Frausein in Italien und Deutschland
📍Caltagirone
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
heute geht es noch einmal um Frauen. Und heute beginnt dieser Newsletter im Landesinneren von Sizilien. In Caltagirone. Die Stadt ist bekannt für spätbarocke Bauwerke und für traditionelle Keramikherstellung.
Mindestens genauso spannend war dort vor wenigen Tagen ein Protestzug bestehend aus Männern jeden Alters, die gegen Gewalt an Frauen auf die Straße gingen (Si apre in una nuova finestra).
Im letzten Newsletter hatte ich bereits über die von Studentinnen und Studenten initiierten Demonstrationen nach den Femiziden an Ilaria Sula und Sara Campanella berichtet.
Dass aber ein Protest gegen Gewalt an Frauen nur mit Männern in einer Stadt in Sizilien mit etwa 36.000 EinwohnerInnen stattfindet, ist neu. Und irgendwie hat mich diese Nachricht sehr bewegt. In Caltagirone setzten Männer ein Zeichen gegen Gewalt an Frauen, nahmen ihre Söhne mit zur Demonstration, kamen mit Kinderwagen. Sie sehen sich als mitverantwortlich für einen gesellschaftlichen Wandel. Und dieser Wandel funktioniert eben nur gemeinsam. Es reicht nicht, wenn nur Frauen ständig über Femizide sprechen, sich über präventive Maßnahmen Gedanken machen und das Thema sichtbar machen.
„Oft wird kleinen Jungs gesagt, sie sollen nicht weinen, das machen nur Mädchen. Das ist falsch, Gefühle hat jeder“, sagt ein Mann im oben verlinkten Video. Und ja, der Protestzug in Caltagirone ist wirklich klein, wie man im Video erkennen kann. Aber er ist da. Und in Berlin, München, Mailand oder Rom habe ich soetwas bisher noch nicht gesehen.
Filmtipp: Primadonna
Wir bleiben weiterhin in Sizilien. Dort spielt nämlich auch der Film Primadonna. Seit 10. April ist er in deutschen Kinos zu sehen, zum Beispiel in München im Theatiner Filmtheater.
Darum geht es: Es sind die 60er-Jahre. Erzählt wird die Geschichte von Lia. Sie ist 21 Jahre alt und lebt noch bei ihren Eltern. Statt den Haushalt zu machen, arbeitet sie lieber mit ihrem Vater auf dem Feld. Lorenzo, der Sohn eines Mafioso im Dorf, verguckt sich in Lia und ist überzeugt davon, sie heiraten zu wollen.

Zu Beginn flirtet auch Lia mit ihm. Doch sie merkt: Das ist nicht ihr Typ. Sie findet Lorenzo arrogant, hat kein gutes Gefühl in seiner Nähe. Also gibt sie ihm einen Korb. Lorenzo versucht sie daraufhin mit Gewalt zu erobern.
Er entführt sie gegen ihren Willen aus ihrem Elternhaus und sperrt sich mit ihr in einer Hütte in den Bergen zwei Tage lang ein. Dort vergewaltigt er sie. Nach der Tradition müsste Lia ihn nun heiraten, denn eine „Wiedergutmachungsehe“ (matrimonio riparatore) würde ihre „Ehre“ retten.
Lia aber tut etwas, das bisher noch keine Frau vor ihr getan hat: Sie zeigt Lorenzo als Vergewaltiger an und zieht vor Gericht.
https://youtu.be/GaBlQEgeDTI (Si apre in una nuova finestra)
Filmvorlage: Die Geschichte von Franca Viola
Das sogenannte „Wiedergutmachungsheirat“-Gesetz, das die Einstellung des Strafverfahrens bei Vergewaltigung vorsah, wenn der Vergewaltiger die Entscheidung traf, das Opfer zu heiraten, wurde in Italien erst 1981 abgeschafft.
Der Film Primadonna ist zum Teil eine fiktive Geschichte. Er basiert auf dem Leben von Franca Viola (Si apre in una nuova finestra). Sie wurde 1948 in Alcamo in Sizilien geboren. Genau wie ihm Film wurde sie gewaltsam vor den Augen ihrer Familie entführt, eingesperrt und vergewaltigt. Viola war damals 17 Jahre alt. Ihr Fall sorgte für große Aufmerksamkeit in Italien (später auch international), denn sie lehnte 1966 den matrimonio riparatore ab, weigerte sich, ihren Vergewaltiger zu heiraten. Sie stellte sich als erste Frau in Italien gegen eine frauenverachtende Tradition und ein Gesetz, das bis dato kaum jemand hinterfragt hatte.
