Lieber Geburtstags-Kai,
Alles Gute zum Geburtstag. Nachträglich.
Wie so oft in diesen Briefen gibt es so vieles, über das ich sprechen, auf das ich antworten, reagieren möchte! Aber ich versuche mich mal zu limitieren und greife nur das Thema Wirecard auf. Kurz wird der Brief dennoch nicht. Ich habe viel zu erzählen.
Danke für die Doku, ich habe sie direkt verschlungen. Sowieso: Ich verschlinge so ziemlich alles, was ich über den Fall Wirecard finden kann. Auch zu empfehlen ist der Podcast der Sueddeutschen zum Thema namens "1,9 Milliarden Lügen (Si apre in una nuova finestra)". Ich tippe, den kennst du bereits.
Der Fall Wirecard hat deshalb für mich eine so große Faszination, weil ich im letzten Jahr tatsächlich angefangen habe mich zum ersten Mal richtig ernsthaft mit Aktien zu beschäftigen und auch einen großen Teil meines Geldes damals in Aktien gesteckt habe. Passives Einkommen und so.
Aktien habe ich ehrlich gesagt bis dahin wenig bis garnicht verstanden. Ich wusste, was der DAX ist, ich wusste, was Aktien bedeuten, aber das ganze Prinzip dahinter, inkl. Chart-Technik, Kauf- und Verkaufssignalen, Zertifikate, Optionsscheine - all das war für mich Neuland. Und weswegen mich der Fall Wirecard wohl auch interessiert: Auch ich besaß letztes Jahr Wirecard-Aktien.
Meine einzige Börsenerfahrung davor waren ein paar Telekomaktien, die für mich gekauft wurden, als ich ein Kind war. Erinnerst du dich da noch dran?
Die so-called T-Aktie, die so-called Volksaktie. Die Telekomaktie galt Mitte der 90er Jahre als der perfekte Einstieg, um die ersten Schritte auf dem Börsenmarkt zu gehen. Das war im November 1996. Sie galt als sicher, ähnlich wie die Rente. Telekom-Chef Sommer sogar wörtlich: „Die T-Aktie wird so sicher wie eine vererbbare Zusatzrente sein."
Im Mai 2000, inmitten der Dotcom Blase, platzte der Volksaktientraum der T-Aktie. (Si apre in una nuova finestra) Aus dem Rekordhoch von 103,50 Euro rutschte sie zuerst auf ca. 30 Euro. Im Folgejahr ging es runter bis 14 Euro, 2002 sogar runter auf 8,55. Wer zum Höchstkurs beispielsweise 1000 Euro in die T-Aktie gesteckt hätte, hätte für die gleichen Aktien zwei Jahre später nur 82 Euro bekommen. Ein Verlust von 918 Euro.
Ganz so schlimm war es bei mir nicht. Ich glaube es waren ca. fünfzig Prozent des Einsatzes, die übrig blieben und ich mir dann 2008, zu meiner Abizeit, für einen Kurs von 13,40 auszahlen ließ. Dennoch ein bisschen bescheuert.
Eigentlich hätte uns anhand der zweifelhaften Telekom- Werbung schon klar ein müssen, dass man besser nicht auf die Telekom setzen sollte. Beispiel gefällig?
https://www.youtube.com/watch?v=DOT60qLVINg (Si apre in una nuova finestra)Aber zurück zu Wirecard.
Den meisten, den Nicht-Börsianern, wird die Aktie erst ab dem 18. Juni ein Begriff gewesen sein. An diesem Tag , um 10:43, schickte Wirecard folgende ad-hoc Meldung raus: „Der Abschlussprüfer der Wirecard AG, die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, München, hat die Wirecard AG darüber informiert, dass über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro (dies entspricht in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme) noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen waren.“
Im Klartext: Nach der Prüfung durch das Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY muss das DAX-Unternehmen Wirecard, eines der führenden New Economy Unternehmen Deutschlands, feststellen, das in ihrer selbst erstellten Bilanz eine Summe von 1,9 Milliarden Euro stehen, deren Existenz nicht nachzuweisen sind. In diesem Moment wurde auch dem wohl letzten klar: Es wurde betrogen - entweder von Wirecard oder jemandem dahinter.
