Was in deinem Gehirn passiert, wenn du dich langweilst
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über Langeweile, Kreativität und Emotionen.
Jedes Jahr im Sommer fahren wir mit der ganzen Familie für ein bis zwei Wochen nach Dänemark an die Nordsee. Ich habe drei Geschwister und meine beiden Schwestern haben mittlerweile ihre eigenen Familien mit Kindern mit im Gepäck. Als meine jüngste Nichte noch ein Baby war und wir wieder in Dänemark urlaubten, habe ich sie eines Nachmittags in den Schlaf getragen. Alle anderen hatten sich auf den Weg zum Strand gemacht, nur meine Schwester und ich blieben im Haus. Da sie nachts nicht sonderlich viel Schlaf bekam, haute sie sich ebenfalls zum Mittagsschlaf aufs Ohr. Meine Nichte schlief nach einigen Minuten, in denen ihr Schreien mir versicherte, dass sie noch nie etwas Schlimmeres erlebt hat, als bei mir auf dem Arm zu sein, endlich ein. Ich legte mich vorsichtig aufs Sofa und zu meiner riesigen Freude wachte sie dadurch nicht auf.
Da lagen wir also. Ich auf der Couch, sie auf mir, meine Schwester in ihrem Zimmer. Nach ein paar Minuten merkte ich, dass ich mein Handy gar nicht dabei hatte. Ich konnte es aber auch nicht holen; das Risiko, dass meine Nichte aufwachen würde, war viel zu hoch. Und es war niemand da, der mir das Handy hätte bringen können.
Also lag ich weiter. Und lag. Und lag. Und starrte vor mich hin. Meine Nichte atmete und atmete und machte sonst nichts.
Tjoa …
…
…
Ich will nicht lügen: Das war echt langweilig. Wann wird man heute schon dazu gezwungen, eineinhalb Stunden lang ohne Handy, ohne Buch, ohne Unterhaltung, einfach so vor sich hin zu dödeln? Das kommt ja fast nicht mehr vor.
Jetzt bin ich aber nicht umsonst Wissenschaftsjournalist. Natürlich hat mich schon währenddessen interessiert, was da eigentlich in meinem Gehirn so passiert. Also: Während nichts weiter passiert. Was macht unser Gehirn, wenn wir uns langweilen. Und fast noch wichtiger: Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir uns gar nicht mehr langweilen? Heute will ich dir davon erzählen. Und auch davon, warum Langeweile uns manchmal zu riskantem Verhalten verleitet und weshalb sie gleichzeitig der perfekte Nährboden für Kreativität sein kann.
Wie findet man als Neurowissenschaftler heraus, was unser Gehirn so treibt, wenn wir nichts treiben?
Man will natürlich wissen, welche Hirnregionen aktiv sind, während wir uns langweilen. Man schiebt also Probant:innen in eine MRT-Röhre und lässt sie nichts weiter machen. Einfach nur da zu liegen, ist meistens echt langweilig. Das Problem: Selbst wenn sich Versuchspersonen langweilen, wenn man sie in die Röhre schiebt, kann es gut sein, dass sie sich in der Röhre selbst nicht mehr langweilen. Weil sie plötzlich abgelenkt werden von den Geräuschen, oder weil sie sich jetzt, wo sie nur so daliegen, an diesen mega peinlichen Moment erinnern, als sie auf der Party am Wochenende nicht nur einmal, sondern gleich zweimal ein Glas fallen lassen haben. (Ist mir natürlich noch nie passier.) Wenn das passiert, messen die Wissenschaftler:innen nicht mehr, was ein gelangweiltes Gehirn so macht, sondern was eines macht, das sich schämt. Woran die Versuchspersonen denken, sieht man ihnen aber nicht an. Die wissenschaftlichen Befunde zur Langeweile sind daher oft widersprüchlich und angreifbar.
Ein paar grundlegende Erkenntnisse gibt es aber. Zum Beispiel: Langeweile ist keineswegs ein passiver Zustand. Im Gegenteil: Sie ist geprägt von einem Kampf zwischen verschiedenen Netzwerken im Gehirn. Besonders zentral ist das sogenannte Default Mode Network (DMN). Dieses Netzwerk wird aktiv (Si apre in una nuova finestra), wenn wir nicht gezielt mit einer Aufgabe beschäftigt sind, sondern unseren Gedanken freien Lauf lassen. Dann werden bestimmte Regionen aktiver als wenn wir etwas Bestimmtes tun oder erledigen. Hierzu gehören der Precuneus, der posterior cinguläre Cortex (PCC) und der mediale präfrontale Cortex. Das Netzwerk wird immer dann aktiv, wenn wir uns ein Stück weit von der Welt da draußen entkoppeln und das Gehirn sich mit sich selbst beschäftigt. Das tun wir vor allem dann, wenn wir keine Informationen von draußen bekommen.
