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Neuanfänge

Alles, außer dem neuen Buch, ist für mich zuletzt in den Hintergrund gerückt. Nun nähert sich sein Erscheinen, es ist als Hörbuch eingesprochen, die Lesungen daraus sind geplant - und die Welt scheint täglich schlimmer zu werden

Beim Einsprechen von "Die Zeit der Verluste" im Hörbuchstudio

Dear all,

ich muss diesen Newsletter mit einer Entschuldigung beginnen - dafür, dass ich damit eine so lange Pause eingelegt habe. Bitte verzeiht. Ich hatte geschrieben, dass ich für die Zeit, in der ich das neue Buch schreibe, an dieser Stelle weniger präsent sein würde als ich möchte. Doch ich war selbst überrascht davon, wie wenig ich das tatsächlich konnte.

Während des Schreibens von „Die Zeit der Verluste“ ist für mich alles andere in den Hintergrund gerückt. Es war so schwer, über meine privaten und unsere kollektiven Verluste, über Trauer und unsere Unfähigkeit, zu trauern, nachzudenken. Auf eine seltsame Art tat die Arbeit aber auch gut. Obwohl sie schwer war und so viel mehr Raum brauchte, als gedacht. Es hatte etwas Gutes, etwas durchzuarbeiten, das ich nicht durcharbeiten wollte und zunächst nicht konnte und das wahrscheinlich niemand von uns durcharbeiten will und kann, auch wenn wir alle es müssen.

Vergangene Woche habe ich es als Hörbuch eingesprochen, was eine größere Herausforderung war als das Einsprechen der anderen Bücher. Es gab viele Momente, in denen ich den Tränen nahe war, obwohl ich professionell sein wollte. Einige Male musste ich innehalten und der geduldige Regisseur und ich saßen uns schweigend gegenüber.

Das Buch ist nun fertig und wird gerade gedruckt. Am 20.11. wird es in den Läden liegen und im Berliner Theater des Westens Premiere feiern. Vergangene Woche habe ich es zudem als Hörbuch eingesprochen, was eine größere Herausforderung war als das Einsprechen der anderen Bücher. Es gab viele Momente, in denen ich den Tränen nahe war, obwohl ich professionell sein wollte. Einige Male musste ich innehalten und der geduldige Regisseur und ich saßen uns schweigend gegenüber. Andere Male musste ich eine Pause machen, weil ich merkte, dass ich mich so von dem dissoziierte, was ich las. Doch es ist geschafft. Das Hörbuch wird Anfang Dezember bei Audible erscheinen.       

Das Einlesen war nicht nur schwer, weil ich mich dabei noch einmal meiner privaten Trauer stellen musste, der Geschichte meiner Familie und meines Vaters, der Welt, die vergangen ist. Sondern auch, weil ich den Eindruck habe, dass die kollektiven Verluste, deren Bewältigung wir uns Tag für Tag stellen, immer weiter voranschreiten. Unerbittlich voranschreiten.

Wenn ich von den Aufnahmen nach Hause kam, sah ich, wie viele Jugendliche hier in Neukölln Tücher und Schals mit den Symbolen der Hamas trugen. Ich sah, wie die Präsenz der mit schusssicheren Westen ausgestatteten Polizistinnen und Polizisten auf dem Hermannplatz, in der Sonnenallee und der Reuterstraße stetig stieg. In meiner Wohnung hörte ich selbst bei geschlossenen Fenstern, wie die hasserfüllten Demonstrationen an der Ecke meiner Straße eskalierten.

Wenn ich von den Aufnahmen nach Hause kam, sah ich, wie viele Jugendliche hier in Neukölln Tücher und Schals mit den Symbolen der Hamas trugen. Ich sah, wie die Präsenz der mit schusssicheren Westen ausgestatteten Polizistinnen und Polizisten auf dem Hermannplatz, in der Sonnenallee und der Reuterstraße stetig stieg. Merkte, dass das Blauweiß ihrer Einsatzwagen zu einem gewöhnlichen Anblick für mich wurde. In meiner Wohnung hörte ich selbst bei geschlossenen Fenstern, wie die hasserfüllten Demonstrationen an der Ecke meiner Straße eskalierten. Ich hörte das Skandieren antisemitischer Parolen, die Feier der enthemmten Mordlust der Hamas, das Zünden von Feuerwerkskörpern, deren Echos manchmal wie Bombengeräusche in den Straßen nachhallten, hörte Polizeisirenen, die Lautsprecherdurchsagen, die die Demonstrierenden dazu aufforderten, die Versammlung aufzulösen und die Beistehenden dazu, weiterzugehen.