Der Aktienkurs implodierte. Wenige Tage später ging Wirecard insolvent. Auch wenn Wirecard zuerst sich selbst als Opfer darstellt, wird in kurzer Zeit klar, dass sie selbst die Strippenzieher sind. Jan Marsalek, einer dieser Strippenzieher, war zu diesem Zeitpunkt schon irgendwo hinter Belarus. All das ist oft besprochen worden.
Aber worüber die wenigsten sprechen, ist, was zwei Monate zuvor passiert ist. Bereits Ende April gab es einen Prüfbericht eines anderen Wirtschaftsprüfungsunternehmen. Nicht von Ernst & Young (EY), sondern von KPMG. Auch damals, im April 2020 gab es dieses Geld nicht. Auch die KPMG konnte die 1,9 Milliarden nicht finden. Der Aktienkurs von Wirecard stand zu dem Zeitpunkt bei 135 Euro.
Die Reaktion der Börse war ähnlich wie zwei Monate später: Die Aktie brach ein, aber nicht auf einen einstelligen Betrag, auf zwischenzeitig 76 Euro. Ja, das ist auch ein empfindlicher Einsturz - aber nicht zu vergleichen mit dem, was das Fehlen von 1/4 der Bilanzsumme eigentlich bedeuten würde. Warum es nicht schlimmer wurde? Weil Wirecard beteuerte, dass das alles ein Missverständnis sei und die Börse es ihr, insgesamt, glaubte.
Eine Woche nach diesem KPMG Bericht im April änderten vielen Analysten ihre Kursziele für Wirecard. Falls du das nicht kennst: In den ganzen Banken sitzen ganz viele kluge Menschen, Analyst*innen, die das Potential von Aktien analysieren und daraufhin Kursziele für diese für die nächsten 12 Monate veröffentlichen. Werden solche Kursziele veröffentlicht, reagieren die entsprechenden Aktien häufig darauf, weswegen solche Kursempfehlungen auch oft dann zur self-fulfilling prophecy werden (zumindest kurzfristig).
Und bei Wirecard? Dem Unternehmen, dem wenig später das Fehlen von einem Drittel ihrer Bilanzen bewiesen wurde? Wie sahen die Kursziele nach diesem KPMG Bericht aus?
HSBC: Von 210 Euro runter auf 105 Euro.
Morgan Stanley: Von Overweight (performt besser als der Markt) zu Equalweight (performt wie der Markt).
Commerzbank: Von 230 Euro ... auf 230 Euro.
Die Analystin der Commerzbank hieß Heike Paul und steckte, wie sich mittlerweile herausstellte (Si apre in una nuova finestra), mit Wirecard unter einer Decke.
Aber auch ansonsten gab es auch in der Zeit danach nicht der Glaube daran, dass Wirecard wirklich etwas falsch gemacht hat. Die Meinung war eher: Das Management sollte ersetzt werden. Nicht etwa: Der ganze Laden stinkt.
Ende Mai raten von 25 Experten 13 zum Halten der Wirecard-Aktie. Dem stehen zehn (!) Kauf- und zwei Verkaufsempfehlungen gegenüber. Nur zwei
Verkaufsempfehlungen. Zwei.
Und das trotz des KPMG Berichts im April und vergangenen Anschuldigungen von 2008, 2015, 2016, 2018 und 2019 u.a. von der Financial Times, dem Manager Magazin sowie verschiedener Shortseller (wie in den ganzen Dokus erklärt). Der Aktienkurs von Wirecard lag zu diesem Zeitpunkt bei 93 Euro.
Am 16. Juni, zwei Tage vor dem Absturz, schreibt DER AKTIONÄR (Si apre in una nuova finestra), das beliebteste deutsche Aktienportal: "Bei den Anlegern wächst im Vorfeld des wichtigen Termins die Zuversicht: Nachdem die Wirecard-Aktie am Montag rund 6,8 Prozent zugelegt hat, klettert sie am Dienstagmorgen um weitere 3,8 Prozent nach oben. Die 100-Euro-Marke wurde damit wieder zurückerobert. DER AKTIONÄR rät aber dennoch zu erhöhter Vorsicht."
Ist das zu glauben? Eigentlich nicht. Zu sagen, dass der Wirecard Skandal aus dem Nichts kam, kommt der Wahrheit nicht nahe. Es war ein Absturz mit Ankündigung. Doch viele Analyst*innen, viel Aktionär*innen, blieben Wirecard treu. Warum?
