'Sta femmena 'e niente mo vò tutte cose, oder: Die Wut der Frauen
📍Vicenza → Roma → Messina
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
das heute ist eine Art “Sondernewsletter”. Normalerweise plane ich meine Themen länger vor. Doch die letzten Tage war es in Italien laut. Und deshalb gibt es bereits schon heute, wenn auch etwas anders als sonst, Post von mir.
Vergangenes Wochenende fuhr ich mit dem Zug von Vicenza nach Thiene. Das sind etwa 30 Minuten fahrt. Dort traf ich eine Bekannte, wir sahen uns Kunst an. Sie zeigte mir ihren Heimatort, am Ende gingen wir auf einen Aperitivo in eine Bar und sie begleitete mich zurück zum Bahnhof, wo ich in den Zug nach Vicenza stieg. Dort übernachtete ich in einem Hotel. "Scrivimi quando arrivi", sagte sie mir bevor ich in den Zug stieg. Ich sollte ihr schreiben, wenn ich im Hotel angekommen bin. Außerdem, sagte sie, solle ich zusehen, dass ich nach dem Ausstieg möglichst zügig von der Bahnhofsgegend wegkomme, es sei nicht besonders sicher dort. Es war gerade erst 21.30 Uhr. Trotzdem war ich froh, dass da jemand war, der wollte, dass ich gut nach Hause komme. Jemand, der weiß, wie es ist, abends als Frau alleine auf dem Heimweg zu sein.
Zwei Femizide innerhalb von 48 Stunden in Italien
Wenn einer Frau etwas zustößt, ist es nicht immer, aber sehr oft so, dass die Frau ihren Täter kennt. In einer Beziehung zu ihm steht. So war es auch bei Ilaria Sula aus Rom und bei Sara Campanella aus Messina. Beide Frauen wurden getötet und in Italien sorgten diese beiden Fälle für großen Aufschrei. (Si apre in una nuova finestra)Man fand Ilaria Sulas Leiche in einem Koffer, ihr Ex-Freund hat den Mord bereits gestanden. Sara Campanella erlag den Stichwunden, die ihr von einem Kommilitonen, der ihr über zwei Jahre lang nachstellte und es nicht ertragen konnte, abgewiesen zu werden, an einer Bushaltestelle zugefügt wurden. Beide Fälle ereigneten sich im Abstand von etwa 48 Stunden.
In Rom, Bologna, Messina und anderen Städten in Italien kam es daraufhin zu Protesten. (Si apre in una nuova finestra)Vor allem Studentinnen und Studenten gingen auf die Straße. Femizide sind kein italienisches Phänomen, sie passieren überall auf der Welt. Jeden Tag. Die mediale Aufmerksamkeit in Italien bei solchen Fällen ist allerdings größer als in Deutschland.
https://www.youtube.com/watch?v=CPYZwNQzzQo (Si apre in una nuova finestra)Helfen Gesetze allein?
Anfang März, am Weltfrauentag, kündigte die italienische Regierung einen neuen Gesetzentwurf an (Si apre in una nuova finestra). Demnach soll ein Femizid als eigener Straftatbestand geführt werden. Das bedeutet: Wer eine Frau tötet – weil sie eine Frau ist – muss mit einer lebenslangen Haftstrafe rechnen.
So weit, so gut. In meiner Bubble auf Social Media wurde diese Nachricht ziemlich oft geteilt. Und ich habe mich immer wieder gefragt: Kann ein Gesetz Gewalt an Frauen verhindern? Italienische NGO’s wie “Non una di meno (Si apre in una nuova finestra)” und die “Fondazione Giulia Cecchetin (Si apre in una nuova finestra)” kritisierten den Entwurf der Rechts-Außen-Regierung unter Giorgia Meloni. Man würde auf Abschreckung statt auf Prävention setzen. Die jüngsten Fälle zeigen jedoch: Auch ein Gesetz schreckt nicht ab. Der Vater von Giulia Cecchettin, (Si apre in una nuova finestra) die von ihrem Ex-Freund 2023 brutal ermordet wurde, betont immer wieder, dass Gesetze allein, ohne einen kulturellen Wandel, nicht ausreichen.
