Weihnachtspost vom Einheinser
Someday at Christmas men won't be boys
Playing with bombs like kids play with toys
(Stevie Wonder)
150/∞
Good evening, Europe!
Hey, Dezember! Am Ende des anstrengendsten Jahres seit 2023! Einfach alle Menschen, die ich kenne, waren in den letzten Wochen schon komplett am Anschlag, bis diese Formulierung am Freitagabend in Magdeburg eine ganz andere, zutiefst erschütterndere Bedeutung bekam. Als Menschheit sollten wir jetzt eigentlich mal einen Winterschlaf von einem Jahr einlegen. Oder zumindest alle Social-Media-Apps von unseren Smartphones löschen.
Das Weihnachtsfest verhält sich ja zum Kalenderjahr wie der große Kuss am Ende zur romantischen Komödie: wirkt wie ein Abschluss, aber in Wahrheit geht es ja weiter bzw. jetzt erst richtig los und das ist ja der Grund, warum Beziehungen so anstrengend sind und ein Jahr, das in der Neujahrsnacht noch wie eine unberührte Schneedecke glänzte, im Dezember ein riesiger Haufen braun-gelber Matsche ist.
Selbst wenn wir halbwegs entspannt und leichten Herzens Weihnachten feiern können (und ich weiß, dass dieses „wenn“ in vielen Fällen ein verdammt großes ist): Elon Musk, Wladimir Putin, Krebs, Donald Trump, Gianni Infantino, Rupert Murdoch, Kriege, soziale Ungerechtigkeit, Mathias Döpfner, Friede Springer, Social Media, globaler Hunger, Jeff Bezos, Markus Söder, die Klimakrise, Mark Zuckerberg, Rassismus, Christian Lindner, kardiovaskuläre Erkrankungen, Homophobie, Jens Spahn, Misogynie, Alice Weidel, Sahra Wagenknecht, Herzschmerz, Fritze Merz, schlecht zu öffnende Verpackungen, Julian Reichelt, E-Scooter auf Fahrradwegen, Rammstein, das Finanzamt, die grauenhaft schlecht programmierten öffentlich-rechtlichen Mediatheken und all das ganze andere Elend sind ja immer noch da.
Aber auch immer noch da sind ja unsere Lieblingsmenschen, Musik, das Meer, Filme, Bücher, Pizza, Sonnenuntergänge, kleine Kinder, Schnee, Frosties, sternenklare Nächte, Spezi, Giraffen, Marzipan, Fußball, Pommes, absurde Fremdwörter, Kakao, Knutschen, Currywurst, alte Leute im Supermarkt, Lakritz-Schokolade, Sekt, Eichhörnchen, Ratatouille, die Tour de France, Feuerwerk, Gyros-Teller, gute Newsletter und Podcasts, Tiramisu, warme Sommerabende, Chicken Kyiv, Mousse au Chocolat, Schaumbäder, Sex, Zugfahren, Trampoline, Chips, Solidarität, Kartoffelsuppe, Jeff Goldblum, Taylor Swift, Käsekuchen, Fahrtwind, Radler, flauschige Hoodies, Nudeln, Donkey Kong und so viel anderes, was einem Freude bereiten kann.
In den letzten Wochen und Monate war ich wirklich oft schlecht gelaunt: die Weltlage (betrachtet durch das Social-Media-Brennglas), Schicksalsschläge in meinem direkten Umfeld, kurze Tage, grauer Himmel. Es wurde nur etwas besser, wenn ich laute, oft wütende Gitarrenmusik gehört habe (hab ich Euch schon erzählt, wie gut das neue Japandroids-Album ist?) und/oder zum Sport gegangen bin.
Und dann hab ich gestern zum Einschlafen so eine ganz doofe Klassik-Hits-Playlist (Si apre in una nuova finestra) bei Spotify angemacht und war schon bei den ersten Takten von Johann Pachelbels Kanon in D-Dur ganz ruhig und festlich gestimmt. (Gut: Der Kanon wurde natürlich auch so oft zitiert (Si apre in una nuova finestra), dass er wahrscheinlich allen, die in den letzten 100 Jahren mal irgendeine Art von Musik gehört haben, ins Stammhirn und ins Herz tätowiert ist.) Den letzten Text hab ich heute Morgen abgeschickt und jetzt hoffe ich, so langsam zur Ruhe zu kommen.
Es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich kein einziges Weihnachtsgeschenk bei Amazon (Si apre in una nuova finestra) gekauft habe, und das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ich keine einzige Packung von diesen Lebkuchenherzen, -sternen und -brezeln mit Schokoladenüberzug gekauft habe — die hab ich sonst gerne auch schon im September oder gar August gegessen, aber bei den Entwicklungen der Kakaopreise ist Schokolade inzwischen zum Luxusgut (Si apre in una nuova finestra) geworden (mutmaßlich gut für Kakaobauern, Umwelt und die eigene Gesundheit), so dass ich erst für die Feiertage welche kaufen wollte, und dann war der ganze Kram halt schon ausverkauft.
