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“Und ganz offen gab er zu, dass er eigentlich viel mehr die freie Zeit liebe, die unbeschwerte, an der nicht die Bleigewichte der Mühsal hingen”

Ich schreibe regelmäßig über Arbeitszeiten, wie treue inseln der zeit-Leser*innen mitbekommen haben. Dieses Jahr zum letzten Mal, versprochen, ich bin diese Diskussion selbst manchmal leid und würde mich wohl längst nicht mehr damit auseinandersetzen, wäre sie nicht so wichtig. In der Schnittstelle zwischen so wichtigen Lebensfragen nach Gesundheit, Sorge für andere, beruflicher Verwirklichung, finanzieller Sicherheit und sogar der Zukunft der Demokratie, befindet sich eine tickende Uhr. Wie können, wofür wollen, wofür sollten wir unsere wertvolle, begrenzte Zeit verwenden? Ein Gleichgewicht zwischen den Lebensbereichen, die uns ein gutes Leben ermöglichen, gibt es nicht. Die Verpflichtung, bezahlte Arbeit zu leisten, oder aber unbezahlte Betreuungs- und Haushaltsarbeit, damit uns zugehörige Personen Erwerbsarbeit leisten können, wirkt so stark, dass jede*r, der oder die daran zweifelt, im Verdacht steht, faul und arbeitsscheu zu sein und falsche Prioritäten zu setzen.

Wahrscheinlich fühlen aber fast alle Menschen manchmal, was Thomas Mann in seinem großen Zeit-Roman “Der Zauberberg”, der heute 100 Jahre alt wird, über den Protagonisten Hans Castorp sagt. Castorp, der bekanntlich als gesunder Mensch für drei Wochen nach Davos reist, um seinen lungenkranken Cousin in einem Sanatorium zu besuchen, dann sieben Jahre dort bleibt, weil er vielleicht doch gar nicht so gesund ist, ist ein Mensch, der die Arbeit achtet wie nichts anderes. Arbeit ist für ihn “das Prinzip, vor dem man bestand oder nicht bestand”. Doch so sehr er sie achtete, so verachtete er sie auch – weil sie ihm nicht gut bekam.

“Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Nerven, sie erschöpfte ihn bald, und ganz offen gab er zu, daß er eigentlich viel mehr die freie Zeit liebe, die unbeschwerte, an der nicht die Bleigewichte der Mühsal hingen, die Zeit, die offen vor einem gelegen hätte, nicht abgeteilt von zähneknirschend zu überwindenden Hindernissen.”

Freie, selbstbestimmte Zeit, die offen vor uns liegt, die beliebig gefüllt oder unerfüllt sein kann, ist noch immer eine große Sehnsucht der Menschen. Dies auszusprechen ist vollkommen natürlich und nachvollziehbar, gerade in dieser so herausfordernden, nahezu traumatischen Zeit von Pandemien, Klimakatastrophen, Kriegen, Konflikten und großer Einsamkeit. Eine Zeit, die sich gar nicht so sehr von der damaligen zu unterscheiden scheint, wenn man den Zauberberg heute liest:

"Was gab es denn? Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen einzelnen und ganzen Gruppen."

Was liegt in der Luft?

Egal, wo man heute hinschaut: Krisen, die uns viel abverlangen. Zum Beispiel, unbequeme Realitäten anzuerkennen, ohne zynisch und fatalistisch zu werden. An Lösungen zu arbeiten, ohne sich mit erzwungenem Optimismus zu täuschen. Von uns wird verlangt, zusammenzuarbeiten, für andere und sich selbst zu sorgen, rücksichtsvoll und nachsichtig mit anderen zu sein, zu lernen Unsicherheit auszuhalten und die eigene Widerstandsfähigkeit zu stärken. Und natürlich verlangt diese Zeit von uns, dass wir uns einfach mal ausruhen können und uns entziehen von allem, was die Welt an Zumutungen und Bedrohungen bereithält.

Doch in einer Krise, so heißt es gerade immer und immer wieder, müssten alle noch etwas mehr anpacken. Sprich, noch mehr leisten, noch mehr arbeiten. Eben nicht zur Ruhe kommen, die erschöpften Ressourcen weiter und immer weiter überstrapazieren.

Aber wofür eigentlich?

Schon für die Beantwortung dieser Frage fehlt die Zeit. Das Einzige, was im Raum steht, ist das vage, brüchige Versprechen von Wohlstand, an das kaum noch jemand so recht glauben kann und woran trotzdem alle stetig weiterarbeiten sollen, ob sie nun wollen und können oder nicht, und zwar bis … ja, bis wir irgendwann feststellen, dass der beste Ort für uns vielleicht ein Sanatorium in den Alpen wäre, wo sich jemand endlich unserer Sorgen, unserer Strapazen, unserer Leiden und unserer tiefsten Wünsche annimmt.

