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Ohgottohgottohgott, mein lieber Sven,

jetzt ist Dein letzter Brief schon so lang her und ich kam nicht dazu, Dir zurückzuschreiben. Aber wo Dein Brief am 24. Oktober kam, soll meiner wenigstens am 24. Dezember bei Dir eintrudeln, als Weihnachtsgeschenk. Weil: Ich muss Dir noch was erzählen.

Ich saß gestern im Zug auf dem Weg in den Süden. Driving home for Christmas. Vor einigen Monaten bereits war ich darauf aufmerksam geworden, dass man im ICE Filme gucken kann, die stabil an allem anderen Wifi-Verkehr vorbei gestreamt werden. Eine Überholspur für gute Inhalte. Denn: Einer der Filme heißt aktuell „Ein Mann namens Ove“ und ich habe beim Gucken abwechselnd gelacht und geweint, manchmal ging das Lachen direkt ins Weinen über und wieder zurück. Meine Stimmung fühlte sich an, als würde in der einen Ecke des Himmels die Sonne scheinen, während es in der anderen gewittert, und verbunden sind die beiden über einen Regenbogen, auf dem man hin und her spazieren kann. Es gibt im Portugiesischen ein Wort namens “saudade“. Man kann es nicht übersetzen – es beschreibt einen Zustand melancholischer Fröhlichkeit und wenn es eine Geschichte gibt, die dieses Gefühl auf ideale Weise verkörpert, dann ist es diese von 2016, die mehrere Oscar-Nominierungen erhielt, in den Kategorien bester fremdsprachiger Film, bestes Make-up und, Achtung, beste Frisuren. Warum, wird Dir klar werden, wenn Du ihn siehst.

https://www.youtube.com/watch?v=ITCQcPpcilE (Si apre in una nuova finestra)

Der Film ist eine große Hymne aufs Leben, weil er davon erzählt, wie tief so mancher Schmerz sitzt und unsichtbar wird im Alltag, der, wenn man ihm nicht auf den Grund geht, einen zu einem mitunter schwer erträglichen Pedanten werden lässt. Es ist, als hätte man Hunger, der nicht verschwindet, selbst wenn man eine Bananen-Plantage äße, und man wird maulig, weil man die ganze Welt anklagt für etwas, was sie gar nicht verbrochen hat, dabei müsste man nur einmal kurz innehalten und sagen: Es tut mir leid, ich habe einfach Hunger, kann ich mal eben bei dir sitzen und dir erklären, warum mein Körper meint, keine Nährstoffe mehr aufnehmen zu können? Und dann offenbart man sich, isst anschließend zusammen eine Banane und es ist die leckerste Frucht, die man im Leben jemals zu sich genommen hat. Nichts ist so erlösend wie ein Schmerz, dem man in sich Raum gibt, und nichts so befreiend, wie ihn zu seinem Freund zu machen.

Und so wünsche ich Dir, mein lieber Sven, für die kommenden Tage Räume, in denen der Schmerz in Eurer Mitte sitzen darf, wo er Platz braucht, gerade zu Weihnachten, dem Fest der Liebe, das so oft daneben geht, weil wir glauben, Liebe bestünde einzig aus Lachen, dabei ist es oft viel verbindender, wenn man gemeinsam weint.

Ich habe in diesem Jahr oft geweint, mal still und heimlich, wenn ich unter Menschen war, damit es niemand mitbekommt, mal laut und wild, wenn ich allein in meiner Wohnung saß. Aber interessanterweise ging es mir danach immer viel besser – ich fühlte mich wie durchgespült. Ich habe mal gelesen, dass man im Leben so viel Tränen vergießt, dass man damit eine Badewanne füllen kann, und in diesem ablaufenden Jahr hätte ich von meinen Tränen mindestens ein Fußbad nehmen können. Der Krieg. Die Klimakatastrophe. Herzen, die ich ziehen lassen musste. Ein Trauma tief in mir, das weit zurück liegt, aber sich immer weiter den Weg nach oben gebahnt hat und inzwischen angekommen ist in meinem Leben, wie der Passagier in einem Zug, der sehr, sehr lang unterwegs war und es am Ende doch noch in den Bahnhof geschafft hat, wo ich am Gleis gewartet und das Trauma erstmal lang in den Arm genommen habe. Gute Reise gehabt? Komm, jetzt erstmal ein Glühwein, ja? Soll ich dir was abnehmen? Schön, dass du endlich da bist. Gut siehst du aus.

Und apropos: Auf dem Weg zum Zug gestern kam meine Tram zu spät und es war nicht möglich, die Frau in der Taxi-Zentrale dazu zu bringen, meinen Standort einzugeben, sie hätte eine Hausnummer gebraucht. Das Gespräch dauerte ewig, so lang, bis ich dann doch die Tram nahm und am Gleis nur noch die Rücklichter meines ICE sah. Und weil ich ein Ticket mit Zugbindung gebucht hatte, stand ich nun vor einem Problem. Also ging ich zur Zugbegleiterin des nächsten Zuges und sagte zu ihr: Verzeihen Sie bitte, ich habe meinen Zug verdaddelt und muss jetzt diesen nehmen – nehmen Sie mich auch so mit? Und sie blickte mich an und sagte: Ja, das können wir machen. Ich sags mal so: Wie man in den Zug hineinruft, so schallt es heraus.

Und dann traf ich Ove, sah währenddessen immer wieder aus dem Fenster und entdeckte irgendwann den Smiley auf dem Foto oben, den jemand in das Fenster gemalt hatte, wie eine geheime Botschaft, gedacht für jene, die Lust und Muße haben, sich nicht mit der Oberfläche des Lebens zufrieden zu geben, und bereit sind, dahinter zu gucken, weil sie wissen, dass es da erst aufregend und inspirierend wird, wenn auch manchmal anstrengend und aufreibend.

Aber wir sind doch nicht dazu da, uns mit dem ersten Blick abzufinden, den uns das Bewusstsein anbietet, oder, Sven?

Mit dem zweiten fühlt man besser.

Sei fest gedrückt,
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=7cY7DfUAobc (Si apre in una nuova finestra)

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