Ich hatte Euch in den letzten Ausgaben dieses Newsletters und bei Instagram um Fragen für ein kleines Q&A gebeten und hier gehen wir:
Wie wird man mit Anstand alt?
Die Frage kann Herbert Grönemeyer vermutlich besser beantworten, aber von seinem Beispiel ausgehend würde ich mal sagen: stabil bleiben und offen bleiben. Und sich mit jungen Leuten austauschen (im Sinne von: zuhören).
Lieblingskonzert der letzten Jahre?
Dieses Jahr wahrscheinlich Maro im Konzerthaus Dortmund. Oder Jimmy Eat World, ein paar Tage nach den Wahlen in den USA und der Beerdigung meiner Tante — laute Gitarren und Tausende Menschen, die gemeinsam Texte voll Selbstzweifel, Trauer, Verzweiflung und Liebe rausbrüllen, waren in diesem Moment genau das, was ich brauchte. (Okay: Eigentlich immer)
Wenn 2021 auch noch zu den „letzten Jahren“ zählt: Thees Uhlmann im Burgtheater Dinslaken. Das erste Konzert nach fast anderthalb Jahren Lockdown, in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, mit meinem Sohn und meinen Eltern — und dann die alten Tomte-Songs. Full circle.
Liebster ESC-Beitrag aller Zeiten (deutsch und insgesamt)?
Deutsch: Jede andere Antwort als „Ein Lied kann eine Brücke sein“ (Si apre in una nuova finestra) wäre Quatsch.
Insgesamt: Paolo Meneguzzi - Era Stupendo (Si apre in una nuova finestra) (Schweiz, 2008; im Halbfinale ausgeschieden, erinnert sich vermutlich niemand mehr dran, war aber der erste ESC-Song, den ich mir bei iTunes gekauft habe!)
Bochum-Nachbarstädteranking mit Begründung?
1. Essen: Das war von Dinslaken aus früher ein Sehnsuchtsort, wohin wir als Teenager die ersten eigenen Ausflüge mit der Bahn unternommen haben, um ins Cinemaxx oder irgendwelche Computerspieleläden zu gehen. Hält sich manchmal für die Hauptstadt des Ruhrgebiets, sieht aber immerhin so ähnlich aus, wie ich mir eine Stadt vorstelle (Hochhäuser in der Innenstadt, schicke Altbauten, groteske Anwesen Richtung Baldeneysee). Und in der Grugahalle (wo - ich weiß nicht, ob Sie’s wussten - schon die Beatles gespielt haben) hab ich Ben Folds, Travis und Blink-182 gesehen.
2. Hattingen: Ein harmloses, kleines Modeleisenbahn-Städtchen direkt vor der Haustür.
3. Dortmund: Institut für Zeitungsforschung, Westfalenstadion, H-Bahn.
4. Herne: Cranger Kirmes (Si apre in una nuova finestra).
5. Castrop-Rauxel: Weiß ich leider nix drüber, außer, dass Dieter Hecking da herkommt. Aber das reicht ja schon: Bester Mann!
6. Witten: Stört nicht weiter.
Was war ein glücklicher Moment dieses Jahr?
Mit meiner Familie am Meer. Ich hatte mir ein Bodyboard gekauft und war zum ersten Mal seit ca. 25 Jahren wieder in den Wellen unterwegs. Hach.
Was ist dein liebstes Weihnachtslied? Und welches dein Hass-Weihnachtslied?
Es ist sehr neu und absurd, aber wie Titus Andronicus aus Billy Joels „Piano Man“ den cleveren, knarzigen Weihnachts-Rocker „Drummer Boy“ (Si apre in una nuova finestra) gemacht haben, das drückt bei mir alle Knöpfe. Mein erstes Lieblingslied überhaupt war aber mit drei, vier Jahren „Tochter Zion“ (Si apre in una nuova finestra) (leider auch ein Titel, der heute in weiten Teilen der „linken“ Kulturszene für extrem eklige Diskussionen sorgen würde).
Mein absolutes Hass-Weihnachtslied ist „Wonderful Christmastime“ (Si apre in una nuova finestra): Nicht nur, dass es ein wirklich banal geschriebener, grauenhaft produzierter Kirmesschlager ist — der Umstand, dass sein Songschreiber und Interpret Paul McCartney ist, der ja nun wirklich einige der besten Songs aller Zeiten geschrieben hat, macht alles noch viel schlimmer.