Weil Franca Viola sich dazu entschied vor dem Gericht auszusagen, wurde der Artikel 544 des Strafgesetzbuches, der die sogenannte Wiedergutmachungsehe vorsah, durch das Gesetz 442 aufgehoben, das am 5. August 1981 (sechzehn Jahre nach der Entführung von Viola!) verkündet wurde. Erst 1996 wurde Vergewaltigung in Italien nicht mehr als ein Verbrechen gegen die Moral, sondern als ein Verbrechen gegen die Person anerkannt. (Si apre in una nuova finestra)

Deutsche Vita meets Autostrada del sole 🇩🇪✍️🇮🇹
Neuigkeiten hatte ich schon vor einigen Wochen angekündigt: An dieser Stelle wird es regelmäßig einen Newsletter im Newsletter geben. Klingt kompliziert, ist es aber gar nicht.
Künftig schreiben meine Kollegin Lisa Di Giuseppe (Si apre in una nuova finestra) in Rom und ich einen gemeinsamen Text. Lisa ist Journalistin und arbeitet für die italienische Tageszeitung domani (Si apre in una nuova finestra). Dort schreibt sie jede Woche den Newsletter Deutsche Vita (Si apre in una nuova finestra), in dem sie die italienische Leserschaft über aktuelle Themen aus Deutschland informiert.
Zwei Länder, zwei Perspektiven, zwei Sprachen, ein Text
Sie macht also etwas ganz ähnliches wie ich - nur eben aus der anderen Perspektive. Lisa und ich dachten uns: Das ergänzt sich perfekt. Unsere Idee ist es, euch ein Thema aus beiden Blickwinkeln zu zeigen: so, wie Lisa und ich die jeweiligen Debatten in Deutschland und Italien erleben.
Wir beide haben nicht nur den gleichen Beruf, jede von uns hat auch eine biografische Nähe zu Italien und Deutschland.
Ab jetzt werfen wir gemeinsam einen doppelten Blick auf Themen, die uns verbinden – oder trennen. Zwei Länder, zwei Perspektiven, zwei Sprachen, ein Text. In meinem Newsletter erscheint unser Text auf Deutsch. Hier geht es zur italienischen Version bei domani. (Si apre in una nuova finestra)
In unserem ersten Stück widmen wir uns den Themen Sexismus, Gleichstellung und ganz allgemein dem Frausein in Deutschland und Italien.
Frausein in Italien und Deutschland
von Lisa Di Giuseppe und Ornella Cosenza (Si apre in una nuova finestra)
Donne, dududu… Der Refrain eines Liedes von Zucchero (Si apre in una nuova finestra) ist eine lustige (manchmal lacht man aber eher, um nicht zu weinen) Zusammenfassung der aktuellen Situation der Frauen in Italien. Die Zeit des Wettbewerbs Veline – mit dem die satirische Nachrichtensendung Striscia la notizia (Si apre in una nuova finestra) jeden Sommer zwei Tänzerinnen auswählte, die mit sehr wenig Stoff am Körper und noch weniger Mitspracherecht die neue Staffel der täglichen Sendung von Antonio Ricci begleiteten, ist vorbei. Von echter Gleichstellung kann man trotzdem noch nicht sprechen. Die Statistiken zur Frauenerwerbsquote in Italien stagnieren weiterhin (Si apre in una nuova finestra), das nötige soziale System, um nach der Geburt eines Kindes wieder in den Beruf einzusteigen (Kinderbetreuung!), ist schwach ausgeprägt, und allgemein herrscht ein kulturelles Grundmuster, das, obwohl Frauen mittlerweile wichtige Positionen in Politik, Kultur und Unterhaltung besetzen, die Trägerinnen des zweiten X-Chromosoms oft benachteiligt.
Romano Prodi und der Griff ins Haar
In den letzten Tagen wurde viel über eine sehr paternalistische Geste des ehemaligen Ministerpräsidenten und EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi gegenüber einer Journalistin diskutiert: Nach einer provokanten Frage zog der „Vater der PD-Partei“ (Partito Democratico) an den Haaren der Reporterin, als würde er ein kleines Kind tadeln. (Si apre in una nuova finestra) Zunächst – es gab keinen Videobeweis – erklärte Prodi, er habe der Reporterin lediglich die Hand auf die Schulter gelegt, doch einige Tage später tauchte eine Aufnahme aus einer anderen Perspektive auf, die zeigt, wie der Politiker tatsächlich eine Haarsträhne der Journalistin in die Hand nimmt.
