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Über die Moralisierung von Gesundheit

Über die Moralisierung von Gesundheit

Eine Kolumne von Charlotte Suhr (14. April 2024)

Schon mein ganzes Leben lang begleitet mich das Thema Depressionen. Während ich in meinen 31 Jahren zweimal so heftige Episoden hatte, dass ich fast meinen Lebenswillen verloren habe, ist das Gefühl von Traurigkeit in Kombination mit Einsamkeit und fehlendem Selbstwertgefühl immer mal mehr und mal weniger stark vertreten. Wie ein Hintergrundrauschen, dass abwechselnd immer leiser und wieder lauter wird, ist die Depression latent stets vorhanden und ich glaube inzwischen nicht mehr, dass ich jemals ganz „geheilt“ sein werde. Diese Erkenntnis hat lange gedauert und mich viele Schmerzen gekostet. Ich bin lange nicht nur davon ausgegangen, dass es meine Aufgabe sei, meine Dämonen irgendwann gänzlich loszuwerden, sondern dass diese auch durch mein eigenes Verschulden überhaupt erst entstanden sind. Die empfundene Schuld, auch in Kombination mit der Vorstellung, eine Belastung für andere Menschen zu sein, waren beinahe der Schlimmste Teil der Depression. Ich fühlte mich schlecht, weil ich mich schlecht fühlte. Eine Versagerin, die dringend anders zu fühlen hatte. Ich schämte mich für meine Emotionen und versuchte, diese zu verstecken, zu unterdrücken und mir einzureden, dass ich mir nur mehr Mühe geben müsse, glücklich zu sein. Einen anderen Blickwinkel einnehmen und das Leben positiver betrachten. Dieses Unterfangen war zum Scheitern verurteilt und verstärkte meine Depressionen massiv.

Innerhalb unserer Gesellschaft gilt das ungeschriebene Gesetz, dass wir alle individuell für unsere eigene Gesundheit zuständig sind, sei es mentale oder auch körperliche. Gesundheit gilt als Folge unseres Lebensstils und das Fehlen ersterer wird häufig auf mangelnde Willenskraft oder sogar Faulheit zurückgeführt. Depressionen, Angststörungen, Traumata, Essstörungen und Sucht sind Krankheiten, die behandelbar sind und damit implizieren, wer sich damit herumschlage, wäre einfach nicht bemüht genug, an der eigenen Heilung zu arbeiten. Eine psychische Erkrankung zu haben ist stark stigmatisiert und weil man diese von außen meistens nicht (auf den ersten Blick) sehen kann, zweifeln viele nicht nur am Leidensdruck, sondern auch daran, wie schwierig es ist, diese anzugehen. Denn nur weil Depressionen behandelbar sind, bedeutete dies nicht, dass jede Person auf der Welt ihre Depression in jedem Szenario für immer besiegen kann. Es gibt Menschen, bei denen wirken keine Antidepressiva. Menschen, deren Leben so objektiv schlecht ist, dass sie ihre Depression auch mit Therapie nicht loswerden können. Es gibt Menschen, die haben keine Kraft, ihre Depression anzugehen. Dadurch aber, dass wir Depressionen und andere Krankheiten so stark moralisieren und als Gesellschaft geradezu fordern, dass man diese loszuwerden hat, werden depressive Menschen moralisch kritisiert und stigmatisiert.

