Mein lieber Sven,
zwei Jahre lang habe ich mir vorgestellt, wie sich die Welt anfühlen würde, wenn wir kollektiv aus diesem bösen Traum namens Pandemie erwachen würden. Ich habe mir ausgemalt, wie wir mit den ersten warmen Sonnenstrahlen auf die Straße hüpfen und tanzen würden und sich das Leben anfühlen würde wie eine Hochzeit, die einfach nicht mehr endet. Und dann wäre plötzlich Oktober und wir hätten unsere Gedanken und Gefühle, die Freude und die Lust in uns aufgeschüttelt wie Federn in einer Bettdecke, die zu lang zusammengeknüllt im Schrank gelegen hat.
Meine größte Sorge seit Ausbruch der Pandemie vor zwei Jahren war, ob wir alle verrückt werden würden vor Glück und genügend Therapieplätze finden würden, um nicht dem Wahnsinn anheimzufallen. Jetzt ist die Pandemie für beendet erklärt und wir stecken mit dem Krieg gegen die Ukraine in einem noch böseren Traum und wir sind, wie ich vor zwei Tagen auf Twitter las, noch eine Stichwahl vom Ende Europas entfernt. (Si apre in una nuova finestra) Heute ist meine größte Sorge, ob wir alle verrückt werden vor Verzweiflung.
Ich habe Deinen Brief aufmerksam gelesen und mich natürlich mit Dir gefreut darüber, Freunde wieder getroffen zu haben und dafür in die Ferne gereist zu sein. Aber natürlich habe ich mich beim Lesen gefragt, wem es hilft, wenn Du Dir Deine Entscheidung für einen solchen Tripp nicht leicht gemacht hast. Die Treibhausgasmoleküle, die Deine Flugzeuge ausgeschieden haben, schweben ja jetzt nicht mit dem Etikett „An diesem CO2 hängt das schlechte Gewissen von Sven K.“ durch die Atmosphäre.
Die Triebwerke, die Dich Tausende von Kilometern durch die Luft haben segeln lassen, wurden auch nicht betrieben mit Öl aus Staaten, bei denen sichergestellt ist, dass Menschenrechte respektiert und kritische Stimmen toleriert werden. Das wäre mal eine echte Marktlücke – Tankstellen, die mit dem Slogan „Hier tanken Sie garantiert demokratieneutral!“ für sich werben. Aber dann würde der Liter Benzin dummerweise das Doppelte kosten und schnell würde sich ein Politiker finden, der von Wohlstand und Arbeitsplätzen spräche und davon, dass eine demokratieneutrale Fortbewegung nicht das Privileg der Besserverdienenden sein dürfe, und nach zwei Tagen wäre der Spuk wieder vorbei und wir würden weiter das Benzin tanken, das eben aus der Zapfsäule kommt, jetzt aber immerhin mit schlechtem Gewissen, weil wir jeden Tag mit eigenen Augen sehen, dass Diktatoren damit Kriege finanzieren, die so brutale Bilder in unsere Instagram-Kanäle spülen, dass wir für deren geistige Verarbeitung tatsächlich psychologische Hilfe gut gebrauchen könnten.
Und dennoch kann und will ich Dir natürlich nicht böse sein für Deinen Flug – wer wäre ich, Urteile zu fällen? Vor viereinhalb Jahren waren wir zum ersten Mal mit unserer Show vollehalle (Si apre in una nuova finestra) auf der Bühne. Ein halbes Jahr lang hatten wir uns auf diesen Abend vorbereitet und dafür Menschen getroffen, die jeden Morgen aufstehen, um uns auf ein gedankliches Gleis zu setzen, das uns von dem zerstörerischen Denken und Verhalten abbringt, mit dem es Deutschland zum Exportweltmeister und zur viertgrößten Industrienationen des Planeten gebracht hat und wir als Gesellschaft zu einer Gemeinschaft, die die Augen fest zudrücken muss davor, dass unser Lebensstil das Letzte ist, was wir exportieren sollten, weil wir, würden alle Menschen auf diesem Planeten so rücksichtslos leben wie wir, vier Erden bräuchten für den daraus resultierenden Ressourcenhunger.
Am Tag nach unserer Premiere stieg ich gemeinsam mit meiner Blaskapelle in ein Flugzeug, das uns für eine viertägige Konzertreise nach Zypern schaffte. Immerhin habe ich auf dem Rückweg den beiden Piloten im Cockpit zugerufen: „Was seid ihr nur für rücksichtslose Schweine – schonmal was von Erderwärmung und Klimakrise gehört?“ Kleiner Scherz. Ich habe Tomatensaft bestellt.
Wir sind Menschen, Sven. Fehlbar und widersprüchlich. Wir treffen Entscheidungen, für die wir unsere kurzfristigen Bedürfnisse über die langfristigen Schäden stellen, die damit einhergehen. Wir spielen, ohne es zu merken, jeden Tag mit uns selbst „Ich sehe was, was du nicht siehst.“, indem wir unsere Sicht auf die Welt zum Maßstab unseres Handelns machen und versäumen, die Sicht von anderen in genügendem Maße miteinzukalkulieren, weil uns die inneren Kapazitäten dafür fehlen, die Kraft oder die Lust. Und auf der Suche nach dem Glück haben wir am einen Tag das Gefühl, das genau Richtige zu tun – und am nächsten Tag stellt sich heraus, dass es das genau Falsche war, weil wir einen anderen Menschen damit verletzt haben.
Wenn wir uns nur genügend anstrengten, Sven, könnten wir jeden Tag tausend Gründe finden, um so wütend auf die Welt sein, uns so verraten und verkauft zu fühlen, dass uns alles egal wäre. Vielmehr: Man muss sich dafür ja gar nicht groß anstrengen. In Frankreich sehen wir ja gerade, wie viele Menschen so verzweifelt sind, dass in einer Woche die Idee von Europa als Friedensprojekt womöglich Geschichte ist. Anstrengen müssen wir uns vielmehr, um an uns selbst, an unserer Widersprüchlichkeit und Fehlbarkeit gerade nicht zu verzweifeln, Freude dabei zu empfinden, nach Mexiko zu fliegen und mit alten Freunden eine Hochzeit zu feiern, und trotzdem weiter bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen.
Während ich Dir diesen Brief schreibe, Sven, sitze ich im Bett eines Bauwagens, den mir eine gute Freundin überlassen hat. Draußen zwitschern die Vögel. Der See vor dem Fenster wacht langsam auf. Und ich freue mich darauf, dass es bald losgeht mit dem Tanzen und dem Lachen. Ich habe das Gefühl, nie war es wichtiger, bei alledem, was uns gerade um die Ohren fliegt, nicht zu vergessen, dass wir die Welt nur verändern können, wenn wir dabei glücklich sind – selbst wenn wir dabei die Zerstörung der Welt noch weiter vorantreiben.
Die Frage ist nur, wie weit wir dabei zu gehen bereit sind, in die eine wie die andere Richtung.
Frohe Ostern,
Dein Kai
(Thunderclouds – LSD)