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Und jeder sitzt allein im Therapieraum – wieso Psychotherapie politisch ist

 

Die Debatte um mentale Gesundheit ist im Mainstream angekommen. Im Jahr 2022 nahmen rund 900.000 Menschen in Österreich das Gesundheitssystem wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch, zwölf Prozent mehr als noch vor vier Jahren. Ob nun psychische Erkrankungen wirklich ansteigen oder schlicht die Behandlungen zunehmen, ist nicht ganz eindeutig. Dennoch zeigt sich ein deutlicher Trend: Es wird endlich mehr über die Notwendigkeit von genügend Therapieplätzen und die Wichtigkeit von mentaler Gesundheit gesprochen. Die Psychotherapie-Ausbildung wurde auf Universitäten ausgeweitet und wenn man sich in einer bestimmten Bubble befindet, hat man das Gefühl, jeder geht in Therapie.

Ich betrachte diese Entwicklung als positiv. Psychotherapie ist eine wichtige Behandlungsform vieler psychischer Krankheiten und es ist notwendig, dass wir in Österreich an einen Punkt kommen, an dem jeder Mensch mit einer mentalen Krankheit einen Therapieplatz bekommt. Um Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, muss man aber nicht krank sein, sie gilt auch als präventiv.

 Trotzdem sehe ich einige Gefahren in den jüngsten Entwicklungen in der Debatte um mentale Gesundheit. „Ich würde nie jemanden daten, der nicht in Therapie geht“, habe ich schon von Bekannten gehört. Auch wenn ich die Grundaussage nachvollziehen kann, finde ich sie kritisch: „in Therapie gehen“ wird schnell gleichgesetzt mit „ein reflektierter Mensch sein“. Wenn wir über Psychotherapie sprechen, müssen wir auch über Klassismus sprechen. Nicht jeder kann es sich leisten, in Psychotherapie zu gehen. Eine Therapiestunde beträgt meist zwischen 50 und 150 Euro, nicht alle Behandlungen werden von der Krankenkasse übernommen. Es ist nicht selbstverständlich, in Therapie zu gehen.

Zweitens, stelle ich mir die noch viel größere Frage: Wie kann es sein, dass wir alle in Therapie müssen? Ist es normal, dass es einem so großen Teil der Bevölkerung nicht gut geht?

„Es ist nicht unbedingt so, dass wir alle krank sind. Aber keiner von uns ist gesund“, das schreiben Beatrice Adler-Bolton und Artie Vierkant. In ihrem Buch „Health Communism“ ermitteln sie, wie kapitalistische Systeme unsere Gesundheit instrumentalisieren. Wenigen geht es wirklich gut, aber Hauptsache es geht den meisten gut genug, um morgens in die Arbeit zu gehen. Unsere Fähigkeit zu arbeiten und somit Geld zu erwirtschaften, ist der letzte Punkt, der durch unsere Gesundheit eingeschränkt werden soll. Solange wir in der Arbeit erscheinen und in unserer Freizeit Psychotherapie in Anspruch nehmen, um „gesund zu bleiben“, wird das grundlegende System nicht großartig eingeschränkt.

Psychotherapie ist politisch. Und zwar vor allem die Gründe, wegen denen wir Psychotherapie beanspruchen. Im Job ausgebrannt sein, niemanden zu haben, mit dem man reden kann, sich existenzielle Sorgen machen oder im Alltag von Diskriminierung betroffen sein – wir gehen in Therapie auch aufgrund von gesellschaftlichen Problemen. Wir leben zwar in Ländern, in denen Individualismus als Grundpfeiler gefeiert wird, aber unsere mentale Gesundheit leidet aufgrund von gesellschaftlichen Problemen. 2022 gab es in Österreich 1276 Suizide, davon waren rund 76 Prozent Männer. Dass Männer nicht über ihre Probleme reden können, ist ein gesellschaftliches Problem, kein individuelles. Dass sich laut einer Umfrage 40 Prozent der Österreicher*innen Sorgen machen, sich Wohnraum nicht mehr leisten zu können, ist ein politisches Problem, kein individuelles.

 Auf unsere Gesundheit zu achten, ist etwas, das uns von klein auf eingetrichtert wird. Es ist wichtig, sich gut zu ernähren, Sport zu machen, den Zahnarzttermin einzuhalten. Und nun auch, in Psychotherapie zu gehen. Aber wie achtet man auf seine Gesundheit, in einem System, das dagegenhält? Natürlich sind wir in Österreich extrem privilegiert mit unserem Gesundheitssystem – trotzdem sind wir nicht geschützt vor besorgniserregenden Entwicklungen. Die Wiener Ärztekammer warnte letztes Jahr vor einer möglichen Liberalisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens. Private Beteiligungen an Gesundheitseinrichtungen seien mit einem Anstieg der Kosten für Patient*innen und Krankenkassen verbunden. Auch wenn wir in Österreich also ein gutes Gesundheits- und Sozialwesen gewohnt sind, ist es nicht selbstverständlich, dass das auch so bleibt.

Der Gedanke, man solle sich alleine um alles kümmern und sich selber konstant optimieren, ist gefährlich in einem System, dass uns alle immer mehr in den Individualismus und damit auch in die Einsamkeit pusht.  Natürlich nehmen Menschen aus unzähligen verschiedenen Gründen Psychotherapie in Anspruch, die sich aus ihrer spezifischen Lebenssituation ergeben. Aber auch strukturelle Rahmenbedingungen können unsere Gesundheit beeinflussen. Studien belegen beispielsweise die Vorteile einer 4-Tage-Arbeitswoche für unser psychisches Wohlbefinden. Ich sehe es als notwendig an, als Staat in den Ausbau des psychischen Gesundheitssystems zu investieren. Gleichzeitig dazu braucht es aber die konstante Anpassung der Rahmenbedingungen und Grundstrukturen unseres Lebens. Politische Debatten, wie jene um Arbeitszeiten und -bedingungen, dürfen im psychologischen Kontext nicht ausgeblendet werden, wenn wir wirklich möchten, dass es uns „gut geht“. Und unsere Sorgen und Probleme sollten wir nicht nur in den Therapieraum verbannen, sondern auch im Alltag ansprechen – denn oft geht es um gesellschaftlich relevante Zustände.

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