Die Auster im Karussell
“Fass mich nicht an”, zischt die Auster und klappt zu. Eine meiner Großmütter oder Urgroßmütter wird Auster gewesen sein. Nicht der jüngst verstorbene Paul natürlich, R.I.P. – sondern die ausgestorbene, heimische Molluske, der ich mich artverwandt fühle. Fest auf ostwestfälischem Kalk verhaftet, schnell berührt vom Wahnsinn der Welt und, wenn sich die Schale über mir schließt, ist auch erst mal Schluss mit lustig. Nein, nein, nein, nein, nein. Nichts geht mehr. Die Zeit zieht sich wie ein ausgeleiertes Gummi. Nein, nein, nein. Nein Danke. Danke, aber nein. Piss off, Welt. Kennst du das Gefühl? Ach wie schön, ich bin nicht allein!
Montag. Der Wecker brüllt. Ich gebe ihm einen Klaps und greife nach Wärmflasche, Wollsocken und Strickjacke gegen die Schafskälte. In meinem gefühlten Klima ist der Golfstrom längst gekippt. Dennoch, muss ja. Ich zwinge mich zum Powerslide ins Konstruktive. Zähne putzen, Eiswürfel aufs Gedankenkarussel werfen, damit es eine Weile still hält; dann schleppt sich eine durchgeschüttelte Kopie von mir, mit Rucksack und einer Jumbotasse Kaffee bewehrt, ein Stockwerk tiefer an den Schreibtisch. Guten Morgen! Und bei dir, wie geht's so?
Vorsicht, Kunst. Dieses Hörspiel ist kein Mittel gegen Montag-Morgen-Blues. Im Gegenteil. Es lässt den Irrsinn der Arbeitswelt aus der Perspektive eines Herrn Niemand so deutlich spüren, dass ich empfehle, es liegend zu hören und danach sein Kopfkissen zu verprügeln. Hörspiel nach dem gleichnamigen Theaterstück von Falk Richter: Unter Eis. (NDR 2005)
https://www.ndr.de/kultur/epg/Hoerspiel-Unter-Eis,sendung1438662.html (Si apre in una nuova finestra)Falls das zu dicke ist, hier alternativ: Als Geräusch des Monats die
Montagmorgenpostille meines Rotkehlchens.
Ein magischer Fleck
Ich sitze also am Schreibtisch. Nach einer halben Stunde eMail-Korrespondenz und einem kurzzeitig motivierenden CoWorking sind die Eiswürfel geschmolzen, das Gedankenkarussell nimmt quietschend Fahrt auf. Äußerlich ist mir nichts anzumerken. Ich starre ungerührt aufs digitale weiße Blatt. Warum bloß? Die erste Zeile sah eigentlich vielversprechend aus. Ich war im Begriff, mich über die Welt aus der Perspektive einer Fahrradreparatursäule zu amüsieren. Wieso ist die Luft raus? Der Monitor hat einen Wackler und flackert zwischen Black und weißem Hintergrund. Eben noch unschuldig auf Verlängerung harrend, löst sich die erste Zeile, die mit der Fahrradreparatursäule, schlängelt auf mein Gesicht zu und lässt ihre zur Peitsche verketteten Buchstaben direkt an meinem Ohr knallen. Mach schon, soll das wohl heißen. Jetzt auch noch Tinnitus. Ich gebe auf. Ich geh wieder ins Bett. Vielleicht liegt da einer, dem ich was vorlesen kann. Doch das Bett ist leer. Drei Fliegen kreisen unter der Decke des Schlafzimmers um einen unsichtbaren, womöglich magischen Fleck. Durchs Fenster fällt das Grau des ostwestfälischen Sommerhimmels. Tagesform: Unterirdisch.
