Systematischer Machtmissbrauch
Interview mit Boys-Club-Macherinnen
Der Podcast „Boys Club“ hat zuletzt für viel Aufsehen gesorgt. Als Spotify-Original beleuchten die beiden freien Journalistinnen Pia Stendera und Lena von Holt die Machenschaften des größten europäischen Verlags Axel Springer. Pauline Tillmann hat mit den Macherinnen des Podcasts gesprochen.
Ihr habt eineinhalb Jahre für den Podcast „Boys Club“ recherchiert, der im April 2023 erschienen ist, und dafür mit unzähligen Frauen gesprochen. Welches Problem hat eurer Meinung nach der Verlag Axel Springer?
Pia Stendera: Wenn es nur ein Problem gäbe, würde sich der Verlag wahrscheinlich nicht so schwer damit tun, tatsächlich eine Transformation der Arbeitskultur voranzutreiben. Da greifen ganz viele Sachen ineinander. Zum einen Sachen, die historisch gewachsen sind und die es auch in anderen Verlagshäusern in Deutschland gab, wie das Patriarchat. Das heißt, in diesen Häusern hatten Männer viel zu sagen und wurden auch besonders gefördert. Gleichzeitig waren Frauen auch immer nicht nur Mitarbeitende, sondern wurden auch als Lustobjekt gesehen. Axel Springer hat es offensichtlich verpasst, sich da in die Zukunft zu bewegen – und das, obwohl ja Mathias Döpfner ganz Großes vorhat, nämlich der größte Publisher zu werden. Und genau das clasht im Moment ziemlich zusammen.
Teil dieser patriarchalen Strukturen ist auch, dass besonders bei der BILD starke Abhängigkeitsverhältnisse hergestellt werden und es nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern generell oft zu einer Vermischung von Privaten und Beruflichen kommt – somit auch zu einer Vermischung von privaten und beruflichen Entscheidungen. Und das alles in der Summe ist, ein sehr stabiles System, was schwer zu verändern ist.
Was hat euch im Zuge der Recherche am meisten überrascht?
Lena von Holt: Am meisten überrascht hat mich, dass es dann doch so schwierig war, mit Menschen zu sprechen. Und das verrät ja auch viel darüber, wie dieses System funktioniert: dass eben Angst eine ganz große Rolle spielt. Wenn man offen darüber spricht, was im Unternehmen falsch läuft, steht man schnell als Nestbeschmutzer da, als illoyal gegenüber dem Unternehmen. Das haben auch einige unsere Protagonist*innen so erlebt. Am Ende haben sie doch entschieden zu sprechen. Voraus ging die Einsicht: ‚Nein, ich bin keine Petze, wenn ich Missstände anspreche, wenn ich darüber spreche, was zum Beispiel Kolleg*innen passiert ist. Ich bin kollegial. Und genau das müsste auch das Interesse ihres (ehemaligen) Arbeitgebers sein.‘ Ich glaube, das ist etwas, was viele Menschen erst mal verstehen müssen, weil genau diese Ängste dieses das System absichern.
Welche Rolle spielt in dem ganzen Geflecht der ehemalige BILD-Chefredakteur Julian Reichelt?
Pia Stendera: Julian Reichelt ist ein BILD-Gewächs – dieses Wort taucht auch immer wieder auf: BILD-Gewächs. Tatsächlich haben seine Eltern beide bei BILD gearbeitet. Der Vater war leitender Redakteur, die Mutter Volontärin, als sie sich kennengelernt haben. Reichelt selbst wollte schon immer BILD-Chef werden. Er konnte sich schon früh abgucken, wie man die BILD-Schlagzeile macht, welche Position der Chefredakteur hat und wie viel Macht mit dieser Position einhergeht. Man man kann sagen, dass er Dynamiken, die vorher schon vorhanden waren, einfach krass auf die Spitze getrieben hat. Und genau deshalb ist es so interessant, sich Julian Reichelt anzugucken und wie er diesen Laden regiert hat. Es sagt viel darüber aus, wie diese Redaktion funktioniert und schon immer funktioniert hat.
Würdet ihr sagen, es herrscht eine toxische Unternehmenskultur bei BILD? Und wenn ja, woran macht ihr das fest?
Lena von Holt: Die gibt es auf jeden Fall, aber nicht nur bei BILD. Da tritt sie nur sozusagen in Paradeform auf. Das kann vieles sein. Zum einen ist da der sogenannte „Inner Circle“, der sich um einen sehr mächtigen Chefredakteur sammelt. Mitarbeitende also, die ihm nahestehen und sich davon Vorteile erhoffen. Und gleichzeitig spielt natürlich Angst und Mobbing eine Rolle, so dass eine Atmosphäre entsteht, in der nicht jeder offen sagen kann, was er oder sie möchte. Das ist ein ideales Umfeld für Machtmissbrauch, der zwar hier und da durchsickert, aber gegen den niemand aufbegehrt oder versucht, ihn zu durchbrechen.
