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Jenseits von Verdrängung und Defätismus: Die Katastrophe als strategischer Raum

source: NYT

10.10.2024

Liebe Leute,

dass in Florida gerade der zweite Jahrhundertsturm innerhalb von zwei Wochen auf Land trifft, und dazu noch stärker sein wird, als der Hurrikan Helene, der gerade erst erhebliche Teile des Südostens der USA unter Wasser setzte, ist Teil dessen, was ich als einen Kipppunkt in unserer Wahrnehmung erlebe (Events in den USA haben oft diese Funktion, hat mit kultureller US-Hegemonie und der rohen Anzahl von Kameras und Newschannels zu tun): es scheint zunehmend Konsens unter informierten Klimas zu sein, dass wir trotz des Endes von El Nino weiterhin eine rapide Eskalation von Klimakriseneffekten erleben, die von der EU und der UN als “climate breakdown (Si apre in una nuova finestra)” bezeichnet wird, ergo Klimazusammenbruch, ergo Klimakollaps. Dass wir diese Worte in der deutschen Debatte nicht verwenden, hat viel mit unseren Unsicherheiten und Ängsten zu tun (einem de facto Kollapsbilderverbot), aber auch bisher eher übermäßig optimistische Zentrist*innen beginnen immer mehr, ehrlich mit uns zu kommunizieren.

Halbe Katastrophenakzeptanz

So kommentiert zum Beispiel Luisa Neubauer auf Twix einen realistisch-pessimistischen Öko-Bericht über “35 Lebenszeichen der Erde”, der vor “perilous times”, vor gefährlichen Zeiten warnt, folgendermaßen (Si apre in una nuova finestra): “Ich befürchte, wir machen uns keine Vorstellungen, wie schnell das jetzt gehen wird. Von „Oh, ein Hurricane“, zu: Immer. Ist. Irgendwas. Sturm, Flut, Lieferkettenausfall, Preise steigen, Dürre, Medikamente fürs Kind nicht lieferbar, Wut, Oma hat Hitzeschock, müssen wir wegziehen?“ Well said, Luisa: wir machen uns tatsächlich keine Vorstellungen davon, wie die Katastrophe eigentlich aussieht, wie wir mit ihr umgehen, was wir darin machen, wie wir uns darin verhalten. Wir „machen“ uns keine Vorstellungen, weil wir aktiv daran arbeiten, uns diese Vorstellungen nicht zu machen.

Es gibt nämlich zwei Elemente der Katastrophen- oder Kollapsakzeptanz, wie mir immer klarer wird: erstens, die Akzeptanz, dass die Katastrophe schon passiert, oder mit Sicherheit passieren wird. An dem Punkt scheint mittlerweile auch ein wachsender Teil der in den vergangenen Monaten zunehmend in die Verdrängung abdriftende moderaten Klimabewegung anzukommen, hier repräsentiert durch Luisas Tweet. Dafür Kudos, Akzeptanz ist immer auch ein Stück Arbeit.

Das ist aber nur der erste Teil von echter Kollapsakzeptanz, die hat die selbe Struktur, wie das mit der Klimaakzeptanz: erstens muss ich akzeptieren, dass die Sache stattfindet; zweitens muss ich akzeptieren, dass und wie ich mich deswegen anders verhalten muss. Wie „Kollaps“ und „Katastrophe“ als strategischer Raum aussehen. Deswegen schreibt Sebastian Weiermann dann auch auf Twix: „Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man in dem Raum etwas Positives erreichen kann (Si apre in una nuova finestra).“

Strategie(n) in der Katastrophe

Lieber Sebastian, wir sind Freunde und Genossen, daher hoffe ich, Du verzeihst mir, wenn ich mich an diesem Statement stellvertretend für viele Reaktionen auf die Kollapserzählung abarbeite. Also, zunächst einmal zeugt diese Reaktion von wenig... naja, strategischem und intellektuellen Mut in dieser Situation. Du kannst es Dir schwer vorstellen? Naja, dann streng Dich verfickt nochmal halt an, Rechercheoptionen und gute Beispiele gibt es genug!