Josef Hader, der "Meister des absurden Alltags", hat dem NDR ein Interview gegeben: Zwischen Tragik und Komik. Wer sich Haders zweite Regiearbeit "Andrea lässt sich scheiden" noch nicht im Kino angeschaut hat, findet eine knappe Stunde Hader zum Vorglühen hier, in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.
https://www.ndr.de/kultur/film/Josef-Hader-Meister-des-absurden-Alltags,josefhader112.html (Si apre in una nuova finestra)Gender mit Zitrone
Mein zweiter Ausflug ins echte Leben führt in die Aufschieberitis. Die europäische Auster ist in der Nordsee fast ausgestorben durch Überfischung und Klimawandel, lese ich, an einem Riegel Schokolade knabbernd. Nicht die invasive pazifische Art, die wegen ihrer harten Schale nicht mal als Vogelfutter taugt, sondern die europäische Auster wird im Borkumer Riffgrund mühsam wieder angesiedelt. Weil sie tolle Sachen kann: Wasser filtern, lose Sedimente halten, Kinderstube und Schutzraum für Seenelken, Moostierchen, Krebse und Fische sein. Austern können im Lauf ihres Lebens mehrmals das Geschlecht wechseln, ohne sich deswegen verrückt zu machen. Ist das nicht wundervoll? Viel mehr finde ich über ihr Wesen nicht heraus. Suchmaschinen verraten vorrangig, wie man Austern knackt, sie mit Zitrone beträufelt, worauf sie sich zusammenziehen, und sie lebendig schluckt.
"Geschmacksverstärker" heißt der Podcast von foodwatch, an dem ich immer mal wieder hängenbleibe. In 15 bis 25 Minuten langen Folgen werden Themen der foodwatch Kampagnen in Interviews vertieft. Hilft mir, bewusster einzukaufen. Siehe oben: Nein, nein, nein, nein, nein. Nein Danke. Danke, aber nein. Klares Ja zum Podcast!
https://foodwatch.podigee.io/ (Si apre in una nuova finestra)Kostbare Zeit
Heute hätte ich Zeit fürs Schreiben in eigener Sache. Keine Deadline. Niemand zwingt mich. Ich kann hier sogar im Pölter (ostwestfälisch für “Schlafanzug”) sitzen. Ich organisiere mich selbst. Und nichts passiert. Nichts!
Gen Mittag Schichtwechsel: Panik löst die Prokrastination ab und hat mich fest im Griff. Ich bin voller Ideen. Ich bin voller Neins. Die Welt macht mir Angst. Angst blockiert die Kreativität. Ein ungesundes Patt. Das Karussell dreht sich leiernd. Ich öffne meinen Methodenkoffer, wühle darin herum und entscheide mich fürs Journaling.
Das geht so: Ich schreibe einfach ein paar Minuten herunter, was mir durch den Kopf geht. Bilder tauchen auf. Ich bin falsch abgebogen. Seit Stunden laufe ich an mehrspurigen Straßen entlang durch eine Megacity, die ich aus früheren Träumen schon kenne. Hochhäuser in schnurgeraden, endlosen Reihen. Auf breiten Bürgersteigen hasten bunt gekleidete Menschen an mir vorbei. Sie scheinen alle zu wissen, wohin sie gehen. Ihre Gesichter sind verschlossen. Es gelingt mir nicht, Augenkontakt aufzunehmen. Vielleicht spreche ich auch ihre Sprache nicht. Die Menge schiebt mich mal in diese, mal in jene Richtung.
Triggerwarnung: Hard-Boiled
Ich suche einen Abgang zum unterirdischen Bahnnetz. Diese Treppen liegen in Hofeinfahrten oder führen unauffällig durch bröckelndes Gemäuer in die Tiefe. Sie tragen kein Schild, darum habe ich meine Station verfehlt und kenne mich nicht mehr aus. Die Luft ist voller Schwebstoffe und kleiner Sandkörner, die in der Nase jucken. Immer wieder suche ich Halt an einer Hauswand, um mir den Staub aus dem Hals zu husten und mich suchend umzusehen.
Es dämmert schon, als der Strom mich in eine Gasse spült, in der man um diese Zeit nicht allein unterwegs sein sollte, wie ich aus hard-boiled Krimis der 1940-er Jahre weiß. Ich rieche Müll, Exkremente, Gefahr. Ein schwarzes Auto biegt ein und hält neben mir. Zwei Männer steigen aus und kommen schweigend auf mich zu. Ich stehe wie in den Boden genagelt und frage nach dem Weg zur U-Bahn, etwas Besseres fällt mir nicht ein. Der Mann direkt vor mir drückt mir ein Tuch mit Chloroform auf die Nase, während der andere von hinten meine Arme festhält. Ich schmecke die Süße des Betäubungsmittels und versuche, nicht einzuatmen, aber es ist zu spät. Black.
