Lieber Kai,
Vorab: Entschuldige, ich habe es heute nicht geschafft mich richtig kurz zu halten. Sieh es als Versuch an, das letzte, brieflose Wochenende aufzuholen.
Der Juno ist bereits um, die Sonnenwende hinter uns. Die Tage werden wieder kürzer. Noch merkt man davon glücklicherweise nicht viel, der Sommer und das gute Wetter verschleiern den kriechenden Prozess zur Wiederkehr der langen Nächte.
Das längste Wochenende des Jahres, das vergangene, habe ich auf einer wunderschönen Hochzeit an einem wunderbaren Ort, mit wundervollen Menschen (u.a. dir!) verbracht. Es war ein liebevolles Fest und zeigte glaube ich für alle Anwesenden, wie schön diese Momente sein können, mit den Liebsten, mit seinen Freunden und Freundinnen. Diese Momente mit den Menschen, die einem Liebe geben und denen man Liebe gibt. Und wie schön die Liebe sein kann. Dieses Wochenende war wie eine Blase, außerhalb der derzeitigen Zeit, des derzeitigen Raums, fernab der Krisen und der Probleme.
Diese Feste sollten eine Erinnerung für uns alle sein, wie wichtig wir, jeder Einzelne von uns, du, ich, sind. Wir alle haben so viel Positives zu geben haben und haben auch die Erlaubnis, ja den Auftrag, so viel Positives wie möglich zu empfangen. Das erlauben wir uns leider viel zu selten. Stattdessen fokussieren wir uns auf das Negative und laufen mit einer Grundskepsis und -zynismus durch das Leben. Ich hoffe dieses Fest in Erinnerung behalten zu können, auf unserem Weg in die dunklere Jahreszeit, in die kalten Nächte.
Mittlerweile bin ich rund 800 km entfernt im Südschwarzwald. Hier verbringe ich die nächsten fünf Wochen. Wieder einmal der Schwarzwald, wieder einmal ein Filmprojekt. Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich dir quasi die gleichen Zeilen geschrieben, auch da war ich für ein Filmprojekt hier unten. Wir haben sogar damals gemeinsam gezoomt, als ich die Fahrt angetreten bin.
Diesmal bin ich ganz alleine gefahren, letzten Dienstag um 5 Uhr morgens, quer durch die Republik. Neun Stunden Autofahrt lagen vor mir und eine Zeit, über die ich sehr dankbar war, da sie mir Zeit gaben um zu reflektieren und zu atmen. Ich führe derzeit doch ein sehr gestresstes Leben. Die Schlinge der kompletten Erreichbarkeit hat sich um meinen Hals gezogen. Stetig Fragen, e-Mails, To-Do's. Da hat so eine Autofahrt um 5 Uhr morgens in einem gemieteten SEAT Ibiza doch einiges für sich:
1. Dauert es vermutlich vier Stunden, bis die ersten Anrufe reinkommen
2. Ist es gesellschaftlich entschuldbar, dass ich weder e-Mails lesen oder beantworten noch anderen Aufgaben folgen kann.
Diese Art von aufgezwungener Auszeit ist nicht mehr in vielen Situationen gegeben. Selbst ICE-Fahrten erlauben mittlerweile die volle Einsatzbereitschaft. So bin ich schon mehrfach mit Kolleg*innen gereist, wodurch so mancher 4er Tisch zum Co-Working Space umfunktioniert wurde.
Nicht aber ich letzten Dienstag im kleinen Ibiza. Dem Hamsterrad ein Schnippchen geschlagen.
05:11 - A100 - nähe Schöneberg
Als ich mich also da früh morgens auf die Reise machte und in der ständigen Geschmackssuche war, ob ich jetzt lieber Heinz Strunck' neues Buch hören oder doch lieber von radioeins etwas erzählt bekommen wollte, fuhr ich ziemlich befreit und und entspannt über die fast leere Stadtautobahn. Wann habe ich es zuletzt so leer erlebt? Ich kann mich an keine Tageszeit erinnern. Auch der Weg über die A115 hinaus in Richtung Sachsen ergab das gleiche Bild: Freie Straßen.