Pia Stendera: Eine toxische Unternehmenskultur kann auch dadurch entstehen, dass ein gewisser Druck im Kessel ist: Produktionsdruck, Konkurrenzdruck, Preisdruck oder eben auch der Druck, abends mit den Kollegen noch ein Bier mittrinken zu müssen. Diese ganze Drucksituation sorgt dafür, dass man mitbekommt: Wer spielt nicht mit oder fällt irgendwie raus? Dieser Jemand wird dann lins liegengelassen oder gemobbt. Dadurch versuchen viele, näher in die Mitte zu rücken – und damit näher ans Zentrum der Macht, um nicht unter die Räder zu kommen.
Was ratet ihr Frauen, die sich in so einem Umfeld bewegen? Ist zu kündigen der einzige gangbare Weg?
Lena von Holt: Ich glaube da gibt es verschiedene Ebenen. Zum einen würde ich raten, sich Verbündete zu holen. Aber das ist natürlich nicht immer möglich. Uns wurde zum Beispiel oft von Scham berichtet, mit anderen zu sprechen. Wer steht schon gerne da als jemand, der gemobbt wird oder der eine Art Verhältnis mit seinem Chef hat? Das sind Sachen, über die spricht man nicht gerne, aber sie betreffen viele. Umso notwendiger ist es, diese Vereinzelung zu durchbrechen.
Dazu kommt, dass sich zum Beispiel Frauen selber mehr vertrauen müssen. Oft hat man ja ganz intuitiv das Gefühl „hier stimmt irgendwas nicht“. Aber in einer patriarchalen Gesellschaft wird dir ständig gespiegelt, dass sexistisches Verhalten normal ist, auch wenn es das nicht sein sollte. Also schiebst du dieses Gefühl zur Seite. Dass nun immer mehr über das Thema Machtmissbrauch gesprochen wird, dass es Wörter dafür gibt, führt hoffentlich dazu, dass Frauen ihrem Gefühl in Zukunft mehr trauen, es benennen und sich Hilfe holen können.
Nicht zuletzt gibt es natürlich auch die Unternehmensebene, bei der es idealerweise so etwas wie ein Compliance Management gibt, zumindest aber einen Betriebsrat, an den man sich wenden kann. Wobei: Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, erzählt haben, dass das auch nicht die Lösung war. Und da ist dann auch die Politik gefragt, weil man sich andere Konzepte überlegen muss, damit es in Zukunft unabhängige Stellen gibt, bei denen man nach Hilfe suchen kann. Damit kommen wir auf die systemische Ebene: Eigentlich muss sich die ganze Gesellschaft verändern.
Pia Stendera: Mir ist wichtig zu erwähnen, dass nicht immer das ganze Unternehmen toxisch sein muss. Ich glaube, es gibt manchmal schlichtweg auch toxische Chefs. Und dann ist die Frage: Gibt es innerhalb von Unternehmen Strukturen, die das vielleicht gar nicht mitbekommen, das aber natürlich nicht unterstützen? Welchen Stand hat man selber im Unternehmen? Und wenn man das mitbekommt:, iIst es okay, darauf hinzuweisen? Und wenn es nicht gewünscht ist, würde ich raten: Pack deine Sachen und renn weg.
Lena, was meinst du damit, die ganze Gesellschaft muss sich verändern? Das klingt jetzt relativ groß. Vielleicht kannst du das etwas herunterbrechen und konkrete Beispiele nennen?
Lena von Holt: Ich meine damit konkret, dass sich jeder in seinem Alltag selbst hinterfragen muss, inwiefern er Teil dieses Systems ist. Dazu muss man nicht Täter*in sein, man kann es auch als Kompliz*in mit stützen. Dazu muss man sich aber erst einmal bewusst machen, wie Machtmissbrauch eigentlich funktioniert. Je mehr Menschen nun darüber sprechen, desto eher entsteht ein Raum, in dem sich Betroffene verstanden fühlen und in denen eben auch Veränderung möglich wird. Das geht sicher nicht von heute auf morgen. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass auch Männer öfter den Mund aufmachen, um etwas zu verändern. Männer waren bislang oft Nutznießer dieses Systems und haben es mitgetragen. Aber jetzt ist wohl der Punkt gekommen, an dem Grenzüberschreitungen kollektiv unterbunden gehören und enttabuisiert werden.
