So bringst du dein Gehirn durch die aktuellen Krisen
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Wie die US-Wahl und das Regierungsende dich nicht dümmer machen, als nötig.
Ich war ziemlich zuversichtlich, dass Kamala Harris gewinnt. Aus zwei Gründen: Erstens redete ich mir ein, dass die Amerikaner:innen den gleichen Fehler nicht zweimal machen würden (oh boy) und zweitens wollte ich, selbst wenn Trump gewinnen sollte, wenigstens die Tage vorher nicht in voreilige Panik geraten. Aus Selbstschutz.
Nun, Trump ist zurück. Das mächtigste Land der Welt hat einen rassistischen, sexistischen Faschisten zum Präsidenten gewählt, schon wieder. Mir macht das Angst.
Und weil eine Krise pro Tag nicht reicht, hat Bundeskanzler Olaf Scholz am gleichen Abend auch noch Bundesfinanzminister Christian Lindner entlassen. Die Regierung ist am Ende. Neuwahlen stehen an.
In solchen Situationen tendieren wir dazu, alle Infos aufzusaugen. Wir klicken uns von der New York Times zum Spiegel zu Zeit Online, dann zu X, auf Youtube und wieder zurück zu X. Wir verfolgen die Analysen und Entwicklungen im Sekundentakt. Hat Kamala Harris sich schon geäußert? Was sagt Scholz, was Lindner? Wer hat die bessere Rede gehalten?
Im Mai habe ich hier im Newsletter beschrieben, was unser Gehirn in solchen Momenten tut: Es schaltet in den Krisenmodus. Damals schrieb ich, wie dein Gehirn durch die nächste Krise kommt. Jetzt sind die nächsten Krisen da.
Deshalb schicke ich dir heute diese Ausgabe noch einmal zu. Wenn du sie schon kennst: Lies sie ruhig nochmal. Ich musste das auch tun, um nicht in alte Muster zu verfallen. Wenn wir diese Tipps helfen, leite sie gern an deine Freund:innen weiter, sie werden es dir danken.
Das Problem ist nämlich: Dieser Krisen-Modus bewirkt das Gegenteil von dem, was er soll. Wir werden ängstlicher und gestresster, als wir sein müssten. Dabei gibt es Strategien, die uns dabei helfen, in solchen Situationen nicht den Verstand zu verlieren.
Was, wenn wir nichts mehr vorhersagen können?
Eine der wichtigsten Funktionen unseres Gehirns ist es, permanent Vorhersagen zu treffen. Wenn jemand mit uns spricht oder wir etwas lesen, berechnet unser Gehirn in Echtzeit, welches Wort wahrscheinlich das nächste sein wird. Das passiert auch jetzt gerade bei dir, während du diese Zeilen isst.
Hä? Während du diese Zeilen isst? Das stimmt doch so nicht!
Dein Gehirn hat gerade ein Fehlersignal ausgelöst, weil das Wort, was es vorhergesagt hat, nicht gekommen ist. Das ist erstmal kein Problem, unser Gehirn liebt es, Fehler zu entdecken!
Zum Problem wird es erst, wenn du keine Vorhersagen mehr treffen kannst, weil nichts mehr vorhersagbar ist. Denn diese ganze Vorhersagerei – beim Zuhören, beim Musikhören, bei allem, was wir tun – hat vor allem einen Sinn: die Ungewissheit zu minimieren.
Es gibt kaum etwas, was bei uns so viel Unsicherheit erzeugt wie Krisen. Wir fragen uns: Wird Trump seine Versprechen wahrmachen? Wie wirkt sich die kaputte Bundesregierung aufs Land aus?
Alles Fragen, auf die wir selbst keine Antwort haben, auf die es aber auch in vielen Fällen noch überhaupt keine Antwort gibt. Wenn zum ersten Mal seit 20 Jahren vorgezogene Neuwahlen anstehen, ist es verdammt schwer, seriöse Vorhersagen zu treffen. Weil sich die Lage ständig verändert. Bei Donald Trump kommt noch erschwerend hinzu, dass die meisten seiner Handlungen und Aussagen sowieso nicht rational zu erklären sind.
Und so trifft unser Gehirn bald Voraussagen, die sich als falsch herausstellen. Und wir? Erleben einen Kontrollverlust.
Was macht dieser Kontrollverlust mit unserem Gehirn? Kurz gesagt, zwei Dinge: Wir bekommen Angst und wir empfinden Stress. Beides hat Auswirkungen auf uns. Jeden Tag. Wir können das aber verhindern.
Angst und Stress machen uns dümmer
Wenn wir Angst haben, schaltet unser Steinzeitgehirn automatisch in den Überlebensmodus. Uns bleiben nur noch drei Reaktionen: kämpfen, flüchten oder erstarren. Wenn wir Angst haben, sind Hirnregionen, die für Kreativität zuständig sind, blockiert (Si apre in una nuova finestra). Und auch solche, die für langfristiges Planen verantwortlich sind, zum Beispiel der präfrontale Kortex.
Aus Sicht der Evolution ergibt das natürlich Sinn: Wenn unsere Vorfahren einem Säbelzahntiger gegenüber standen (ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum Säbelzahntiger in der Hirnforschung ständig eine so große Rolle spielen), dann sollten wir nicht kreativ sein oder an unsere Zukunft in drei Jahren denken, sondern an unsere Zukunft in zehn Sekunden. Und die sollte möglichst weit weg von dem Tiger stattfinden.