Es wird gerade viel über Verzicht gesprochen. Ob Strom, Gas, Öl, eigentlich Konsum aller Art - wir sollen, nein, wir müssen verzichten. Das ist kein neues Lied, das sollen wir eigentlich schon länger. Nur die Begründung ist eine andere: Es geht nicht um Selbstdisziplin, um die Welt für morgen noch zu erhalten. Es geht jetzt darum, dass wir einerseits unabhängig von Russland werden, andererseits wir uns den bisherigen Konsum einfach nicht mehr finanziell leisten können. Verzicht ist keine Option mehr, sie ist für viele alternativlos geworden. Die Politik bringt das in ein Dilemma - auf der einen Seite könnte es für die gewünschte, politisch gewollte wirtschaftliche Transformation nichts Besseres kommen, als alle zu zwingen sich jetzt zu verändern. Auf der anderen Seite gibt es die Angst, dass diese Inflation und diese Krise Menschen in die Armut stürzt. Können Menschen so schnell ihr Leben umstrukturieren, sich einstellen auf die neuen Gegegebenheiten? Die Regierung hat dies mit einem Jein beantwortet und sowohl das 9 Euro Ticket als auch einen Tankrabatt eingeführt. Politik als Prinzip Wühltisch: Für alle was dabei, aber nichts, was wirklich nützlich ist.
05:46 - A9 - Nähe Mühlenfließ, hinter Beelitz
Was mir auf diesen leeren Straßen noch einmal klar geworden ist, ist die Dimension, von der wir hier gerade sprechen, wenn wir das mit der gesamtwirtschaftlichen Transformation und diesem Verzicht ernst meinen.
Nach meiner langen Reise habe ich Markus Lanz gesehen, wo Luisa Neubauer zu Verzicht gesagt: Verzicht ist doch nicht neu, wir verzichten doch überall: "In Sachen Gesundheit, Ernährung, Karriere, Urlaub - das ist das Normalste der Welt zu sagen, wir arbeiten mit dem, was wir haben."
https://youtu.be/rei8_IrFoSY?t=747 (Si apre in una nuova finestra)Ich kann ihr da nicht ganz zustimmen.
Denn auch wenn wir (wer immer das Wir ist) mit dem arbeiten, was wir haben, leben wir seit ziemlich langer Zeit in einer Gesellschaft, die darauf baut, dass wir von allem mehr wollen und ausblenden, was Dinge wirklich kosten. Dass 500 g Fleisch für 1-2 Euro zu kaufen gibt, ist das krasse Gegenteil von einem gesunden gesellschaftlichen Umgang mit Verzicht. Wir sind es hier in Deutschland gewohnt, dass die meisten Konsumgüter so billig werden, dass sich die meisten Leute es leisten können. Diesen mangelt es dann meist an Qualität, aber jeder kann bei dieser Konsumparty mitmachen, da ist für jeden Geldbeutel etwas dabei. Und dazu werden wir stetig weiter angehalten.
Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene funktioniert so unsere Wirtschaft (Das Grundprinzip unserer Weltwirtschaft ist ja, dass sie ständig wächst (Si apre in una nuova finestra)). Auf Mikroebene basiert darauf die Konsumgesellschaft, indem jeder Einzelne dazu angehalten werden, durch ein neues Telefon, neue Kleidung oder ein neues Auto mit der Zeit zu gehen. Eine ständig sich weiter entwickelnde Welt erfordert auch von uns allen eine Weiterentwicklung unserer selbst, damit wir in der Gesellschaft aktiv dabei sein und mitreden können - der Druck hier ist je nach Alter und Gesellschaft größer oder kleiner.
Ich bin in den 90ern größer und in den frühen Nuller-Jahren groß geworden. Die Welt, wie ich sie damals erlebt habe, was bei mir ankam, war: Die wichtigsten historischen Ereignisse sind bereits geschehen. Krieg in Europa ist was für die Geschichtsbücher (Der Jugoslawienkrieg wurde da gerne mal ignoriert), Kalter Krieg auch und wenn du dich gut anstellst und anstrengst, dann schaffst du es, verdienst Geld, machst Karriere. Du kannst dir ein Auto leisten oder tolle Urlaube an exotische Orten machen. So wie da drüben, überm Teich im gelobten Land, der USA.
06:55 - A9 nähe Weißenfels
Dreißig Jahre später hat im Durschnitt jeder US-Haushalt rund 115.000 Dollar Schulden (Si apre in una nuova finestra) - jeder Haushalt.
