den "Schattenbericht Kindersoldaten" verfassen, ihre jährliche Aktualisierung an die UN. Erstmals wird das Verfahren gegen Abbas vor dem Berliner Kammergericht direkt erwähnt. Es wird diplomatisch formuliert:
"Insbesondere wenn Kinder freiwillig oder nicht, in terroristischen Organisationen oder an terroristischen Verbrechen teilgenommen haben, besteht in diesen Fällen das Risiko, dass bei der Strafverfolgung die Kinderrechte in den Hintergrund treten, wie auch ein anderer Fall zeigen könnte." (Eigenübersetzung U.M.):
"Particularly, if children, voluntarily or not, have participated in terrorist organisations oder terrorist crimes, there is an inherent risk that, when prosecuted, child rights are pushed into the background, as also another case may indicate."
Die Kinderrechtler nehmen Bezug auf einen Artikel des Berliner Tagesspiegels vom Prozessauftakt gegen Abbas und seinen Vater.
Schattenbericht (Original):
"Here, General Comment No. 10 of the UN Convention on the Rights of the Child106 specifies that alternatives to criminal persecution should be considered. The Optional Protocol also aims to facilitate the physical and psychological recovery and social reintegration of child soldiers (Art. 6 Para. 3 OP). When child soldiers have not only experienced serious crimes, but have also been forced to commit them, they should be supported in actively dealing with their role as a victim and also as a perpetrator, e.g. through trauma therapy. The latter is important for reintegration, even from the perspective of their victims and family members. Such a discerning approach should be incorporated into transitional justice efforts even in German exile."
"Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in Deutschland wird regelmäßig vom UN-Ausschuss für die Rechte von Kindern geprüft. Als Grundlage für die Prüfung dient ein sogenannter Staatenbericht, den die Regierung verfassen und beim Ausschuss einreichen muss. Derzeit findet das vierte Staatenberichtsverfahren statt; die Überprüfung ist 2019 gestartet und dauert voraussichtlich bis Ende 2021." schreibt das "Deutsche Institut für Menschenrechte" auf seiner Homepage.
https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/monitoring-stelle-un-krk/staatenberichtsverfahren (Si apre in una nuova finestra)Kinderrechtskonvention der UN vom 20.November 1989
https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortlaut/ (Si apre in una nuova finestra)Warum Kinderrechte ins Grundgesetz?
Deutsches Kinderhilfswerk:
"c. Bessere Umsetzung der Kinderrechte in Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verwaltung: Wenn die Kinderrechte ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen werden, werden Maßnahmen frühzeitig im Gesetzesanwendungsprozess - sei es bei einer gerichtlichen Entscheidung, bei Gesetzgebungsprozessen auf verschiedenen Ebenen und in Verwaltungsprozessen – die Konsequenzen für die kindlichen Interessen beachten und Kinder stärker als bisher beteiligen.
Auch bei gerichtlichen Entscheidungen in unteren Instanzen müssten sich Gerichte an den in der Verfassung verankerten Grundrechten der Kinder orientieren und Kinder anhören – etwa bei der Abwägung des Rechtes auf Eigentum und der Grundrechte der Kinder in einem Bebauungsplanverfahren z.B. zur Errichtung einer Kindertagesstätte oder von Spielflächen für Kinder. Die Verankerung würde zu mehr Rechtssicherheit führen. Denn bisher bedarf es einer komplizierten Herleitung, um die Kinderrechte in das GG hineinzulesen. Das wird von Gesetzesanwenderinnen und Gesetzesanwendern oft nicht getan. Die Rechte der Kinder würden im Falle von Verletzungen auch bereits in unteren Instanzen besser durchgesetzbar und es würde nicht erst einer Klage bis zum Bundesverfassungsgericht bedürfen – eine deutliche Stärkung der Umsetzung von Kinderrechten in Deutschland."
https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/kinderrechte-ins-grundgesetz/ (Si apre in una nuova finestra)Spenden:
Terre des hommes:
Sparkasse Osnabrück
IBAN: DE34 2655 0105 0000 0111 22
BIC: NOLADE22XXX
terre des hommes ist durch die Steuernummer 66/270/01407 als gemeinnütziger Verein anerkannt und von der Körperschaftssteuer befreit. Die Umsatzsteuer-Identifikationsnr. lautet DE117646214.
Kindernothilfe e.V.
Bank für Kirche und Diakonie eG (KD-Bank)
IBAN: DE92 3506 0190 0000 4545 40
BIC: GENODED1DKD
Die Kindernothilfe e. V. ist vom Finanzamt Duisburg-Süd als gemeinnützige Organisation von der Körperschaftsteuer befreit (Steuernummer 109/5841/0188).
Schattenbericht Kindersoldaten:
"Der Schattenbericht Kindersoldaten wird direkt in das UN-Berichtsverfahren zur deutschen Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention eingespeist und von terre des hommes, Kindernothilfe und World Vision dem UN-Kinderrechteausschuss in Genf vorgestellt werden. Dieses internationale Expertengremium überprüft regelmäßig die Einhaltung der Konvention und ihrer Zusatzprotokolle und formuliert bei Defiziten Empfehlungen an die Vertragsstaaten.
Kindernothilfe, terre des hommes und World Vision appellieren an die Bundesregierung, die Empfehlungen des UN-Ausschusses an Deutschland endlich ernst zu nehmen und umzusetzen."
Abbas wurde in der vierjährigen Untersuchungshaft (im Mai 2021), in der, wie für jeden Untersuchungshäftling, die Unschuldsvermutung gilt, weder eine Berufsausbildung, noch eine reguläre Schulbildung zu teil, lt. Anstaltsleitung des der Jugendstrafanstalt. Entspricht das noch dem Jugendgerichtsgesetz? Genießt er -neben der Haft als mutmaßlicher IS-Junge- auch die besondere Betreuung als Kindersoldat und Opfer?