Hot Take für 2025?
Ich halte wirklich wenig von Vorhersagen und möchte mich für meine naiv-blöde Frage (Si apre in una nuova finestra) „Was, wenn es nicht nur besser wird als befürchtet, sondern sogar richtig gut?“ bei allen entschuldigen, die 2024 miterleben mussten.
Weil ich aber natürlich trotzdem meine Klappe nie halten kann: Ich glaube nicht, dass Fritze Merz Bundeskanzler wird.
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Wie es sich für Cyber-Friday-Single-Christmas-Deals gehört, ist das das Angebot zeitlich begrenzt: Ihr könnt es nur bis einschließlich 6. Januar buchen!
Die anderen Abonnements (Si apre in una nuova finestra) gibt es natürlich weiterhin und ich freue mich sehr über jede Unterstützung!
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Was hast Du veröffentlicht?
Für die Weihnachtsausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ habe ich über die wundersam-grandiosen Tweets geschrieben, die Bob Dylan seit ein paar Monaten über seinen Account absetzt. Noch bis Freitag am Kiosk (und die ganze Ausgabe empfiehlt sich wirklich sehr als Feiertagslektüre)!
Was hast Du gehört?
Bei meiner Lieblings-Talkshow „Fresh Air“ waren Stephen und Evie Colbert zu Gast, um mit Terry Gross über ihr gemeinsames Kochbuch, Stephens Blinddarm-Durchbruch, Eltern und viele andere Dinge zu sprechen (Si apre in una nuova finestra).
2006 hab ich bei Amoeba Music in San Francisco zum ersten Mal eine CD nur wegen ihres Covers gekauft: „Is That The Tralala“ der Indie-Rock-Band Tralala aus Brooklyn. Es war - wie ich erst jetzt erfahre (Si apre in una nuova finestra) - ihr zweites und letztes Album und diese charmante Mischung aus 60’s Girl Group und Garage Rock hat mich damals über Monate und Jahre begleitet. Über Jahre war ihre Musik online nicht verfügbar, aber neulich, als ich überprüfen wollte, wie viele CDs ich eigentlich besitze, die man nicht streamen kann, habe ich festgestellt, dass das Album jetzt doch bei Apple Music (Si apre in una nuova finestra), Spotify (Si apre in una nuova finestra), Amazon Music (Si apre in una nuova finestra), und YouTube Music (Si apre in una nuova finestra) zu hören ist. Und obwohl die CD jahrelang hinter mir unberührt im Regal stand, hab ich das Album in den letzten Wochen ein paar Mal gehört — und sogar einen Song der Band auf meine Weihnachtsplaylist (Si apre in una nuova finestra) gepackt.
Was hast Du gesehen?
Es ist kurz vor Weihnachten — natürlich „Stirb langsam“ (bei Disney+ (Si apre in una nuova finestra) enthalten). Und dann natürlich die Darts WM.
Was hast Du gelesen?
Katy Hessel hat in ihrer Kolumne „The great women's art bulletin“ beim „Guardian“ (Si apre in una nuova finestra) über die Darstellung von Maria (also der „Mutter Gottes“, wie meine katholische Omi immer sagte) in der Kunst geschrieben. Nicht nur, dass über diese (im Kontext von Jesus und Gott) ja durchaus wichtige Frau sehr wenig bekannt ist, in den künstlerischen Darstellungen deutet auch nichts darauf hin, dass sie gerade eine Geburt hinter sich hat, die vor 2000 Jahren sicher noch gefährlicher und anstrengender war als heute mit angemessener medizinischer Versorgung. Es ist ein kurzer, aber faszinierender Text, der einen ganz anders aufs Weihnachtsfest und die Krippe gucken lässt.
Was hat Dir Freude bereitet?
Der VfL Bochum hat tatsächlich sein erstes Saisonspiel gewonnen (Si apre in una nuova finestra)!
https://www.youtube.com/watch?v=g_kj60DIq2M (Si apre in una nuova finestra)Ich danke Euch, dass Ihr meinen Newsletter in diesem Jahr gelesen, geteilt, darauf geantwortet und dafür bezahlt habt! Ich habe das Gefühl, hier zu einer sympathischen kleinen Community zu sprechen, die so viel besser ist als vieles andere im Internet.
Ich wünsche Euch und Euren Lieben ein wundervolles Weihnachtsfest! Und wenn es für Euch eher eine Zeit voller Erwartungsdruck, Stress, Erinnerungen (unschönen oder welche an schöne Zeiten, die nicht mehr sind) und/oder Einsamkeit ist, wünsche ich Euch, dass Ihr sie gut übersteht! Niemand wird vergessen sein!
Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!
Always love, Luki