Neben der Geste, für die sich Prodi halb entschuldigte und erklärte, er habe „Zuneigung mit Aggression verwechselt“, fiel besonders auf, dass viele Mitglieder des PD sich auf die Seite des Ex-Premiers stellten, allen voran Enrico Letta, der sogar den Hashtag „#iostoconRomano“ (Ich stehe zu Romano) erfand.
Über Frauenkörper im italienischen Fernsehen
Wenn also der offene Sexismus der Bunga-Bunga-Ära (gut dargestellt im Dokumentarfilm Il corpo delle donne (Si apre in una nuova finestra) von Lorella Zanardo aus dem Jahr 2009) vielleicht endlich der Vergangenheit angehört, so bleibt im Alltag (auch in der Politik) dennoch eine von oben herab betrachtende Haltung im Verhältnis zwischen Männern und Frauen bestehen. Ebenso wie eine Tendenz, die Argumente weiblicher Gesprächspartnerinnen lächerlich zu machen, von Mansplaining ganz zu schweigen.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass im März auf Netflix ein viel diskutierter Dokumentarfilm erschien: Miss Italia darf nicht sterben. (Si apre in una nuova finestra) Der Schönheitswettbewerb Miss Italia wurde vor einigen Jahren von der RAI verbannt. Die Doku erzählt vom Sommer 2023, als die Veranstalterin Patrizia Merigliani bis zuletzt hoffte, dass der vom rechten Spektrum dominierte öffentlich-rechtliche Sender das Finale wieder ins Programm nimmt. Doch daraus wurde, zumindest vorerst, nichts. Außerhalb der RAI – so zeigt der Dokumentarfilm – bewerten die regionalen Agenten (die oft selbst nicht gerade wie Adonis aussehen), trotz aller Ambitionen, den Wettbewerb zeitgemäßer zu gestalten, die Teilnehmerinnen weiterhin fast ausschließlich nach ihren Maßen: „Ihr seid zu nachsichtig. Die da hat einen riesigen Hintern!“

Deutschland: Shirin David vs. Thomas Gottschalk, da war doch was
Das Aussehen einer Frau wird nicht nur in Miss-Shows bewertet, sondern eigentlich ständig und überall, auch wenn es nicht darum gehen sollte. Für Gesprächsstoff sorgte in Deutschland im November 2023 der Auftritt der Rapperin Shirin David bei Wetten, dass…?
Gottschalk fragte die Musikerin im Gespräch: „Was für Opern hörst du dir gerne an? Dass du ein Opernfan bist, hätte ich dir nicht angesehen“. Und dann noch: „Ich hätte dir auch die Feministin nicht angesehen“.
Wie hat eine Feministin auszusehen? Und: Wenn man so aussieht wie Shirin David (blond, feminin, sexy, lange Fingernägel), kann man kein Opernfan sein? Man kann nicht gut aussehen UND klug sein UND Feministin sein? Thomas Gottschalks Fragen verraten weniger etwas über Shirin David, sondern mehr über das immer noch veraltete Frauenbild eines Mitte 70-jährigen Moderators, der nicht akzeptieren kann, dass sich die Welt verändert hat. Seine Fragen sind herablassend und respektlos. Man sollte meinen, auch jemand wie Thomas Gottschalk lernt nach so einem Auftritt dazu. Aber nein, dieser Mann hält an seinem Weltbild fest. Im Interview mit dem Spiegel sagte er: „Ich habe Frauen im TV rein dienstlich angefasst“.
Der Fall Thilo Mischke
Damit nicht genug, denn auch die jüngeren Kollegen von Thomas Gottschalk scheinen das mit der Gleichberechtigung und dem Sexismus nicht so ganz verstanden zu haben: Im Dezember 2024 kündigte die ARD den Autor und Fernsehmoderator Thilo Mischke als Nachfolger für die Moderation des Kulturmagazins titel, thesen,temperamente an (ttt). Kurz darauf kam es zu einer Debatte, die von den Journalistinnen Annika Brockschmidt, Rebekka Endler, Isabella Caldart und Anja Rützel auf Social Media angestoßen wurde. Die Frauen kritisierten Mischkes sexistische Äußerungen über Frauen, Geschlechterverhältnisse und Sexualität, die der Moderator in der Vergangenheit in seinen Büchern und Podcasts geäußert hatte.
