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Lieber Sven,

im vergangenen Sommer saß ich neben einem älteren Herrn auf einer Bank und hielt ihm ein Mikrophon unter die Nase. Er sagte, er sei weit über 80, aber ich hielt das für gelogen. Er machte auf mich den Eindruck eines fröhlichen Mannes, der noch ein paar Jahre vor sich hat, bevor er in Rente geht. Doch Arnold Mosshammer konnte mir sehr glaubhaft machen, dass er 88 Jahre alt war.

Zwei Stunden lang erzählte er mir von den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Zwischen 24. und 30. April 1945 verbrachte er die Tage als Zwölfjähriger zusammen mit seiner Mutter und rund 50 Frauen, Männern und Kindern im Keller eines Karosseriewerks in Halbe, einer kleinen Gemeinde im Dahme-Spreewald-Kreis, etwa 60 Kilometer südlich von Berlin. Der Ort ist heute bekannt für den größten Soldatenfriedhof Deutschlands. Eine Woche lang tobte in der sogenannten Kesselschlacht von Halbe ein furchtbarer letzter Akt des Krieges: Auf Befehl Hitlers sollten sich dort mehrere deutsche Divisionen vereinen, um die anrückenden sowjetischen Truppen davon abzuhalten, nach Berlin weiterzumarschieren. Mit kaum etwas zu essen und zu trinken warteten die Halber in ihren Verstecken darauf, dass es vorbei gehen möge. Als wieder Stille über dem Ort lag, kletterten Mosshammer und der Rest aus ihrem Versteck. Überall roch es nach Blut, die Leichen stapelten sich auf den Straßen. Rund 28 000 Menschen waren gestorben. Wochenlang hatten die Halber damit zu tun, die Leichen in Vorgärten und Schützengräben zu beerdigen. Anfang der 1950er Jahre wurden die sterblichen Überreste exhumiert und auf dem Soldatenfriedhof am Ortsrand bestattet.

An mehreren Stellen in Halbe erinnern Glasstelen an diese Schlacht mit dem Satz „Alle eure Hoffnungen sind zusammengebrochen.“ (mit einem Bild von einer Stele begann dieser Brief). Er stand auf einem Flugblatt, das die Rote Armee über den deutschen Soldaten abwarf, um sie davon zu überzeugen aufzugeben. Arnold Mosshammer erzählte mir von diesen Tagen so eindrücklich, dass ich, wann immer ich seitdem durch Halbe fahre, selbst die Berge aus Leichen sehe, über die er vor bald 80 Jahren gestiegen ist.

Dennoch war ich mir bis vor zwei Wochen natürlich genauso sicher wie Du, dass es so weit nie mehr kommen würde. Und heute? Sitze ich in meiner Küche, fühle mich schlecht beim Frühstücken, während die Nachrichten laufen, weil ich mein Laugenbrötchen essen kann, während in der Ukraine, in einer Entfernung kürzer als nach Rom, Menschen stundenlang anstehen für einen Laib Brot und schon so abgestumpft sind, dass sie sich von Schusswechseln ein paar Straßen weiter nicht abschrecken lassen, sonst verlieren sie ihren Platz in der Schlange. Und schaue auf das Haus gegenüber und frage mich, was von ihm übrig bleibt, wenn eine Rakete einschlägt.

Gestern morgen habe ich eine Frau mit ihrer Tochter zurück zum Hauptbahnhof gefahren, die für eine Nacht in der Wohnung einer Freundin übernachtete, bevor die beiden weiterfuhren nach Frankfurt. Dass ihr Haus in einer Stadt nahe Kiew zerbombt werden würde, war für sie bis vor zwei Wochen ebenso unvorstellbar. Heute ist sie Kriegsflüchtling und von dem, worin sie mal wohnte, ist nur noch ein Gerippe übrig. (Si apre in una nuova finestra) Und ich merke, wie ich an die Grenzen meines eigenen Bewusstseins stoße. Dahinter ist nichts als Dunkelheit. Deshalb tue ich alles dafür, um diese Linie nicht zu überschreiten.

Du schreibst in Deinem letzten Brief, dir sei nicht klar, wohin wir uns nun auf den Weg machen sollten. Ich selbst hatte Dir zuvor von meiner Hoffnung erzählt, dass uns der Februar 2022 einst als der Moment gelten werde, der uns kollektiv in Bewegung versetzt hat.

