Lieber Sven,
in meiner überaus groß ausgeprägten Bescheidenheit begreife ich mich seit längerem als Heiland und so teilt sich auch bei mir die Zeitrechnung in ein Davor und Danach, deren Nullpunkt ich bestimme. Es ist der Klimagipfel von Paris im Jahr 2015, den vor Ort mitzuerleben ich das große Glück hatte. Seitdem gilt in meinem Leben nur noch v.P. und n.P. – die zwei Wochen im Dezember vor sechs Jahren haben mein Leben insofern grundlegend verändert, als ich dort vor allem eine Lektion begriffen und seitdem nicht mehr vergessen habe: Wir scheitern nicht seit Jahrzehnten daran, den unabdingbaren Umbau unserer Welt anzupacken, weil wir auf die richtigen Fragen stets die falschen Antworten fänden. Sondern weil wir die falschen Fragen stellen.
Solange wir nicht bereit oder in der Lage sind, dies anzuerkennen, werden wir wie der Kapitän eines rostigen Containerschiffs immer nur unbeholfen vom einen Leck zum anderen hüpfen in der verzweifelten Hoffnung, den Untergang abzuwenden – zu ruhiger Seefahrt finden wir so nicht mehr zurück. Im Jahr 6 n.P. fragt sich der Heiland in mir gerade jeden Tag ein bisschen mehr, wie tief das Schiff noch im Wasser versinken muss, bis wir merken, dass wir nicht die Löcher flicken, sondern das Schiff wechseln müssen. Dabei habe ich selbst es ja vergleichsweise einfach: Ich werde, wenn es so weit ist, einfach über die Reling springen und übers Wasser laufen. Aber ich bin da ja eher Einzelfall.
Nachdem der deutsche Finanzminister Christian Lindner am vergangenen Montag seinen Haushaltsentwurf vorgestellt hatte – mit erneuter Aussetzung der Schuldenbremse und der Ankündigung, für Entlastungen bei den hohen Energiepreisen zu sorgen, was am Freitag dann prompt folgte –, gab es am Abend im Deutschlandfunk einen bemerkenswerten Kommentar. (Si apre in una nuova finestra) Der WDR-Journalist Lothar Lenz machte darin mal eben Kassensturz. Mehr als 400 Milliarden Euro kostet den Bund die Corona-Pandemie bis heute. Eine ganze Generation wird damit zu tun haben, zu erwirtschaften, was wir in zwei Jahren ausgegeben haben. Nun kommen der Ukraine-Krieg und seine Folgen: die Aufnahme, Versorgung und Integration der Geflüchteten; Aufrüstung der Bundeswehr, über deren tieferen Sinn nun langsam eine gesellschaftliche Debatte in den Sinn kommt – etwa darüber, warum der Bundeswehretat seit 2015 sukzessive um 14 Milliarden Euro auf nun 47 Milliarden Euro erhöht wurde (Si apre in una nuova finestra) und die Bundeswehr laut Angaben ihres Heeresinspektors trotzdem dasteht wie Rentner am FKK-Strand von Usedom. (Si apre in una nuova finestra) Kann es vielleicht sein, dass ohne grundlegende Reformen auch die 100 Milliarden Euro Sondervermögen nicht zu einer angemessenen Bekleidung führen werden?
Dann thematisierte Lenz die Probleme in der deutschen Industrie, der die Lieferketten zusammenbrechen und die Rohstoffpreise um die Ohren fliegen – genau zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Anstrengungen intensivieren muss, den Weg in die Klimaneutralität einzuschlagen. Und zuletzt folgten steigende Lebemsmittel- und Spritpreise.