Vor einer Weile habe ich einmal ein Video veröffentlicht, in dem ich davon sprach, dass ich selbst kein Selbstwertgefühl habe. Dort erzählte ich, dass das Vorhandensein von Selbstwertgefühl einerseits nicht nur von innen heraus käme, sondern häufig von der positiven Bestätigung anderer Menschen abhängen - insbesondere in jungen Jahren, wo man dieses entwickelt - und andererseits keine notwendige Bedingung dafür sein dürfe, Liebe, Anerkennung, Jobs und anderer Ressourcen im Leben zu bekommen. Die Vorstellung, dass man mit genug Selbstwertgefühl und selbstbewusstem Auftreten jeden Job bekommen sollte - und nicht mit Kompetenz, Fachwissen und Fleiß - oder aber dass keine andere Person einen jemals lieben könne, wenn man sich selbst nicht liebe, sind meiner Meinung nach Blödsinn und absolut toxisch. Selbstbewusstsein ist tatsächlich eher abhängig von Glück und den Umsänden, in denen wir aufgewachsen sind. Es sagt nichts darüber aus, wie wertvoll, liebenswert und fähig wir sind. Ein selbstbewusster Mensch ist kein guter Mensch und meiner Meinung nach sollte letzteres eher das Ziel sein. Diese Aussage wurde von vielen jedoch fehlinterpretiert und so hagelte es lauter Vorschläge, wie ich an meinem eigenen Selbstwertgefühl arbeiten könne. Ob ich es schon einmal mit Therapie versucht habe. Dass man Selbstbewusstsein lernen könne. Ich müsse ja nicht einfach aufgeben.

Wieso eigentlich nicht? Die Sache ist ja eigentlich die: Mein fehlendes Selbstwertgefühl ist in seinem verursachten Schaden eindeutig eingrenzbar auf mein eigenes Leben. Die einzige, die darunter leidet, bin ich. Ich schulde niemandem Selbstbewusstsein und schade niemanden, wenn ich als kleine Maus auftrete. Ich habe das gute Recht, vor meinem eigenen Schatten Angst zu haben, niemals raus zu gehen, mich immer unter Wert zu verkaufen und komplett von anderen Menschen ausnutzen zu lassen. Natürlich wäre das nichts besonders schön für mich und alle Menschen, die mich ausnutzen würden, müssten sich einmal Gedanken um ihre eigenen moralischen Ansprüche machen. Aber mir könnte niemand etwas vorwerfen. Ich habe jedes Recht auf ein fehlendes Selbstwertgefühl.

Doch tatsächlich meinen die meisten Menschen, fehlendes Selbstwertgefühl sei ein charakterlicher Fehler und das Problem läge bei mir, wenn ich mich ausnutzen lassen würde. „Lass dir nicht alles gefallen“, erzählt man gerne Peoplepleaser:innen, aber niemand rät Menschen, Peoplepleaser:innen nicht auszunutzen.

Das Thema Selbstbewusstsein ist umso interessanter, weil es oft eine gesunde Psyche impliziert. Fake it till you make it, sagt man häufig und meint damit, dass Unsicherheit, Inkompetenz, Schüchternheit, negative Emotionen, Pessimismus bis hin zu Depressionen etwas sind, das es zu verbergen gelte, damit man äußerlich gesund, positiv, lebensbejahend und wie eine wertvolles Mitglied der Gesellschaft erscheint. Vielleicht geht es bei diesem Thema auch darum, wie wertvoll man für den Kapitalismus und die Wirtschaft ist. Nicht umsonst werden vor allem psychisch und körperlich kranke Menschen stigmatisiert, die arbeitslos sind. Alkoholismus und andere Süchte gelten oft vor allem dann als schlimm, wenn eine Person nicht mehr arbeiten kann, als wäre erst dann die Grenze von Gesundheit zu Krankheit überschritten.

Die Stigmatisierung von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit sind eng miteinander verwoben. Wer sich in seinem Beruf häufig krankmeldet, gilt als faul oder Drückeberger. Man entschuldigt sich bei Kolleg:innen, weil man gefehlt und diese mit den eigenen Aufgaben „belastet“ habe. Zu psychischen und körperlichen Krankheiten kommt die Scham, dass man kein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein scheint, da man nichts erwirtschaftetet und Steuern zahlt. Viele Arbeitgeber vertreten die Meinung, Krankheiten aller Art wären selbst verschuldet oder aber in Wahrheit gar nicht so schlimm, wobei beides voneinander manchmal gar nicht zu trennen ist. Es gilt als schlecht, krank zu sein, weil man damit vermeintlich zur Belastung anderer wird. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass Krankheiten hier vor allem moralisiert werden, wenn man sie Menschen ansehen kann oder diese offen darüber sprechen.