Weil wir erkannt haben, wie triftig die Warnungen all jener immer gewesen waren, dass die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen nicht nur ökologisch in die Katastrophe führt, sondern auch geopolitische Risiken birgt, die wir besser nicht eingehen sollten. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, schreibt dazu: (Si apre in una nuova finestra) „Der blinde Glaube in die Effizienz der Globalisierung hat sich bereits in der Pandemie gerächt und rächt sich nun durch den Krieg Russlands in der Ukraine doppelt.“

Weil wir einsahen, dass unser Wohlstand so lange auf tönernen Füßen steht, so lange wir blind sind davor, worauf er gründet.

Weil wir verstanden, dass wir nicht länger agieren können wie Otto Waalkes in „Otto. Der neue Film“ von 1987: (Si apre in una nuova finestra) Auf Befehl des Hausmeisters soll Otto alte Heizkörper entsorgen, die im Hof herumliegen. Weil sie ihm zu schwer sind, packt er stattdessen den Holzzaun und hebt ihn so über den Schotthaufen, dass er dahinter verschwindet. Stell dir vor, es ist Krieg, und Putin langt hin – und wir haben den Zaun, der uns vor den Folgen unseres eigenen Lebens abschirmt, so weit verschoben, dass wir uns jetzt nicht mehr rühren können.

Seit zwanzig Jahren, Sven, trainiere ich mein Denken darauf, in allem, was mir geschieht, etwas Gutes zu sehen, eine Botschaft, die es nur zu entschlüsseln gibt, um daraus zu lernen und daran zu wachsen. Das war eine bewusste Entscheidung, nachdem ich das Buch „Die Glücksformel“ von Stefan Klein gelesen und gelernt hatte, dass sich unser Gehirn trainieren lässt wie ein Muskel: Wer sich zwingt zum konstruktiven Denken, wird belohnt davon, dass die Synapsen die Verbindungen vom gelingenden Denken auf- und die vom misslingenden abbauen. Aus dieser Haltung meines Geistes heraus ist auch mein Brief vor zwei Wochen entstanden.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat vor knapp zwei Wochen ein Interview gegeben. (Si apre in una nuova finestra) Darin spricht er unter anderem davon, dass im späten 20. Jahrhundert ein „house of humanity“ entstanden sei, in dem die Menschen über Jahrzehnte kooperiert und kollaboriert hätten. In den vergangenen Jahren jedoch hätten wir vergessen, es instand zu halten. Jetzt wackeln die Mauern und das Dach droht davon zu fliegen. Also müssen wir unsere Blaumänner anziehen und es wieder reparieren. So stellt das Harari dar und ich würde ihm dabei so gern folgen.

Sehr zurecht aber haben mich in den vergangenen Tagen ein paar kluge Köpfe, denen ich von diesem Gedanken erzählt habe, darauf hingewiesen, dass es dieses house of humanity nie gegeben hat. Es war kein offener Jugendclub, in dem alle fröhlich ein und aus gehen konnten. Sondern eher eine Art Zigarrenclub, den nur betreten durfte, wer sich die hohe Jahresgebühr leisten konnte – eine gated community. Rein kommt nur, wer es am Türsteher vorbei schafft, und drin sind die Fenster verrammelt, damit niemand hineinsehen kann, aber auch niemand heraus. Ist ja kein schöner Anblick, wenn ständig Leute mit dreckigen Händen gegen die Scheiben hauen, weil sie nichts zu essen und zu trinken haben.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN FAO schätzt, dass durch die Ausfälle von Weizenlieferungen aus Russland und der Ukraine die Zahl der unterernährten Menschen weltweit um acht bis 13 Millionen steigen wird. Auf die Frage nach seinem Gemütszustand antwortete der Soziologe Harald Welzer vor einigen Tage: „Ich bin wunschlos unglücklich.“ (Si apre in una nuova finestra)Wir erleben den Zusammenbruch der Weltordnung – und ich ringe um meine Denkweltordnung, weil mein Gehirn und ich akzeptieren müssen, dass es Momente im Leben gibt, die keinen Sinn bergen, die die Hölle auf Erden sind und die es zu ertragen gilt, ohne verrückt zu werden vor Verzweiflung. Darauf hat mich "Die Glücksformel" nicht vorbereitet. Ich lerne gerade die Unglücksformel kennen. Doch ich kann nur existieren, wenn ich mir die dunkelste Sekunde immer und grundsätzlich als die vor dem Sonnenaufgang denken kann. Nur, wie lang wird diese Sekunde dauern, Sven?