Pia Stendera: Dazu gehört, die eigene Position zu hinterfragen, auch wenn man selber weder betroffen noch Täter ist. Durch #MeToo haben viele Frauen den Mut gefunden, öffentlich zu sagen, dass sie betroffen sind. Wenn man nicht die Einzige ist, können ja tatsächlich verkrustete Strukturen auf einmal aufbrechen oder doch zumindest auf ein Problem hingewiesen werden, das uns alle betrifft. Es kann ja nicht sein, dass wir viele betroffene Frauen kennen – und keiner kennt Täter? Das heißt, es gibt viele blinde Flecken, die man sich anschauen muss.
Im Fall von Rammstein war es Shelby Linn, eine Art Kronzeugin, die das Ganze ins Rollen gebracht hat. Auch ihr hattet eine Kronzeugin – unter dem Pseudonym Nora – die euch WhatsApp-Nachrichten etc. gezeigt hat. Warum braucht es so etwas, um die Verdachtsberichterstattung zu unterfüttern?
Lena von Holt: Es braucht überhaupt Menschen, die reden. Bei #MeToo-Recherchen ist es immer eine der größten Herausforderungen, dass überhaupt jemand redet. Der Grund: Für Betroffene, für Frauen, gehen damit immer Risiken einher, die gut abgewogen werden müssen und die Verantwortung liegt letztendlich bei dieser einen Person, das muss man auch nicht schönreden. Da geht es um Konsequenzen für die Karriere und darum, dass am Ende schlecht über jemanden geredet wird – im Netz wie auch privat. Das ist etwas, das niemand will und das ich auch niemandem wünsche. Deswegen habe ich größten Respekt vor Menschen, die das trotzdem machen. Bei Shelby Linn war es ja auch so, dass sie gesagt hat: Ich habe nichts zu verlieren. Und gleichzeitig ist dieser Schritt wahnsinnig mutig. Das muss ihr erst einmal jemand nachmachen.
Pia Stendera: Man braucht solche Kronzeug*innen. Doch eine einzige Person reicht nicht, um so eine Recherche zu stützen. Es hilft sehr, wenn eine Person nach vorne geht und ihre Geschichte öffentlich macht. Hinter dieser Person steht ja eine Masse von anderen Fällen, die das System unterstreichen. Aber erst durch so etwas wie eine Kronzeugin wird das Ganze plastisch, fühlbar und natürlich auch realistischer als eben rein abstrakte Vorwürfe.
Warum habt ihr eigentlich allen Frauen im Podcast anonymisiert?
Lena von Holt: Wir haben die Frauen anonymisiert, weil das ihr Wunsch war und weil die Frauen Angst hatten vor negativen Konsequenzen. Es hat, glaube ich, noch nie eine Frau karrieremäßig profitiert, wenn sie sich öffentlich dazu bekannt hat, Opfer von Machtmissbrauch geworden zu sein. Das wird zwar manchmal – vor allem auch in Sozialen Medien – unterstellt, aber das ist komplett absurd, wenn man sich die Situation der Frauen genauer anschaut.
Was war die Reaktion von Axel Springer, als ihr sie mit euren Vorwürfen bzw. den Vorwürfen der interviewten Frauen konfrontiert habt – bevor ihr den Podcast veröffentlicht habt?
Pia Stendera: Als es um die Beantwortung der Fragen ging, war Stille. Das entspricht der Art und Weise, wie sich Springer offenbar entschieden hat, zu kommunizieren.
Und vielleicht noch wichtiger: Haben sich viele neue Frauen bei euch gemeldet, die ebenfalls von ähnlichen Erfahrungen berichten konnten?
Pia Stendera: Ja, und zwar nicht nur von Springer oder aus dem Julian-Reichelt-Universum, sondern auch von anderen Verlagen und aus anderen Berufsfeldern.
Für Menschen, die sich mit der Arbeitsweise im Journalismus nicht so gut auskennen: Wie überprüft ihr, dass die Frauen die Wahrheit sagen?
Lena von Holt: Wenn Vorwürfe erhoben werden, ist es extrem schwer, Belege zu sammeln, weil Aussage gegen Aussage steht. Es waren eben nur vier Augen am Ort des Geschehens. Um das nachzuweisen, bräuchte man – eigentlich – Videoaufzeichnungen. Aber die gibt es meist nicht. Deshalb sind es vor allem Indizien, die man prüft: Gibt es Einträge in irgendwelchen Kalendern? Gibt es Nachrichten, die einander geschrieben worden sind? Gibt es Tagebucheinträge? Man versucht sich durch viele kleine Puzzleteile das große ganze Bild zu erschließen und so zu überprüfen, ob die Erzählungen der Frauen wahr sind.
Pia Stendera: Und was auch dazu gehört ist: Man überlegt ganz genau, was man als Tatsache formuliert oder eben als Vermutung. Es ist ja nicht umsonst so, dass in solch einer Berichterstattung oftmals knöcherne Begriffe verwendet werden. Gerade wenn es sich um Vorwürfe handelt, dürfen die nicht einfach so aus der Luft gegriffen sein.