Educazione sessuo-affetiva
Opferorganisationen, wie die oben genannten, fordern daher immer wieder die Einführung von verpflichtendem Sexualkundeunterricht an Schulen, in dem über Gleichberechtigung, Geschlechteridentitäten, Konsens und Gefühle gesprochen werden soll (eduaczione sessuo-affetiva) (Si apre in una nuova finestra), also nicht nur der biologische Aspekt von Sexualität. In Italien ist Sexualkundeunterricht kein verpflichtender Bestandteil des Lehrplans. Die Regionen entscheiden meist selbst darüber, ob es diese Art von Unterricht gibt oder nicht. In Deutschland gibt es zwar Sexualkundeunterricht, wenn ich aber an meine eigene Schulzeit zurück denke, ging es dort eher um den biologischen Aufbau der Körper von Männern und Frauen, Fortpflanzung und ein bisschen (zu wenig) um Verhütung. Von mehreren Geschlechtsidentitäten hat man damals überhaupt nicht gesprochen. Falls ihr Eltern oder Lehrer*innen seid: Hat sich der Unterricht an Schulen in Deutschland verändert über die Jahre?
Die viel diskutierte Netflix-Serie “Adolescence” (ich verrate nichts, bitte schaut sie selbst), verdeutlicht, dass es dringend an der Zeit wäre, Kinder und junge Erwachsene mit diesen Themen vertraut zu machen. Auch damit sie sich nicht in die frauenhassenden Ideologien (und Verachtung anderer Geschlechtsidentitäten) von Incels auf Social Media führen lassen.
Gewalt gegen Frauen begegnet uns in allen Orten der Welt und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten.
Übrigens: Ich spreche immer von Frauen, weil die beiden Opfer Frauen waren. Gewalt gibt es auch gegen andere Geschlechtsidentitäten.
Zum Abschluss möchte ich euch noch auf zwei Dinge hinweisen. Einmal auf ein Porträt über die Künstlerin Alexandra Dabrowski (Si apre in una nuova finestra), alias mecmoiselle (Si apre in una nuova finestra), das ich vor ein paar Jahren für die Süddeutsche Zeitung geschrieben habe. Alexandra thematisiert in ihrer Kunst häusliche Gewalt und Femizide und macht die Schicksale von Frauen sichtbar:
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-gewalt-frauen-alexandra-dabrowski-femizide-1.5524675?reduced=true (Si apre in una nuova finestra)La Niña
Dann möchte ich euch noch auf eine Musikerin aufmerksam machen, deren Musik seit Wochen rauf und runter bei mir läuft: La Niña (Si apre in una nuova finestra). Die neapolitanische Musikerin hat im März ihr neues Album “Furèsta” veröffentlicht. Gesungen wird fast durchgehend im neapolitanischen Dialekt, musikalisch setzt sie auf traditionelle Elemente aus Süditalien, vor allem aus ihrer Heimat Neapel und verbindet diese mit modernen Einflüssen. Von machen wird sie auch als die italienische Rosalìa bezeichnet.
Ich stelle diese Musikerin nicht ohne Grund vor: Nach den beiden Femiziden in Italien teilten viele Frauen einen Song von La Niña, auch bei den Protestveranstaltungen wurde er gespielt: Figlia d’ ’a tempesta (Tochter des Sturms). In diesem Song geht es nämlich genau um das: Gewalt an Frauen. Und es geht um Wut. Eine Wut, die vermutlich jede Frau schonmal gespürt hat.
