ADHS und Verzweifelung mit pädagogischen Fachleuten
Wenn Pädagogen und Jugendämter (oder andere Institutionen) fordern, dass man sich doch einfach mehr "Einsatz" zeigen solle und die angebotenen (sozial-)pädagogischen Hilfen nur annehmen müsse...
Eine der grössten Verzweifelung bei mir und vielen Eltern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen aus dem ADHS- / Neurodiversitätsspektrum ist es, wenn man mit "Fachleuten" aus dem Bereich Pädagogik / Jugendhilfe / Psychologie oder Ämter zu tun hat, die letztlich überhaupt nicht verstehen können oder wollen, worin die Teilhabeeinschränkung besteht.
Dann verlangen diese "Profis" letztlich, dass neuropsychologische bzw. entwicklungspsychologische "Kompetenzen da sein sollen, die aber ja erst im Rahmen einer Teilhabeförderung bzw. der beantragten Unterstützung selber entwickelt, teilweise aber auch durch Unterstützung schlicht und ergreifend längerfristig übernommen werden müssen.
"Karlchen müsste lernen, sich besser zu konzentrieren", so oder so ähnlich steht es in vielen Grundschulzeugnissen.
Wohl wahr. Aber wie? Und wenn es denn theoretisch oder praktisch gehen würde: Ist dann nicht die Schule bzw. die Lehrkraft zumindest für die Schulpraxis dafür da, diesen Lernprozess (also von unkonzentriert über einen pädagogischen Zauberweg hin zum hochkonzentrierten Schüler) zu definieren, zu begleiten und mögliche Probleme souverän dann zu beseitigen?
Weit gefehlt. Die Verantwortung dafür, wird letztlich dem Schüler (und seinen Eltern zugeteilt), da die Schülerin oder Schüler eben gerade NICHT das hervorragende Angebot der Lehrkraft nutzen WILL.
Vorsicht, da ist ein Hauch Ironie dabei. Aber auch nur ein Hauch, weil eben Lehrkräfte (oder doch besser Leer-Kräfte) gar nicht reflektieren bzw. metakognitiv erfassen, dass sie da Erwartungen und Forderungen stellen, die so nicht erfüllbar sind. Und die letztlich dann zu Resignation, zu Vermeidungs- und Verweigerungsverhalten und zu Reaktanz seitens der Schüler und Eltern führen müssen.
(Sonder-)pädagogik geht nämlich häufig davon aus, dass jedes Kind eben lernen will und lernen kann, wenn man nur ein Angebot macht.
Nun mag das ja auch für viele Kinder gelten. Aber längst nicht für alle Kinder aus dem Spektrum Neurodiversität im gleichen Umfang.
Jedes Kind, jedes Gehirn ist eben individuell.
So wie man ein Kind mit einer schweren Sehbehinderung und / oder Taubheit ja auch Hilfsmittel zur Verfügung stellt und natürlich nicht sagt : "Sabine müsste lernen, die Augen und Ohren etwas mehr zu spitzen bzw besser die Mitschriften von der Tafel bzw. die Diktate zu meistern"
Bei Probleme der Exekutivfunktionen und speziell im Bereich des Selbstmanagement / Selbstorganisation ist das aber offenbar anders.
Denn für die Fachleute ist es offenbar nicht verständlich, dass ein Kind oder Jugendlicher (bzw. wir erwachsene) tatsächlich Teilhabedefizite bzw eine Entwicklungsverzögerung / - behinderung gegenüber Gleichaltrigen mit gleichem Begabungsprofil im Bereich der
Wahrnehmung von Reizen und Umgebungsfaktoren
Selbstwahrnehmung von eigenen Fähigkeiten und Grenzen (Metakognitive Fähigkeiten)
Aufmerksamkeits-Steuerung und Ablenkbarkeit
Selbstaktivierung und Ausdauer bei Aktivitäten
Prioritätensetzung und Entscheidungen
Planen und Ausführen (Performance) von (mehrschrittigen) Anweisungen
Soziale Interaktionsbesonderheiten
Kognitive Flexibilität / Umstellungsfähigkeit
Soziale Regeln / Kommunikation
Dann ist es eben gerade kein "NICHT WOLLEN", sondern ein "NICHT KÖNNEN". Und das gerade dann, wenn man auf schlicht nicht umsetzbare Forderungen von Aussenstehenden stösst.
Heute habe ich dann einen Radio-Bericht über die Probleme der Inklusion bei
Sprach- und Sprechstörungen gehört. Viele Förderklassen werden gestrichen, obwohl ein hoher Anteil von Jungen (und einige Mädchen) Sprach-Armut haben. Nicht selten dann verbunden mit wirtschaftlicher Armut.
Dann kommen Schulen dazu, in denen Schülerinnen und Schüler von 48 Muttersprachen versammelt sind. Aber eben nicht alle gefördert werden können.
Insofern sind sicher auch Schulen und Lehrer am Rande ihrer Möglichkeiten, dann auch noch "Diversität" im Rahmen von psychischen bzw. neurologischen Besonderheiten zu beachten.
Aber Bildungsgerechtigkeit würde eben genau dies auch fordern, da Teilhabe am Lernen und der Gesellschaft ein Grundrecht ist.
Es ändert sich langsam, oder? Aber es ändert sich...
Zugegeben : ADHS wird in vielen Schulen jetzt nicht mehr nur als Störverhalten der Ruhe und der Arbeitsbedingungen für den Lehrer oder die Mitschüler missverstanden. Da sind viele Lehrer schon weiter.
Aber das Grundkonzept von ADHS als eine Störung der Selbstregulation bzw Selbststeuerung / Selbstmanagement aufgrund von Reizoffenheit / Reizfilerschwäche und einer Entwicklungsverzögerung / - behinderung der Exekutivfunktionen ist noch längst nicht allgemein bekannt. Geschweige denn überhaupt im (sonder-)pädagogischen Alltag angekommen.
Wer macht es bisher besser bzw. wie müsste es aus Eurer Sicht laufen?
Mich würde interessieren, ob ihr Best-Practice-Beispiele habt, wo eine Institution bzw. eine Schule es modellhaft gut oder noch besser macht. Wo wir von den besten lernen können, wie man auf diese Herausforderungen besser reagiert und nicht resigniert bzw. sich die pädagogische Hilfe / Teilhabeunterstützung letztlich in eine Sackgasse der gegenseitigen Vorwürfe bringt.
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