So sind Süchte, Essstörungen, Depressionen, aber auch körperliche Erkrankungen und Behinderungen so lange kein Problem, wie man sie niemanden ansehen kann. Krank aussehen und krank sein sind zwei verschiedene Dinge und Kritik bekommen in der Regel letztere. Besonders auffällig ist das zum Beispiel bei dicken Menschen. Dicke Menschen gelten in unserer Gesellschaft automatisch als krank oder auf dem Weg dorthin. Einmal abgesehen davon, dass diese Verbindung überhaupt nicht automatisch hergestellt werden kann und dicke Menschen top gesund sein können - genauso wie dünne Menschen, die krank sein können - wird dieses „Argument“ stets dafür genutzt, die eigene Fettfeindlichkeit zu verteidigen. Dicke Menschen versuchen immer und immer wieder zu erklären, dass Dicksein nicht automatisch zu Krankheiten führen muss, dass Mobbing und sozialer Ausschluss sowie Diskriminierung ebenso zu chronischen Erkrankungen führen kann und Untergewicht, Rauchen, Alkohol und andere Drogen nicht einmal annähernd so schlimm stigmatisiert werden wie ein hoher Körperfettanteil. Das Thema Gesundheit und Dicksein wird immer wieder neu verhandelt und dabei kommt ein zentraler Aspekt meiner Meinung nach viel zu kurz: Dass niemand der Gesellschaft Gesundheit schuldet.

Natürlich ist es relevant, darüber zu sprechen, dass der Körperfettanteil nicht automatisch etwas über den Gesundheitszustand von Menschen aussagt. Es ist relevant, dass die Heuchelei aufgedeckt wird, dass es dünnen Menschen „erlaubt“ ist, in der Öffentlichkeit Fastfood zu essen, zu rauchen und Alkohol zu trinken, während man dicken Menschen sogar Vorwürfe macht, wenn man sie Fitnessstudio antrifft. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, dass dicke Menschen extrem sportlich sein können, dass die Wahrnehmung davon, was als dick gilt, extrem eng mit dem Thema Race verbunden ist und dass Fettfeindlichkeit Frauen umso stärker trifft. Wir müssen darüber reden, dass es Menschen gibt, die einfach von Natur aus einen höheren Fettanteil haben.

Aber all diese Themen klammern den wichtigsten Aspekt aus: Dass jeder Mensch das Recht hat, diskriminierungsfrei, dick und ungesund zu sein. Niemand schuldet anderen Menschen Bewegung, Fitness, eine ausgewogene Ernährung und Sportlichkeit. Natürlich lässt sich darüber debattieren, inwiefern wir unseren Liebsten - und uns selbst! - schaden, wenn wir bewegungsunfähig werden, gepflegt werden müssen oder nicht mehr am Leben teilhaben können - doch das sind nicht die Aspekte, über die wir gesellschaftlich sprechen. Unsere fettfeindliche Gesellschaft ist der Meinung, dass dicke Menschen - weil sie vermeintlich ungesund sind - kein Recht dazu haben, Kleidung zu kaufen, ins Fitnessstudio zu gehen, Bikinis zu tragen, in Flugzeugen zu sitzen oder schlicht und ergreifend überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Es ist jedoch überhaupt nicht relevant, ob ein Mensch gesund ist, wenn es darum geht, wie dicke Menschen gesellschaftlich oft behandelt werden. Wie sie im Internet beleidigt werden oder in Fernsehserien verhöhnt. Warum wird immer wieder darüber debattiert, ob Dicksein gleichbedeutend mit Ungesundsein ist und nicht darüber, dass jeder Mensch auf der Welt ein schönes Leben verdient hat, egal ob gesund oder krank, dick oder dünn, Schwarz oder weiß, Mann oder FLINTA.

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