Auf Instagram sah ich, wie sich die halbe Welt in selbstbewussten Erklärungen der Ereignisse versuchte. In den Nachrichten las ich, wie ausweglos und dramatisch die Aussichten für die nächsten Monate sind. Las Reportagen und sah Fotos, die mich so erschütterten, dass ich immer noch daran denke. Ich ging mit einer jüdischen Freundin spazieren, die sich seit vergangener Woche in einem Zustand schlafloser Sorge um sich und ihre Familie befindet. Ein befreundeter israelischer Künstler hinterließ mir eine Sprachnachricht, in der er zu weinen begann und sagte, dass er gerade die ganze Zeit immer wieder plötzlich weinen müsse. Die Nachricht brach mir das Herz.

Ich ging mit einer jüdischen Freundin spazieren, die sich seit vergangener Woche in einem Zustand schlafloser Sorge um sich und ihre Familie befindet. Ein befreundeter israelischer Künstler hinterließ mir eine Sprachnachricht, in der er zu weinen begann und sagte, dass er gerade die ganze Zeit immer wieder plötzlich weinen müsse. Die Nachricht brach mir das Herz.

Ich bin immer noch sprachlos und fühle mich hilflos. Es fällt mir schwer, diese Ereignisse zu verstehen, fällt mir schwer, den Ängsten, die sie in mir wachrufen, zu begegnen. Es fällt mir schwer, zu der zaghaften Zuversicht zurückzufinden, die ich während des Schreibens des Buches wieder in mir ausfindig gemacht habe. Zugleich habe ich das Gefühl, dass es meine Aufgabe ist, zu jener vorsichtigen Zuversicht zurückzufinden und mich der Zeit der Verluste weiter zu stellen. Ich habe das Gefühl, dass ich das während des vergangenen Jahres zumindest ein wenig gelernt habe. Das ist nicht viel, aber es ist auch nicht nichts.

Was den Newsletter betrifft: Er liegt mir sehr am Herzen. Ab jetzt werde ich mich an dieser Stelle wieder regelmäßig melden. Mindestens einmal im Monat und wenn es geht, häufiger. In Zukunft werden die Beiträge hier wieder persönlicher werden. Ich werde auch „Dear Daniel“-Fragen beantworten, doch nur noch ab und zu. Vielen eurer Rückmeldungen habe ich entnommen, dass ihr euch das wünscht. Und wenn ich in mich hineinhorche, scheint auch mir das der richtige Weg zu sein.

In diesem Sinne: Habt’s gut und passt auf euch auf! Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass ihr halbwegs gut durch die schwierige Zeit kommt. Und dass auch ihr einen Funken Zuversicht in euch findet. Ich habe den Eindruck, dass wir das müssen. Auch wenn all die Worte und Erklärungen, die wir derzeit hören, erst einmal nichts zu nützen scheinen. 

Alles Liebe, Daniel   

P.S. In den nächsten Monaten werde ich wieder für einige Veranstaltungen unterwegs sein. Anbei findet ihr eine Liste der Lesungen, die wir für dieses Jahr geplant haben – einen zweiten Lesungsblock wird es im März 2024 geben – und es würde mich wahnsinnig freuen, euch dort zu sehen und mit euch ins Gespräch zu kommen. Aus Gründen der Selbstfürsorge wird es bei diesem Buch weniger Lesungen geben, aber ich hoffe, dass für euch trotzdem etwas dabei ist.

Lesungen aus "Die Zeit der Verluste", 2023

20. November: Buchpremiere im Theater des Westens, Berlin, 19:30 Uhr

21. November: Signierstunde Dussmann, Berlin, 18-21 Uhr

26. November: Centralkomitee Hamburg, 20 Uhr

27. November: Literaturbüro Lüneburg, 19:30 Uhr 

29. November: Deutsch-Amerikanisches Institut Freiburg, 19:00 Uhr

30. November: Zeughaus Teufen, 19:30 Uhr 

03. Dezember: Kaufleuten Zürich, 20:00 Uhr

04. Dezember: Centralstation Darmstadt, 19:30 Uhr

05. Dezember: Literaturhaus Hannover, 19:00 Uhr

06. Dezember: Literaturhaus Köln, 19:30 Uhr

08. Dezember: Koeppenhaus Greifswald, 19:30 Uhr

11. Dezember: Literaturhaus Stuttgart, 19:30 Uhr

12. Dezember: Literaturhaus München, 19:00 Uhr

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