Liebe Leserin, lieber Leser,
wie können oder müssen wir uns das Verhältnis Gottes zu anderen Wesen, das Verhältnis des Schöpfers zu seinen Geschöpfen vorstellen? Ist Gott ein ferner, unnahbarer Herrscher, der von seinen Untertanen unbedingten Gehorsam einfordert und sie bei Verletzung seiner Gesetze bestraft? Oder ist er im Gegenteil nur noch der ,historische Jesus‘, ein Coach und guter Freund, der uns zu gutem Handeln motivieren soll? Oftmals verfängt sich das zeitgenössische Gottesbild in diesen kaum vereinbaren Extrempositionen und führt diese gar häufig gegeneinander ins Feld. Das heutige Evangelium weist uns auf eine Möglichkeit hin, beide Vorstellungen miteinander zu vermitteln und dieses sowohl theologisch als auch ontologisch und politisch fruchtbar zu machen.
II.
So werden wir von der Schrift in eine häufig zitierte, aber noch weit vor dem Ostereignis zu verortende Gleichnisrede Jesu versetzt:
„Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen.“ (Joh 10,1-5)
Während der falsche Pastor die Herde verkennt und deshalb keinen Gehorsam erwarten kann, führt der wahre Pastor, dem jedes einzelne Schaf der Herde mit dem ihm zugehörigen Namen vertraut ist, seine Schafe auf satte Weiden. Die Schafe wiederum fliehen vor der bedrohlichen Stimme des Unbekannten und halten sich an die sanfte Stimme des Vertrauten. Da die Umstehenden den im Gleichnis angedeuteten Sinn nicht sofort erfassen, legt Jesus dieses im weiteren Verlauf aus:
„Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.“ (Joh 10,7-16)
Der schlechte Pastor zeichnet sich somit nicht durch Unkenntnis, sondern auch durch sein Desinteresse an der Herde aus: Während er sich gerne im Stall bedient, kann oder will er die Schafe nicht gegen Wölfe verteidigen, begeht Fahnenflucht und überlässt diese der ihr Leben bedrohenden Gefahr. Der Heiland beschreibt sich selbst hingegen als „guten Hirten“, der die Schafe zum Leben führt, sein Leben gar für diese hingibt und mit ihnen in väterlicher Vertrautheit verbunden ist. Der letzte hier zitierte Satz weist sogar auf eine Ausweitung seiner Hirtentätigkeit hin: Auch die nicht seinem Stall zugehörigen Schafe sollen seiner guten Herrschaft, einer kommenden Ökumene, eingegliedert werden. Jesu Worte deuten – neben augenscheinlichen Parallelen zur antiken Bukolik - auf eine alttestamentliche Variation des Hirtenthemas, den sogenannten Hirtenpsalm, hin:
„Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Meine Lebenskraft bringt er zurück. Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen. Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.“ (Ps 23,1-4)
Germanisches Nationalmuseum, Christus als guter Hirte, um 1750 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1750_Christus_als_Guter_Hirte_Niederbayern_anagoria.JPG)
Die Frage nach dem „guten Hirten“ wandelt sich auf diese Weise zur Frage nach einer möglichen, idyllisch anmutenden Gemeinschaft. Erst wenn der wahre Pastor das Zepter ergriffen, die wahre Ordnung fest begründet wird, kann die Herde Ruhe finden und sich mit himmlischem Wasser erfrischen. Im Lichte dieser Überlegungen kann Gott weder als ferner Herrscher noch als naher Coach begriffen werden. Vielmehr reißt er seine Schafe qua intimer Kenntnis aus dem Verderben und geleitet sie sicher in eine von Heil geprägte Ordnung.
III.
Der französische Philosoph und Wissensgeschichtler Michel Foucault hat im ersten Teil seiner Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität dieses spezifisch hebräische und wenig griechische Verhältnis als „Pastorat“ (S. 187), als eine „Macht religiösen Typus, die ihren Ursprung, ihre Grundlage, ihre Vollendung in der Macht hat, die Gott auf sein Volk ausübt“ (ebd.) beschrieben. Während die griechischen Götter zwar bei der Gründung von Städten geholfen und für das Heil dieser Gemeinschaften interveniert hätten (vgl. ebd.), wären sie niemals zu leitenden Hirten geworden.
Für Foucault zeichnet sich diese Macht insbesondere durch ihre ortlose Beziehung zur Herde, ihre Sorge um das geistige und leibliche Wohl der Herde, ihre demütige Hingabe und ihre das einzelne Schaf adressierende Tendenz aus. Diese spezifische Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpfen, diese „sonderbarste und charakteristischste Machtform des Abendlandes“ (S. 194), ist wiederum in ihrer Ausfaltung durch die Kirchen Vergangenheit und Gegenbild heutiger Machtkonstellationen, die deren Kritik ermöglicht.
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