Erstens: Ich will jetzt hier nicht den belehrenden Postkolonialen rausholen, aber indigene Bewegungen in den Amerikas agieren seit über fünf Jahrhunderten in einem Raum des Kollaps, nämlich des Kollaps, oder genauer, der Zerstörung ihrer Körper, ihrer Gemeinschaften, ihrer Welten. Von ihnen zu lernen ist heute vermutlich noch viel wichtiger und zentraler, als es damals für uns in den 90ern war, als wir von der postmodern-antikapitalistischen Poesie der Zapatistas so begeistert waren.

Zweitens: ich sprach schon oft davon, aber gerade in Hurrikansituationen, in ungerechten Überschwemmungsereignissen (weil die Armen leben unten, die Reichen oben, in short) können linke und linksradikale Akteure nicht nur die Funktionen eines neoliberal amputierten Staates übernehmen, sie können so Community Power bauen, die im temporären Rückzug der Katastrophe dann gesellschaftliche Handlungsmacht konstituiert.

Drittens: Du weißt ja so gut wie ich, was die Genoss*innen in Griechenland und Argentinien gemacht haben, als ihre Wirtschaft „kollabierte“, als sich der ohnehin schwache argentinische Staat noch mehr aus Umverteilung und Sozialhilfe zurückzog, als der im Kern auch kollabierte – sie bauten riesige comedores populares auf, die in Buenos Aires (wo ich sie 2004, 3 Jahre nach dem Tiefpunkt der Krise noch erleben durfte) und im ganzen Land Millionen von Menschen mit den Nötigsten versorgten, und so viel Elend, Hunger und Tod verhinderten.

Seriously: wie kannst Du sagen, dass das nichts „Positives“ ist? Dementsprechend gefiel mir auch sehr die Antwort, die Dein Post bekam: „Die Vorzeichen sind hier verdreht. Das Positive, was man in dem Raum erreichen kann, ist, dass weniger Schlimmes passiert (Si apre in una nuova finestra).“

Klar, ich verstehe, dass das für uns Linksradikale, deren Ziel es ja nie war, soziale Supportstrukturen einer kapitalistischen Gesellschaft zu sein, erstmal wie ziemlich wenig klingt, aber wenn wir eine realistische politische Analyse anlegen, ist halt im schlimmsten Rechtsruck der BRD-Geschichte und im Kontext überschrittener planetarer Grenzen nicht sehr viel mehr zu holen.

Aber dass es etwas zu holen und zu tun gibt, zeigt mir eine Headline, die ich gerade im Guardian über den Sturm Milton gelesen habe: "US-Notfallteams kämpfen mit Überlastung (Si apre in una nuova finestra), während Klimakrise zu 'beispiellosen' konkurrierenden Katastrophen führt." Das nämlich an Alle Genoss*innen, die mir re: solidarischen Katastrophenschutz sagen „aber dafür gibt’s doch das THW und die Freiwillige Feuerwehr“: na klar gibt’s die, aber in einer eskalierenden Katastrophensituation werden die natürlich überlastet sein, oder habt Ihr etwa nicht mitbekommen, wie schlecht Deutschland auf Katastrophen vorbereitet ist?

Und zuletzt der Reminder: wer sich auf die Katastrophe nicht vorbereiten will, überlässt diesen offenen strategischen Raum den Rechten – und die lieben solche Situationen. I'd rather not give them the satisfaction and success.

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Was ist dann noch Utopie?