Lenz‘ Fazit: Der Ukraine-Krieg wird sich bald als Wendepunkt für unseren Wohlstand entpuppen. Ist Dir klar, Sven, was Lenz da so gelassen ausspricht? Ein Wendepunkt für unseren Wohlstand. Wir erleben gerade nicht nur, dass Formeln wie „Wandel durch Handel“ immer nur eine Illusion waren, die sich so lange hielten, wie sie Machthabern in die politische Agenda passten. Wir müssen auch anerkennen, dass jetzt eine bald 80 Jahre währende Etappe endet – die vom ständigen Fortschritt, die vom Bruttoinlandsprodukt, das morgen größer sein muss als heute, und die von einem Leben, in dem vielen ein Tempolimit als die größtmögliche Beschränkung des eigenen Lebens gilt. Ich prophezeie, Sven: Es wird eine Zeit kommen, in der wir uns wünschen werden, dass die Einführung einer Geschwindigkeitsbeschränkung, die heute bereits in 20 europäischen Ländern gilt, unser größtes Problem sein möge. Wäre diese Debatte nicht so absurd und die in ihr verborgene Ignoranz so folgenreich, ich könnte mich darüber sehr amüsieren. Denn die Weigerung, ein Tempolimit zu akzeptieren, verrät so viel über jene, die sich ihr verpflichtet fühlen. In Wirklichkeit sagen sie: Natürlich bin ich bereit, meinen Teil der Verantwortung für den Erhalt unserer Welt anzunehmen – er besteht im Wesentlichen darin, sie von anderen einzufordern.
Kein Wunder, dass sich in der Politik gerade niemand traut, so klar auszusprechen, was jetzt auf dem Tisch liegt. Aber sagen wir, wie es ist: Wer nochmal schnell für 30 Euro nach Mallorca fliegen möchte, um ür eine Woche auszuspannen, sollte das lieber heute als morgen machen. Die Ära des scheinbar folgenlosen Wohlstands und der billigen Energien, die niemals versiegen, ist vorbei. Wir wissen es, aber wir spüren es noch nicht. Und deshalb glauben viele immer noch, die MS Deutschland ließe sich auf Kurs halten. Doch ob wir es sehen wollen oder nicht: Das Traumschiff droht gegen einen Eisberg zu schrammen. Wir unterbrechen diesen Brief für ein paar Takte Musik.
https://www.youtube.com/watch?v=aBI8WXLaB_o (Si apre in una nuova finestra)Ich mache mir das alles selbst nicht leicht. Wenn ich diese Musik höre, sitze ich sofort in meiner eigenen Vergangenheit im Wohnzimmer meiner Oma. Mache ich mir bewusst, was nun auf uns zukommt auf dem Weg in die Zukunft, wird mir bang und es hilft, mir jeden Tag aufs Neue bewusst zu machen, dass auch viel Gutes entstehen wird: neue Allianzen, neue Räume, neue Gemeinschaften. Zum einen ist der Wohlstand schon viel zu lange sehr ungleich verteilt. Eine Gesellschaft, die weiter in diesem immensen Ausmaß von Ungleichheit verharrt, kann nicht zur Ruhe kommen. Und zum anderen haben wir Burn-Outs, kaputte Ehen und vereinsamte Kinder schon viel zu lang als Kollateralschäden und Trophäen eines vermeintlich erfolgreichen Berufslebens in Kauf genommen.
Gestern sah ich den Tweet eines Freundes: Ein Ehepaar aus Paris sucht ein halbes Jahr vor der Geburt seines Jungen eine Kinderfrau – „Mama und Papa arbeiten viel.“
https://twitter.com/felixzimmermann/status/1507672223024357381?s=21&t=oeG9bdC26KLM2uxTXAGe4w (Si apre in una nuova finestra)Mir ist ebenfalls klar, dass schmerzhafte Einschnitte gerade auf jene zukommen werden, die in den zurückliegenden 80 Jahren hart gearbeitet haben, um Wohlstand für sich, aber auch für ihre Kinder und damit für die Gesellschaft insgesamt zu erwirtschaften (wenn auch wahrscheinlich nicht die ganzen 80 Jahre lang). Dass jetzt die Ergebnisse von Fleiß, Leistung und Risikobereitschaft in Frage stehen, die über so viele Jahre und Jahrzehnte gesellschaftlich akzeptierte Werte waren, ist hart und ich verstehe alle, die jetzt erstmal die Arme vor der Brust verschränken und sagen: Mit mir nicht, Freunde! Denen möchte ich zurufen: Bitte wehrt nicht jeden Versuch, über den Wandel ins Gespräch zu kommen, ab mit dem bösen I-Wort. Und ich meine damit nicht „Idiosynkrasie“ (laut Duden eine besonders starke Abneigung oder Widerwillen gegenüber bestimmten Menschen, Tieren, Speisen oder Dingen).