Krimi-Zeit! Wie beim TV-Tatort werden für den Radio-Tatort Folgen mit regionalen Ermittlerteams von unterschiedlichen Rundfunkanstalten der ARD produziert. Vielleicht kennst du das penetrant scheppernde Telefon der Task-Force Hamm? Tom Peukert hat die Berliner Folge “Psychotrop” geschrieben, die im April ausgestrahlt wurde und mit psychoaktiven Substanzen in therapeutischen Kreisen spielt. Entspannt inszeniert hat sich dieser Tatort als ausgesprochen putz- und bügeltauglich erwiesen. Zu finden in der ARD-Audiothek und überall, du weißt schon ...
https://www.ardaudiothek.de/episode/ard-radio-tatort/tom-peuckert-psychotrop/ard/13307525/ (Si apre in una nuova finestra)Bittersweet Endings
So. Wie kriege ich jetzt die Kurve? Durchs gekippte Fenster zwitschert das Rotkehlchen. Die Junisonne hat alles Grau vertrieben. Für ein paar Minuten. Dritter Versuch. Das Karussell steht still. Meine Finger klickern auf der Tastatur. Das Blatt füllt sich. Geht doch.
Aber es geht nicht von allein. Manchmal brauche ich eine Woche, um aus der Starre herauszutreten, mir alles, was lähmt, mit Abstand anzusehen, um mit neuen Ideen und in Verbindung mit anderen in eine Stabilität zurückzufinden, die mich wieder schöpferisch sein lässt. Diesmal hat mir eine kostenlose Seminar-Reihe (online) zu mentaler Gesundheit und Resilienz für Künstler:innen und Menschen in Kulturberufen geholfen, die der Kulturrat NRW (Si apre in una nuova finestra)seit Corona jährlich auflegt. Du bist Künstler:in und dir geht die Kraft aus? Bevor du hinschmeißt, hol dir den Newsletter vom Kulturrat NRW und buche den nächsten Termin mit der Berliner Psychologin Anne Löhr, die ansonsten hauptsächlich Musiker:innen coacht. Löhr kennt sich bestens im Mindfuck kreativer Gewerke aus. Nebeneffekt: Du triffst auf Menschen, denen du so gut wie nichts erklären musst, weil schon nach einem Halbsatz klar ist, dass du verstanden wirst, weil alle die gleichen Probleme haben. Übrigens völlig wurscht, ob sie höchst erfolgreich über namhafte Bühnen schweben oder auf der Felge eines Rhönrads kauen.
I have a dream ...
Aufschieben, aber richtig: Falls du eine Schwäche für Hollywood-Schinken und mal viel Auszeit hast, empfehle ich dir die Hörspiel-Neuauflage des Klassikers ›Vom Wind verweht‹ in 16 (!) Folgen à 30 Minuten. Die ›Prissy-Edition‹ von Amina Eisner verknüpft Margaret Mitchells Geschichte mit der Gegenwart afrodeutscher Nachkommen der Sklavin Prissy. Befreit von rassistischen Klischees und um erhellende Impulse ergänzt, nährt Eisners Bearbeitung die Hoffnung, die Menschheit möge irgendwann ohne Hass und Unterdrückung auskommen: “I have a dream ...”
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-hoerspiel/vom-wind-verweht/index.html (Si apre in una nuova finestra)Termine
Digitales CoWorking über BigBlueButton läuft werktags durch. Steckst du in einer strukturschwachen Phase? Hol dir den Kick am Morgen für einen gelingenden Tag! Link auf Zuruf: post@aigiko.de (Si apre in una nuova finestra)
Ausblick
Ich habe Anfang November in Melle meine erste Lesung mit eigenen Geschichten. Mir ist jetzt schon schlecht. Termin folgt, ist ja noch ein bisschen Zeit bis dahin ...
Beim Schreiben gehört
re:publica 2024: Maja Göpel - Lost in Ego-Fixation: “Who cares? Alle, die vernünftig denken können. Denn Freiheit, Wohlstand und Selbstverwirklichung bleiben ohne die Sorge fürs Ganze nur fixe Ideen.”
https://www.youtube.com/watch?v=C4OY1oPNWw8 (Si apre in una nuova finestra)Bleib der Welt gewogen!
Aiga
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