Meine Theorie: Grund dafür ist die Mischung aus zwei Dingen, die zusammen teuflisch sind: Hoffnung und Gier.
Die Hoffnung, dass dieses Unternehmen ja niemals so schlimm sein kann, wie die Berichte sagen ("Es ist doch ein DAX-Unternehmen. Kann doch nicht sein.") Und die Gier, dass die Widerlegung dieser Anschuldigungen zu einer Kursexplosion führen werden. Und bei dieser Party wollte man ja dabei sein. Auch DER AKTIONÄR schrieb Ende Mai noch "Wirecard: 170 Prozent Kurspotenzial?" (Si apre in una nuova finestra). Bei vielen Aktionär*innen überwog die Chance, schnelles Geld zu machen. Die Chance, dass Wirecard wieder an alte Zeiten anküpften könnte.
Dieser Glaube pulverisierte 10 Milliarden Euro Börsenwert in kurzer Zeit.
Ich erwähnte ja eingangs, dass ich auch Wirecard-Aktien besaß. Ich habe mich von meinen fünf Wirecardaktien übrigens am 16. Juni 2000 verabschiedet, zwei Tage vor dem bösen Erwachen. Damaliger Kurs: 101,50. Auch ich sah den ansteigenden Kurs der Wirecard-Aktie und fragte mich: Soll ich es nicht vielleicht doch wagen? Aber in mir war der Zweifel zu groß und 500 Euro dann doch zu viel Geld. Also verkaufte ich. Glück für mich, aber das Pech vieler anderer Anleger*innen, die teilweise ihre gesamte Rente in Wirecard Aktien gesteckt haben. Hätte ich die Aktien behalten, wären sie eine Woche später nur noch 10 Euro Wert gewesen, so wie es vielen ging, die nicht die Zeit und Muße haben, das tägliche Börsengeschehen zu verfolgen.
Neben den Versäumnissen der BaFin (als staatliche Kontrollinstanz) oder der Wirtschaftsprüfer von (Si apre in una nuova finestra) EY (Si apre in una nuova finestra) (als wirtschaftliche Kontrollinstanz) finde ich es bei dieser Debatte wichtig auch darüber zu sprechen, wie viele Menschen, selbst kompetente Analyst*innen und Journalist*innen, immernoch die Hoffnung hatten: Am Ende wird schon alles gut werden. Das große Erwachen kam am Morgen des 18. Juni.
Dieses Erwachen, dieser Reality Shock, ereilt uns jetzt gerade auch in der 4. Welle der Coronapandemie. Dieses Erwachen wird uns, auf kurz oder lang, auch bei der Klimakrise ereilen. Immer wieder bleibt die Hoffnung für das Happy End. Aber das kommt nicht von selbst. Und manchmal gibt es das auch einfach nicht.
In der griechischen Mythologie gibt es die Büchse von Pandora. Es verhielt sich mit der Büchse ähnlich wie mit dem Apfel im Paradies. Zeus sagte ausdrücklich: BITTE DIESE BÜCHSE NICHT ÖFFNEN.
Na, was glaubst du hat Pandora gemacht? Genau.
Daraufhin entwichen aus ihr alle Laster und Untugenden. Von diesem Zeitpunkt an eroberte das Schlechte die Welt. Zuvor hatte die Menschheit keine Übel, Mühen oder Krankheiten und auch den Tod nicht gekannt. Als einzig Positives enthielt die Büchse die Hoffnung. Bevor diese auch entweichen konnte, wurde die Büchse wieder geschlossen.
(wikipedia.de (Si apre in una nuova finestra))
Nietzsche sieht das mit der Büchse anders. Für ihn ist die Hoffnung nicht das einzig Positive in der Büchse, sondern das Allerschlimmste: "Sie ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert." (ebd.)
Nun, in den obigen Fällen verlängert sie nicht nur die Qual, sondern ist sie Wurzel eines Übels, das wir bekämpfen müssen, auch wenn es manchmal unbequem ist.
Mittlerweile stellen die Börsen den Handel mit Wirecard Aktien endgültig ein (Si apre in una nuova finestra).
Der derzeitige Kurs: 0,08 Euro. Hardcore.
Ganz liebe Grüße
Sven
https://www.youtube.com/watch?v=MwGrqNJXQnc (Si apre in una nuova finestra)(ABAY - ALWAYS HARDCORE)