Unten schreibe ich euch den Songtext auf. Ein paar markante Stellen übersetze ich auch ins Deutsche, damit verständlich ist, weshalb dieser Song in den letzten Tagen so oft zitiert und gespielt wurde. Bitte habt Nachsicht mit mir, falls die Übersetzungen aus dem Neapolitanschen etwas ungenau sind, man findet nicht immer ein perfekt passendes Wort im Deutschen:
[Intro]
Pecché so' nata femmena, pecché so' nata
Ce sta chi me vò prena, chi me vò 'nzurata
So' figlia d''a tempesta e nun me ponno 'ncatenà
Faciteme passà, faciteme passà
Weil ich als Frau geboren wurde,
gibt es die, die mich schwanger sehen wollen, und die, die mich verheiratet sehen wollen,
ich bin Tochter des Sturms, sie können mich nicht bändigen/einsperren,
lasst mich durch, lasst mich durch
[Strophe 1]
Nuanta fa 'a paura, trentotto 'e mazzate
A botte 'e manganiello 'a musica è cagnata
Vattimmo ch''e tambure, mo facimmele sentí
Chi nun vuleva sentere mo 'e rrecchie ha dda arapí
Wir schlagen mit Trommeln, lass sie uns jetzt hören,
Wer bisher nicht hinhören wollte, muss jetzt die Ohren aufmachen
[Pre-Refrain]
'Sta femmena 'e niente mo vò tutte cose, mo vò tutte cose
E tene na rraggia ca nun arreposa, ca nun arreposa
Ha dato la vita e ce l'hanno luata nu milione 'e vote
Vestuta 'a puttana e vestuta da sposa
Diese Frau, die nichts wert ist, will jetzt alles, jetzt will sie alles
Und sie hat eine Wut, die nicht ruht
Sie hat Leben gegeben und sie haben es ihr eine Million Mal genommen
Gekleidet wie eine Hure und gekleidet wie eine Braut
[Strophe 2]
Pe tutt''e ferite ca c'ate lassato
Pe tutt''e bucie ca c'ate cuntato
Pe 'sti curtellate ca c'ammo pigliato
Pe tutt''e prumesse mancate
'E suonne ca v'ate arrubbato
P''e sore ca c'ate luato, ca nun so' turnate
Nun l'ammo scurdate, nun l'ammo scurdate
Für alle Verletzungen, die ihr uns zugefügt habt
Für all die Lügen, die ihr uns erzählt habt,
Für all die Messerstiche, die wir uns eingefangen mussten,
Für alle verlorenen Versprechen,
Und die Träume, die ihr uns gestohlen habt,
Für die Schwestern, die ihr uns genommen habt, die nicht mehr zurückgekommen sind,
Wir haben sie nicht vergessen, wir haben sie nicht vergessen
La Niña hat die traditionellen Klänge ihrer Heimatstadt Neapel mit den Geschichten von Frauen und Mädchen aus der ganzen Welt verbunden. Am besten zeigt sich das in diesem Song. Es ist aber etwas, das sich durch ihr komplettes neues Album zieht.
Danke, dass ihr bis hierhin mitgelesen habt. Beim nächsten Newsletter geht es wie gewohnt weiter. Eine kleine Neuigkeit wird es dann auch geben.
Einer Sache bleibe ich aber auch in diesem Newsletter treu: Die Buchempfehlung, passend zum Thema:

A presto 💙,
Ornella
Ciao, ich bin Ornella und die Autorin hinter autostrada del sole.
Mit diesem Newsletter möchte ich ein vielschichtiges Bild von Italien zeigen. Abseits von vino, dolce vita und amore. Tipps für Reisen wird es bei mir also nicht, oder, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen geben.
Stattdessen möchte ich Themen aus Italien aufgreifen, die in Deutschland in dieser Form weniger sichtbar sind. Ich möchte in die Tiefe gehen, euch mitnehmen nach Italien zu Menschen, Geschichten, Orten und Dingen, die ich erzählenswert finde, und euch dazu einladen, auf dieses Land ohne romantisierende Sonnenbrille zu schauen. Und wer weiß, vielleicht entdeckt ihr Italien dann von einer anderen, neuen Seite (und könnt mit dem Wissen beim nächsten Urlaub punkten)?

Ich bin Tochter und Enkelin italienischer (Gast)arbeiter aus Sizilien, arbeite als Journalistin für verschiedene Medien (u.a SZ, fluter, The Weekender, etc.) und bin zweisprachig aufgewachsen. Studiert habe ich Italienische und Romanische Philologie. Schon immer bewege ich mich viel, bedingt durch meine Familiengeschichte, zwischen Deutschland und Italien. Ich kenne beide Länder sehr gut, bin in München und Süditalien Zuhause. Aus dieser Perspektive heraus möchte euch mitnehmen nach Italien. Schön, dass ihr dabei seid. 💙
Anmerkungen, Wünsche, Kritik, Liebesbriefe 💌 gern an: kontakt@ornellacosenza.com (Si apre in una nuova finestra) oder via Instagram @ornella.cosenza (Si apre in una nuova finestra)
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4. April 2025, 20 Uhr, Stadtbibliothek im HP8, München
»Und so blieb man eben für immer«
Lesung, Gespräch und Buchvorstellung (Si apre in una nuova finestra)
Gemeinsame Lesung mit Jehona Kicaj (Si apre in una nuova finestra)und Barış Yüksel (Si apre in una nuova finestra)
**Eintritt frei, keine Voranmeldung**
8.Mai 2025, 17.30 Uhr, Würzburg (Details tba)