Wir werden Zeuginnen und Zeugen des Beginns einer neuen Ära. Nach dem Fall der Berliner Mauer, der die Tür weit aufgestoßen hat in ein helles Zeitalter, von dem alle dachten, es sei gemacht für die Ewigkeit – mit einem 49-jährigen Wladimir Putin, der 2001 vor dem Bundestag vom neuen Europa sprach, mit Standing Ovations nach einer 20-minütigen Hymne auf Partnerschaft und Zusammenarbeit (Si apre in una nuova finestra)  –, erleben wir nun den Beginn einer Epoche, die alles in Frage stellen wird. Doch jetzt, Sven, gerade jetzt möchte und muss ich weiter nach den Krümeln Hoffnung suchen, die vom Bombenhagel übrig bleiben.

Die Feministin und Mitbegründerin des Centre for Feminist Foreign Policy Kristina Lunz hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“. Sie streitet darin für eine Politik, die Menschenwerte in den Mittelpunkt rückt und nicht Wirtschaftsbeziehungen. Und findet für die gegenwärtige Situation, in der über Nacht Milliarden Euro geschaffen werden für militärische Aufrüstung, einen passenden Vergleich: (Si apre in una nuova finestra)Wenn man einem Raucher über Jahrzehnte sagt: „Hör auf zu rauchen, sonst bekommst du Lungenkrebs.“ und er wird dann tatsächlich krank – heißt das dann, dass die Warnungen vergebens waren und man sie sich daher auch künftig sparen kann? Oder folgt daraus, dass wir gerade jetzt alles daran setzen sollten, Leute in Zukunft vom Rauchen abzuhalten? Im Moment tun wir so, als sei Krebs Schicksal und Nikotin sein Bote.

Vor zwölf Jahren startete die Russin Natalya Sindeyeva ihren eigenen Fernsehsender. Das Logo hatte dieselbe Farbe wie ihr pinkfarbener Porsche. Sie nannte ihn Doschd – Regen –, weil er wie ein warmer Sommerregen dafür sorgen sollte, dass sich seine Zuschauerinnen und Zuschauer als Blumen verstehen: bunt, vielfältig, auf dem unbeirrbaren Weg zur Sonne. In ihrem Team arbeiteten viele Homosexuelle, viele Hipster und Sindeyeva verordnete ihm ein Programm mit allein optimistische Nachrichten. Sie wollte sich nicht anlegen mit der Politik. Eine Satire auf Putin ließ sie stoppen. Doch dann musste sie mit ansehen, wie ihre eigenen Reporterinnen und Reporter verhaftet wurden, weil sie von Protesten gegen die Regierung berichteten. Oppositionspolitiker wie Boris Nemzov oder Alexej Nawalny wurden erschossen oder weggesperrt, weil sie sich Putin entgegenstellten. Und Sindeyeva erkannte, dass sie sich selbst, ihren Werten, ihrem Optimismus nur treu bleiben kann, wenn Doschd sich nicht versteckt hinter einer pinken Fassade, sondern die Wahrheit sagt. Im Laufe des 1. März 2022 wurde der Zugang zum Sender auf Forderung der russischen Generalstaatsanwaltschaft gesperrt. Doschd hatte trotz Putins Verbot weiter über den russischen Überfall auf die Ukraine berichtet.

In dieser krass sehenswerten Doku sagt Sindeyeva: (Si apre in una nuova finestra)

Dann wird dir klar, es wird nicht nur nicht besser, es wird noch schlimmer. Da bleibt nur, einen Weg zu finden, in dieser Welt weiterleben zu können.

Dieser Weg, Sven, kann für mich nur darin bestehen, die Hoffnung nie aufzugeben. Weiter einen Funken am Glimmen zu halten, der mich und andere entflammt, um für die Welt zu streiten und zu kämpfen, die ich mir wünsche für mich und meine Kinder, die ich nicht habe. Und sei es allein, weil ich mich Menschen wie Arnold Mosshammer verpflichtet fühle. Er wird keine 50 Jahre mehr unter uns sein. Es ist jetzt an uns, Sven, aus Erinnern Denken zu machen und aus Denken Tun. Seien wir die Blumen, damit Menschen wie Natalya Sindeyeva ihren Regen nicht umsonst vom Himmel fallen lassen.

Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=NoAZG_O-5ro (Si apre in una nuova finestra)

(Marlene Dietrich: Sag mir wo die Blumen sind)

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