„Ideologie“ vielmehr heißt es ja immer schnell, wenn jemand einen auf den ersten Blick vernünftigen Vorschlag ablehnt. Aktuelles Beispiel: die Verlängerung der Kernkraft, um einerseits unsere Klimaziele noch zu erreichen und uns andererseits unabhängiger zu machen von den Energielieferungen aus Russland oder dem Nahen Osten. Frankreich und Belgien bauen neue Atomkraftwerke, aber wir Deutschen sind so doof, an der Energiewende festzuhalten. Kann ja nur das Ergebnis ideologischer Verblendung sein.
Was bei derlei Debatten gern unter den Teppich gekehrt wird: Kein Versicherer weltweit ist bereit, Atomkraftwerke zu versichern – wegen der unkalkulierbaren Risiken. Atomkraftwerke lassen sich nicht einfach an- und abschalten, sondern sind ihrerseits schwerfällige Dampfer – sie stünden damit einer Wende zu erneuerbaren Energien so lange im Weg, bis es dafür definitiv zu spät wäre. Und: Strom aus Kernenergie ist nur so lange günstig produziert, solang man die Baukosten genauso außer acht lässt wie die Folgekosten, zum Beispiel die der nach wie vor nicht gelösten Lagerung des Atommülls.
Bevor wir über die Renaissance der Kernkraft diskutieren, müssen wir uns zuerst ganz andere Fragen stellen: Wie und wo können wir unseren immensen Energiehunger reduzieren, jede und jeder für sich individuell, aber auch wir insgesamt als Gesellschaft? Wie können wir unsere Wirtschaft so umbauen, dass wir sie auch mit weniger Energie am Laufen halten können? Wie federn wir den Rückgang unseres Wirtschaftswachstums ab, der damit unweigerlich einher gehen wird? Und zuletzt: Wird unser Leben wirklich so viel schlechter werden, wenn wir gemeinsam ein neues Verständnis davon aushandeln, was wir für ein glückliches und erfülltes Leben brauchen? Das sind die Fragen, die wir uns jetzt stellen müssen, und aus ihren Antworten leitet sich ein grundsätzlich neu organisiertes Gemeinwesen ab, auf das wir uns lieber früher als später vorbereiten. Mit der Frage: "Wie können wir die eine Art der Energieerzeugung durch die andere ersetzen?" verschieben wir die Debatten nur wieder ein bisschen weiter in Richtung Eisberg.
Ach, Sven, ich könnte noch ewig so weitertippen. Aber wir haben ja noch einige Jahrzehntchen vor uns. Eigentlich geht’s mir doch nur darum, uns zu jeder Sekunde daran zu erinnern, wie kostbar es ist, dass wir hier sind und das Glück haben, an einem Tag wie heute die Sonne genießen zu können, und dass wir alles daran setzen müssen, dieses Glück auch für jene am Leben zu erhalten, die noch folgen werden oder nicht das Privileg haben, in einem Land wie Deutschland geboren worden zu sein.
Gestern Morgen bin ich mit der Nachricht aufgewacht, dass Taylor Hawkins gestorben ist, der Schlagzeuger der Foo Fighters. Ich habe die Band einmal live gesehen. Die Liebe, die da zwei Stunden lang von der Bühne über die 50 000 Menschen davor geschwappt ist, habe ich nie mehr vergessen. Liebe ist doch die einzige Ideologie, auf die wir uns alle einigen können.
Amen.
Liebe Grüße vom Heiland,
Dein Kai
(Foo Fighers - Wheels)