Wenn wir ein Handy in der Hand haben, ist das fast nie der Fall. Wenn wir uns unterhalten auch nicht. Wenn ein Baby auf uns schläft, schon eher. Wenn das Default Mode Network aktiv ist, fangen wir an, autobiographisch zu planen. Wir schauen zurück: Wie waren die letzten Monate, die letzten Wochen, der letzte Tag? Wie sehr gefällt uns, was wir jeden Tag treiben? Welche Ziele haben wir für die nächsten Wochen? Und wie können wir diese Ziele erreichen? Unsere Gedanken beginnen zu wandern. Und das nicht nur, wenn wir uns richtig doll langweilen, sondern auch, wenn wir spazieren gehen, Wäsche zusammenlegen oder aus dem Fenster gucken.
Aber Langeweile ist mehr als bloßes Tagträumen. Eine entscheidende Rolle spielt auch die anteriore Insula, die normalerweise hilft, unsere Aufmerksamkeit zu steuern. Bei Langeweile ist ihre Aktivität reduziert, was dazu führt (Si apre in una nuova finestra), dass wir Schwierigkeiten haben, uns zu konzentrieren und uns von monotonen Aufgaben gefangen fühlen.
Doch was bedeutet das für unser Verhalten?
Studien zeigen, dass unser Gehirn nach Phasen der Langeweile besonders empfindlich (Si apre in una nuova finestra) auf Belohnungsreize reagiert. Das erklärt, warum wir in solchen Momenten impulsiver werden, sei es durch das Naschen ungesunder Snacks oder das endlose Scrollen durch soziale Medien. (Si apre in una nuova finestra) Unser Gehirn sehnt sich geradezu nach neuen Reizen, um der Eintönigkeit zu entkommen.
Auch, weil wir die Eintönigkeit nicht mehr gewohnt sind. Nicht nur zuhause auf dem Sofa, sondern auch bei der Arbeit. Das habe ich letzte Woche schon beschrieben: Anfang der 2000er hat man herausgefunden, dass Menschen in Büros sich ungefähr etwas mehr als zwei Minuten lang auf einen Text konzentrieren können, bevor sie abgelenkt wurden. Inzwischen liegt die Aufmerksamkeitsspanne bei konzentrierter Arbeit am Bildschirm nur noch bei durchschnittlich 47 Sekunden.
Das ist eigentlich schade. Denn wie du vielleicht schon mal gehört hast, ist Langeweile nicht nur ein Hindernis. Sie kann auch eine Chance sein. Wie ich in dieser Ausgabe schon mal beschrieben habe, spielt unser Gedächtnis eine große Rolle, wenn wir die Augen schließen und mit unseren Gedanken allein sind. Wenn wir uns die Zukunft vorstellen, wird deshalb eine Region aktiviert, die auch an der Erinnerung an die Vergangenheit beteiligt ist: der Hippocampus. Das Default Mode Network stützt sich also auf Erinnerungen an frühere Erfahrungen, um auf frei assoziative Weise neue Ideen und Bilder zu generieren und so einen mentalen Raum für Fantasie und Tagträume zu schaffen. Während das Default Mode Network aktiv ist, beginnt unser Gehirn (Si apre in una nuova finestra), neue Verknüpfungen zu schaffen, bestehendes Wissen zu kombinieren und kreative Ideen zu entwickeln. Gerade in Zeiten der Unterforderung beginnt unser Geist, neue Wege zu suchen – oft mit überraschenden Ergebnissen. Es ist kein Zufall, dass uns unter der Dusche so oft gute Ideen kommen. Wir machen nichts weiter außer zu duschen, unsere Gedanken schweifen ab. Genial. Eine der beliebtesten Seiten bei reddit ist nicht umsonst die Seite „Showerthoughts“, bei der Leute aufschreiben, welche genialen Erkenntnisse sie unter der Dusche hatten. Zum Beispiel: „Geh ins Bett, morgen geht's dir besser“ ist die menschliche Version von „Hast du das Gerät mal an- und ausgeschaltet?
Ein wichtiger Bestandteil des kreativen Prozesses ist die Fähigkeit des DMN, auf Elemente aus früheren Erfahrungen zuzugreifen und diese zu neuen Konfigurationen zusammenzufügen. Es dient als eine Art Bibliothek früherer Erfahrungen, die das Rohmaterial für kreative Gedanken liefert. Kreative Ideen entstehen nie aus dem Nichts. Sie basieren immer auf bereits Erlebtem.
Eine weitere Auswirkung von Langeweile habe ich aber noch. Denn Langeweile macht uns nicht nur kreativer, sondern auch emotional reifer.
Um weiterlesen zu können, musst du ein echtes Brain werden. Echte Brains ermöglichen diesen Newsletter und haben Zugriff auf das komplette Archiv.
Echtes Brain werden! (Si apre in una nuova finestra)
Sei già un affiliato? Accedi (Si apre in una nuova finestra)