So behauptete Thilo Mischke 2019 beispielsweise in einem Podcast, dass der Urmensch ausgestorben sei, weil er „zu zärtlich“ zu Frauen gewesen sei. Der heutige Homo Sapiens habe im Gegensatz zum Urmenschen überlebt, weil er Frauen vergewaltigt hat. Nur diejenigen Frauen hätten überlebt, die trotz Vergewaltigung eine feuchte Vagina bekommen haben. Weil sie einen Gendefekt gehabt hätten. Er behauptete außerdem Vergewaltigung sei etwas „Urmännliches“. Nach einem langen Hin und Her wurde beschlossen, dass Mischke die Sendung nicht moderieren wird.
Femizid und femminicidio
In Deutschland wird etwa alle drei Tage eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet. Das Wort Femizid steht seit fünf Jahren im Duden, im italienischen Duden, dem Zingarelli, findet man das Wort femminicidio bereits schon seit 2010.
Femizide passieren immer und überall auf der Welt. Interessant ist aber, dass in Italien die mediale Aufmerksamkeit bei Femiziden viel größer ist, als die in Deutschland. Der Femizid von Giulia Cecchettin im November 2023 entfachte einen Aufschrei im ganzen Land. Ihr Mörder, der Ex-Freund der jungen Frau, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Erst kürzlich gab es wieder eine Debatte, denn in der Urteilsbegründung hieß es, dass die 75 Messerstiche, die Giulia Cecchettin zugefügt worden sind, kein Zeichen besonderer Grausamkeit wären, sondern darauf hindeuten, dass der Täter unerfahren war. Kritiker sehen in der Tat des Mörders klare Anzeichen für Overkilling, das Töten im Übermaß, um das Opfer regelrecht zu vernichten.
Nach dem Bekanntwerden der Femizide an Ilaria Sula in Rom und Sara Campanella in Messina im April 2025 gingen in mehreren italienischen Städten Menschen auf die Straße, um zu protestieren. In Wetzlar erschoss ein 32-jähriger Neonazi seine 17 Jahre alte Ex-Freundin, weil er die Trennung nicht akzeptieren konnte (Si apre in una nuova finestra). Ein Femizid, der vergleichsweise wenig mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen hat.

In Deutschland existiert bisweilen noch keine staatliche oder wissenschaftliche Datensammlung zu Femiziden. Eine solche wäre aber wichtig, um Strukturen zu verstehen und präventive Maßnahmen ergreifen zu können. In Italien erhebt das Innenministerium diese Zahlen. Bisher wurden diese wöchentlich veröffentlicht. Bisher. Denn ab jetzt sollen die Daten nur noch vierteljährlich veröffentlicht werden. Eine Erklärung dazu blieb aus.
Fazit: Gleichstellung, Frauenrechte, Sexismus: Es ist 2025 und wir haben noch immer einen langen Weg vor uns.
PS: Den italienischen Newsletter Deutsche Vita kann man hier abonnieren (Si apre in una nuova finestra).
Ciao, ich bin Ornella und die Autorin hinter Autostrada del sole.
Mit diesem Newsletter möchte ich ein vielschichtiges Bild von Italien zeigen. Abseits von vino, dolce vita und amore. Tipps für Reisen wird es bei mir also nicht, oder, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen geben.
Stattdessen möchte ich Themen aus Italien aufgreifen, die in Deutschland in dieser Form weniger sichtbar sind. Ich möchte in die Tiefe gehen, euch mitnehmen nach Italien zu Menschen, Geschichten, Orten und Dingen, die ich erzählenswert finde, und euch dazu einladen, auf dieses Land ohne romantisierende Sonnenbrille zu schauen. Und wer weiß, vielleicht entdeckt ihr Italien dann von einer anderen, neuen Seite (und könnt mit dem Wissen beim nächsten Urlaub punkten)?

Ich bin Tochter und Enkelin italienischer (Gast)arbeiter aus Sizilien, arbeite als Journalistin für verschiedene Medien (u.a SZ, fluter, The Weekender, etc.) und bin zweisprachig aufgewachsen. Studiert habe ich Italienische und Romanische Philologie. Schon immer bewege ich mich viel, bedingt durch meine Familiengeschichte, zwischen Deutschland und Italien. Ich kenne beide Länder sehr gut, bin in München und Süditalien Zuhause. Aus dieser Perspektive heraus möchte euch mitnehmen nach Italien. Schön, dass ihr dabei seid. 💙
Anmerkungen, Wünsche, Kritik, Liebesbriefe 💌 gern an: kontakt@ornellacosenza.com (Si apre in una nuova finestra) oder via Instagram @ornella.cosenza (Si apre in una nuova finestra)
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8.Mai 2025, 18.00 Uhr, Würzburg (Details tba)