Verzicht ist doch nichts, was wir gerne tun. Verzichten zu müssen ist gesellschaftlich gebrandmarkt, was wir an unserem gesellschaftlichen Umgang mit Hartz IV Empfänger*innen sehen (und noch einmal diese wohl verdiente Buchempfehlung (Si apre in una nuova finestra) an dieser Stelle).
Die psychogische Schraube, an der wir jetzt drehen, ist Verzicht ein neues Framing zu geben: Energiesparen gegen den Krieg, Pullis gegen Putin. Fahrradfahren gegen Panzer. Apropos, bei meiner 2. Pause stolperte ich über diese Fahrzeuge mit litauischer Kennung.
09:03 - A71 - Raststätte Mellrichstädter Höhe West
Dieses Framing ist sehr spannend zu beobachten. Das gab es auch davor schon, Verzichten als identitätsstiftendes Merkmal. Doch egal wie wir den Verzicht framen: Ähnlich wie bei den Abstands- und Anstandsregeln der Corona Pandemie klappt dieser Verzicht bisher nur über einen begrenzten Zeitraum und einem Versprechen, dass es wieder anders wird. Mache A.), es führt zu B.) - das klassische Belohnungsprinzip. Es machen sicherlich viele mit, die sich das leisten können (s. mein letzter Brief, einigen fehlt einfach die Zeit). Es ist ja auch das moralisch Richtige und ziemlich en vogue.
Was nun aber vor uns liegt, ist die Aufgabe, über diesen Belohnungsprinzip hinauszuwachsen. Der Verzicht muss auf so eine Spitze getrieben werden, dass es zur Normalität wird. Nicht, gegen Putin, nicht, für Luisa Neubauer oder Robert Habeck. Sondern als Gewohnheit.
Was passiert denn, wenn der Krieg vorbei ist, Selenskyi triumphierend auf die Krim einfährt und die ukrainische Flagge hisst? Ich gehe jede Wette ein, dass wir erst einmal einen Autokorso durch Berlin sehen und die Rufe nach dem alten Leben unüberhörbar sein werden.
09:34 - A71 - nähe Oberstreu
Vielleicht sehe ich das alles auch gerade viel zu zynisch, das kann sein. Aber wenn die Gas- und Ölpreise irgendwann wieder runtergehen werden, machen wir dann weiter mit dem Verzicht? Wenn die Preise der Lebensmittel sich denken, kaufen wir dann weiter bewusster ein?
Vielleicht gibt es gar kein anderes Mittel, um eine Transformation zu starten, als dass wir uns Dinge nicht mehr leisten können? Damit niemand sich hinstellen muss, als (politisch) Schuldige, und diese Situation anweisen muss?
14:36 - B27 - nähe Hüfingen
Was es jetzt meines Erachtens braucht, ist es sich zu trauen, für neue Gewohnheiten zu sorgen. Das 9-Euro Ticket ist meines Erachtens so eine Maßnahme. Natürlich wahnsinnig teuer, aber wir brauchen politisches Handeln, das Gewohnheiten durchbricht, die zu Auslaufmodellen gehören. Und damit will ich keine stringente Verbotskultur. Das machen die hohen Preise ja gerade von ganz allein.
Das Tempolimit sehe ich da in einer ähnlichen Kategorie, ohne, dass ich mir davon viel verspreche oder ich da eine besondere Leidenschaft zu habe. Das betrifft jetzt besonders den Verkehrssektor und das ist sicherlich nicht alles.
Ein Maßnahmenpaket von Gewohnheitsbrechern ist ziemlich radikal und auch das Zeitfenster, wo so etwas politisch denkbar ist, ist klein. Aber ich denke jetzt wäre gerade noch Zeit dafür. Woran es fehlt, neben politischen Willen, sind kreative Ideen. Oder kannst du mir da weiterhelfen?
Und ganz zum Schluss: Wir diskutieren das alles, während in den USA das konstitutionelle Recht auf Abtreibung abgeschafft wurde. Und nicht nur das: Egal ob Klimaschutz (Si apre in una nuova finestra) oder Waffenrecht (Si apre in una nuova finestra), die USA driftet immer weiter nach rechts. Aber das braucht alles einen eigenen Brief.
15:32 Poststraße, Feldberg
Ganz liebe Grüße
Sven
https://www.youtube.com/watch?v=N2enjrlMXkY (Si apre in una nuova finestra)(Sharon Jones & The Dap Kings - I Learned The Hard Way)