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Mein lieber Sven,

ich habe gerade so viel um die Ohren, dass dieser Brief eher kurz ausfallen wird. Obwohl ich zu Deiner Frage viel zu sagen hätte: Wie lassen sich aus Scherben neue Flaschen machen?

Ich habe den Eindruck: Bei dem, worin wir im Moment stecken, werden wir uns über einen Mangel an Scherben eher weniger beschweren können in den kommenden Monaten. Gestern las ich in einem Artikel über die aufschwellenden Demonstrationen, die uns sehr gewiss durch den nahenden Herbst und Winter begleiten werden, wie eine Teilnehmende sagte: „Wir wollen einfach, dass es wieder so ist wie vor eineinhalb Jahren.“

Abgesehen davon, dass ich mir sehr sicher bin, dass sie dasselbe vor eineinhalb Jahren auch gesagt hätte: Sich einen Zustand zurückzuwünschen, der von Ereignissen zertrümmert wurde, die sich dem eigenen Einfluss entziehen, ist, als würde man sagen: Ich will einfach, dass ich auch im Oktober bis abends um halbzehn auf meiner Terrasse sitzen kann. Natürlich kann man sich das wünschen – allerdings besteht die Kunst des Lebens nach allem, was ich gelernt und begriffen habe, maßgeblich darin, die eigenen Wünsche in einem Maße mit der Wirklichkeit abzugleichen, dass sie einen Geist freisetzen, der etwas erschafft, und nicht jenen, der alles zerstört. Beide ziehen beständig durchs Bewusstsein und nur ich selbst kann entscheiden, welchem ich Wind unters Gewand gebe.

Dein Zorn über schlechte Handlungen anderer schaden dir selbst ungleich mehr als die Handlungen selbst.

Auch dieses Zitat habe ich gestern gelesen. Es geht zurück auf Marc Aurel. Und was mich angeht, weiß ich, wie sehr das stimmt. Ich erinnere mich etwa daran, wie vor der Bundestagswahl ein Transporter an mir vorbei fuhr mit einem großen COMPACT-Aufsteller auf der Ladefläche – hinter dem Magazin steckt ein Mann, der in einer Fernseh-Doku sinngemäß mal sagte: Ihm sei schon klar, dass Vieles darin vereinfacht dargestellt sei – aber man müsse eben zuspitzen, um Menschen zu erreichen. Wer dieser Logik folgt, entscheidet sich auch für: Natürlich weiß ich, dass Massentierhaltung eine Sünde ist, aber es ist doch nicht meine Schuld, dass Schweine aus Schnitzel sind.

Ich also auf dem Rad dem Transporter hinterher und rufe: Ihr seid solche Arschlöcher und ihr werdet nicht gewinnen. Danach haben die beiden mir irgendwas ebenso Reizendes hinterher geschrien und dabei gelacht. Ich habe bestimmt eine Stunde gebraucht, um mich davon zu erholen. Vor allem, weil ich wusste, wie sinnlos das war. Ich hatte nichts bewirkt als einen Schaden an meiner eigenen Seele.

Natürlich ist damit nicht gesagt, dass man sich im Ringen um eine bessere Zukunft besser ergibt, im Gegenteil. Aber wenn die AfD in den kommenden Monaten mit dem Slogan „Deutschland zuerst“ auf die Straße bittet, werde ich so wie gestern daneben stehen und „Kriwanek zuerst“ rufen.

Warum? Siehe bzw. höre unten.

Auf bald, Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=jjo5mJj-lbA (Si apre in una nuova finestra)

(Wolle Kriwanek – Reggae di uf)

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