Angst killt unsere Kreativität, damit der Tiger uns nicht killt. Denn eins ist klar: Derjenige, der beim Aufeinandertreffen mit einem Säbelzahntiger erstmal nach kreativen Lösungsmöglichkeiten gesucht hat, gehört ganz sicher nicht zu unseren Vorfahren.
Nun ist es aber so, dass die Wiederwahl Trumps, so beängstigend sie ist, kein Angriff eines Säbelzahntigers ist. Und die Krise der Bundesregierung ebenfalls nicht. Unser Gehirn reagiert aber immer noch wie vor zwei Millionen Jahren, mit Angst und Stress. Aber Weglaufen hilft gerade halt wenig. Wenn wir bei dem Bild mit dem Säbelzahntiger bleiben: Die Wahl von Donald Trump ist in etwa so, als würden wir permanent von Angesicht zu Angesicht mit dem Tiger stehen und daran nicht das Geringste ändern können.
Der Tiger steht und starrt und steht und starrt und wir wissen nicht, wohin mit uns.
Das hat Folgen. Egal, ob auf unserer individuellen Ebene oder auf kollektiver Ebene – durch Stress treffen wir unsere Entscheidungen irrational und unsystematisch. Stress beeinträchtigt (Si apre in una nuova finestra) unser Arbeitsgedächtnis. Stress lenkt uns ab (Si apre in una nuova finestra). Stress macht es uns schwerer, Informationen zu verarbeiten. Studien haben gezeigt (Si apre in una nuova finestra): Unter Angst und Stress lösen wir Aufgaben schlechter. Mann kann also sagen, dass uns unsere erste Reaktion auf eine Krise gewissermaßen dümmer macht.
Unsere Lösungen werden zum Problem
Und was machen wir dagegen? Wir versuchen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Und wie bekommt man Kontrolle zurück? Indem man wieder vorhersagen kann, was als Nächstes passiert! Und wie kann man vorhersagen, was als Nächstes passiert? Durch Informationen! Wissen ist Macht! Wissen ist Vorhersage! Also lesen wir News, schauen fern und hören die News-Podcasts, die uns detailliert erklären, was gerade passiert ist: Wie es so weit kommen konnte, was Kamala Harris falsch und was Donald Trump richtig gemacht hat. Ob die Entlassung Lindners Kalkül hatte und wer die besseren Argumente nennen konnte.
Als am 11. September 2001 das World Trade Center angegriffen wurde, haben Erwachsene im Durchschnitt (Si apre in una nuova finestra) 8,1 Stunden Fernsehberichterstattung gesehen, Kinder 3 Stunden.
Mehrere Studien (Si apre in una nuova finestra) zeigen einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Konsum dieser TV-Berichterstattung und einem erhöhten Risiko von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und klinischen Depressionssymptomen. Wichtig: Ob man sich im direkten Umfeld des betroffenen Gebietes befunden hat oder nicht, spielte dabei nicht unbedingt eine Rolle.
Das belegen weitere Studien (Si apre in una nuova finestra): Als es 2013 einen Anschlag auf den Boston Marathon gab, waren z.B. diejenigen, die den Anschlag im Fernsehen verfolgt haben, gestresster als die Personen, die live vor Ort dabei waren.
Dass die US-Wahl rein geographisch so weit weg ist, heißt nicht, dass sie sich für uns nicht trotzdem anfühlen kann wie eine Krise, von der wir selbst betroffen sind.
Der Grund für diesen schier unstillbaren Nachrichtendurst ist simpel: Wir wollen endlich wieder valide Vorhersagen treffen können, wir wollen die Kontrolle zurückgewinnen. Aber weil in Krisen niemand wissen kann, was als Nächstes kommt, passiert das genaue Gegenteil: Die vielen News überfordern unser Gehirn. Es macht dicht.
Wenn wir uns in so einer Krisensituation den News aussetzen, sind wir noch gestresster, als wenn wir gar keine Nachrichten konsumiert hätten.
Das ist schlecht. Denn unter Stress stellen wir höhere Anforderungen an Gehirn und Körper, als wir an Ressourcen zur Verfügung haben. Wenn wir permanent in diesem Alarm-Zustand sind, kommt die Erholung logischerweise zu kurz. Auch hier zeigen Studien (Si apre in una nuova finestra), dass damit die Gefahr für psychische und andere chronische Krankheiten steigt.
So hältst du Trump und die Ampel aus deinem Kopf heraus
Wir wissen jetzt, was Krisen mit dem Gehirn machen. Also wissen wir auch, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen: Wir müssen Stress und Angst reduzieren, um wieder Vorhersagen treffen zu können, die stabil sind.
Fünf Dinge, die man direkt aus der Forschung ableiten kann, können uns dabei helfen. Ich halte mich seit Dienstagmorgen penibel an sie:
Um weiterlesen zu können, musst du ein echtes Brain werden. Echte Brains ermöglichen diesen Newsletter und haben Zugriff auf das komplette Archiv.
Echtes Brain werden! (Si apre in una nuova finestra)
Sei già un affiliato? Accedi (Si apre in una nuova finestra)