Wie habt ihr euch geschützt im Zuge der Recherchen? Ich könnte mir vorstellen, dass das eine sehr intensive Zeit war, in der ihr auch am Wochenende und abends erreichbar sein musstet.
Pia Stendera: Das geht nur bedingt. Wichtig ist, dass man im Team klare Grenzen festlegt. Wir haben zum Beispiel immer wieder über das Thema Diensthandy diskutiert, weil man ja auch mal zwischendurch abschalten und schöne Dinge machen muss. Doch man kann nicht immer das Telefon ausmachen, weil wir es mit Menschen zu tun haben, die arbeiten und die oft nur abends Zeit haben, länger zu sprechen. Es kam oft vor, dass ich Freunde treffen wollte und dann rief ich doch nochmal die Quelle an. Da ist eine Abgrenzung einfach extrem schwer.
Nochmal in Bezug auf Machtmissbrauch: Wie viele Frauen sind schätzungsweise davon betroffen? Ihr habt ja bei dem re:publica-Talk erwähnt, dass solche Themen sehr viel gelesen und geklickt werden. Also könnte man annehmen, dass es eine gewisse Betroffenheit oder Identifizierung mit den Protagonistinnen gibt.
Lena von Holt: Ich stelle mal eine steile These auf: Ich glaube, fast jeder ist davon in irgendeiner Weise betroffen. Wir leben in einem System, in dem Macht überall eine Rolle spielt. Es gibt, glaube ich, keine Interaktion, bei der es keine Macht gibt. Und je höher das Machtgefälle ist, desto eher wird es ausgenutzt. Wenn „betroffen sein“ also meint „beteiligt sein“, dann gehören nicht nur die „Opfer“ selber dazu, sondern auch seine Mitwisser*innen. Das heißt, es gibt unglaublich viele Menschen, die zumindest Machtmissbrauch in ihrem direkten Umfeld beobachten oder anderweitig davon tangiert sind. Ich glaube, dass Menschen immer mehr verstehen, dass sie Teil dieses Machtmissbrauchs sind, auch wenn sie weder Täter noch Opfer sind.
Was kann denn jedes Unternehmen tun – in den Medien oder anderswo – um Machtmissbrauch in den eigenen Strukturen zu vermeiden oder dem aktiv entgegenzuwirken?
Lena von Holt: Diversität würde helfen, aber nicht als Feigenblatt, sondern ehrlich gemeinte.
Pia Stendera: Und ein funktionierender, ausdifferenzierter Code of Conduct, der nicht nur von weißen Männern geschrieben wurde und der klar kommuniziert wird an alle Mitarbeitenden, zu dem sie sich verpflichten müssen. Und falls dieser Code of Conduct nicht eingehalten wird, muss es den Betroffenen ermöglicht werden, handlungsfähig zu bleiben. Das heißt, es müssen Strukturen geschaffen werden, die auch an der Hierarchie vorbeigehen. Schließlich haben wir bei Julian Reichelt gesehen, dass es im Zweifelsfall gar nicht bringt, wenn man sich nur beim Chef beschweren kann.
Und abschließend der Blick in die Zukunft: Wenn ich das richtig gehört habe im Podcast, arbeitet ihr an einer Fortsetzung. An so etwas wie „Boys Club 2“. Welche Themen wollt ihr euch da noch einmal stärker zur Brust nehmen? Was wurde aus eurer Sicht noch nicht hinreichend erzählt?
Pia Stendera: Eine Fortsetzung ist nicht geplant. Wir werden uns mit Sicherheit weiter mit Machtmissbrauch beschäftigen, aber im Moment sind wir erst einmal auf Urlaub eingestellt.
Weitere Informationen:
Als Chefredakteur von BILD soll Julian Reichelt mit Volontärinnen, Praktikantinnen und jungen Mitarbeiterinnen sexuelle Verhältnisse gehabt haben. Also mit Frauen, die von seiner Gunst abhängig waren. Doch wenn man verstehen will, was in der Reichelt-Affäre wirklich passiert ist, reicht es nicht aus, nur auf den mutmaßlichen Täter zu machen. Man muss das System dahinter freilegen. Deshalb blicken die beiden freien Journalistinnen Pia Stendera und Lena von Holt in ihrem Podcast hinter die Fassade des wohl mächtigsten Medienkonzerns in Deutschland: den Axel Springer Verlag. Erstmals erzählen Menschen, die selbst Machtmissbrauch erlebt haben, im Zuge von acht Podcast-Folgen ausführlich von ihren Erfahrungen.
Link: https://open.spotify.com/show/42A230DwCz7M1Wicnmjx7R (Si apre in una nuova finestra)