Was wir brauchen, um im Raum der Katastrophe strategisch handeln zu können, ist der Mut, unsere Zielvorstellungen anzupassen: globaler, fully automated luxury communism (FALC) für Alle steht halt nicht mehr auf der agenda, dito die globale postfossile Energiewende in die klimagerechte Degrowth-Welt. Aber andere Menschen andernorts kämpfen auch ohne diese pie-in-the-sky Hoffnungen, und wenn die das tun, was wäre es denn von uns für ein eklig-winseliges Herumgememme, jetzt zu sagen „nein, der Raum ist mir zu unangenehm und schwierig, da kann ich nix erreichen, und wenn Du mir sagst, was da Erreichbar ist, sage ich Dir, das sei viel zu wenig“?

Fuck that. Ich seh das mittlerweile so: wir sind zwar in einer schlechten strategischen Situation relativ zu der, in der wir uns noch vor 10, 20 Jahren befanden, aber Andere, andernorts waren in viel, in unvergleichbar schlechteren Situationen, und haben trotzdem gekämpft. Die jüdischen Partisan*innen im Warschauer Ghetto (keine Relativierung: ich vergleiche Unsere heutige Situation nicht mit der damals) zum Beispiel: die lebten in der Hölle, das Ghetto existierte, um jüdisches Leben zu zerstören, es war also die Hölle. Und obwohl sie in der Hölle lebten und wussten, dass ihr Aufstand keine wirkliche Chance auf Erfolg hatte, standen sie mit der Waffe in der Hand auf, und kämpften mehrere Wochen einen aussichtslosen Kampf gegen die Deutschen. Sie wussten, sie würden verlieren, trotzdem schafften sie es, affirmatives, militantes, kämpfendes jüdisches Leben zu schaffen, und das mitten in der Hölle. If they could do that, who are we to whinge, wenn die Situation sich schnell verschlechtert? Aufstehen, Krone richten, weiterkämpfen...

Weiterkämpfen bis...? Bis wann und wohin? Hier hab ich klar meine Utopie angepasst. Ich stell mir jetzt nicht mehr den globalen FALC vor, sondern eine Situation, eine Dystopie, in der die braunen Horden fast ganz Europa übernommen haben, in der sich migrantisch gelesene Menschen, Linke, Queers, Menschen mit Behinderungen verstecken müssen. Wenn in dieser hellscape unsere queeren Selbstverteidigungsbrigaden, die Pink Panthers (Si apre in una nuova finestra), in der Lage sind, irgendwo in den Katakomben Berlins den letzten queeren Club aufzubauen und gegen die anrückenden Faschos zu verteidigen, und so dem letzten 15jährigen auf dieser Welt den letzten schwulen Kuss mit dem letzten 17jährigen zu ermöglichen... dann reicht mir das als „meaning of life“, dann reicht mir das als Ziel für ein erfülltes Leben.

To be sure: wir können in der Katastrophe sehr, sehr viel mehr erreichen und erkämpfen, als nur einen schwulen Kuss irgendwo zu ermöglichen. Aber mein Punkt ist der: alles Gute, was wir erkämpfen können, ist wichtig, denn wenn wir es nicht erkämpfen, nicht erschaffen, wird es dieses Gute nicht geben, in einer Welt, die sonst immer schlechter wird.

Und wenn das nicht als Motivation ausreicht, sich den Raum der Katastrophe als strategischen Raum auszumalen, weiß ich auch nicht: dann glaube ich, dass ihr die seid, die aufgeben wollen. Denn die Agenda ist klar, der Weg ist klar – Du musst Dich nur aufraffen, und anfangen, ihn zu gehen.

Mit reality-adjusted utopischen Grüßen,

Euer Tadzio

p.s.: mehr dazu steht in meinem Buch, dass Ihr natürlich schon vorbestellt habt, und das HEUTE AUS DER DRUCKEREI KOMMT :)

https://www.beck-shop.de/mueller-zwischen-friedlicher-sabotage-kollaps/product/37392986?srsltid=AfmBOooYk38VIzeHU1yu74eMjIwBpT3rtBPUbBvlwf76sMxPlNty-evZ (Si apre in una nuova finestra)
Argomento Klimakampf 2.0

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