Die Magie des Zauberbergs hängt, glaube ich, damit zusammen, dass der gesamte Roman in einer abgeschotteten Parallelwelt fernab der Zivilisation spielt. In der Abgeschiedenheit des Sanatoriums “Berghof” gibt es eigene Regeln und eine eigene Geschwindigkeit. Dieser sich in meditativer Langsamkeit öffnende Raum hat nur wenig zu tun mit der Welt, aus der die Menschen hier her fliehen. Die Stunden, Tage und Wochen fließen nur so ineinander, das Weltgeschehen ist weit weg. Die Bewohner*innen des Berghofs stehen ihm geradezu gleichgültig gegenüber. Die alltäglichen Zwänge, Rollen und Erwartungen sind aufgehoben.

Stattdessen ist der lädierte Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. Geschultes Fachpersonal hört ihm zu, behandelt ihn, lässt Bäder ein, verordnet Diäten, misst Fieber, mehrmals täglich. Endlose Dialoge über existenzielle Fragen des Lebens entspinnen sich mit den anderen Gästen in der kühlen, winterlichen Kulisse der Alpen. Sie rauchen Mundstückzigaretten, trinken Genever, gehen spazieren, legen dreimal täglich den dienstlichen Lustwandel zurück. Viermal am Tag herrscht am Berghof die Horizontale. Liegekuren fördern die Heilung.

Hier, an diesem Ort, müssen die Menschen niemandem etwas beweisen. Sie müssen nicht einmal nachweisen, dass sie krank sind, um bleiben zu können. Der Zauberberg ist ein Raum, an dem die Existenz nicht an äußeren Anforderungen oder sichtbaren Erfolgen gemessen wird. Es gibt keinen Zweck, keine Beweispflicht, keine Eile. Wer heute noch nicht geheilt ist, bleibt noch ein wenig länger. Wenn es sein muss, auch sieben Jahre.

Aber das spielt irgendwann sowieso keine Rolle mehr. Mit Messen und überhaupt mit dem Verstand hat das ja absolut nichts zu tun, es ist eine reine Gefühlssache, schreibt Mann über die Wahrnehmung von Zeit. Wenn sie einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist, das weiß doch niemand.

Leider spielt sich das Leben für die meisten von uns nicht inmitten von Bergen, Bädern und Gesprächsrunden über das Leben, den Tod und die Zeit ab. Immerhin versuche ich aktuell jeden Morgen, mir eine halbe Stunde zu nehmen, mit einer Tasse Oolong-Tee, der Zeitung und einer Tageslichtlampe, die Teil meines derzeitigen Kurprogramms ist, um mir die winterlichen Depressionen vom Leib zu halten.

Weil ich 30 Minuten für diese tägliche Lichtdusche vorsehe, kam ich gestern nicht umhin, im Wirtschaftsteil der Süddeutschen ein Interview mit TUI-Chef Sebastian Ebel zu lesen. Es hatte die wenig versprechende Überschrift „Ich reagiere allergisch auf den Begriff Work-Life-Balance“. (Opens in a new window)

Ich ahnte, in welche Richtung dieses Gespräch gehen würde, und stieß auch bald auf den obligatorischen, erwartbaren Satz: “Um die aktuelle Krise zu bewältigen, wird auch gehören, dass wir wieder mehr und besser arbeiten.”

Für den Chef eines Reisekonzerns, der sich mit dem Wert von Freizeit auskennen sollte, scheint diese Aussage etwas verwunderlich. Doch wenn man genauer darüber nachdenkt, lebt das Geschäftsmodell ja gerade von der Erschöpfung der Menschen, die sich von ihrem sogenannten Jahresurlaub schnelle Erholung erhoffen.

Solche Interviews lese ich immer und immer wieder. Als ich mich bei Linked In (Opens in a new window) über den Artikel echauffierte, kommentierte jemand: “Ich lese solche Interviews gar nicht mehr.” Vielleicht werde ich das auch bald so handhaben. Aber einmal muss ich es doch noch sagen: Es gelingt diesen meist älteren Herren aus der Politik oder Wirtschaft immer wieder problemlos, private Care-Arbeit unsichtbar zu machen. In diesem Fall sagt TUI-Chef Ebel zwar: "Jeder, der Kinder hat, weiß, dass der Life-Teil auch nicht immer nur einfach ist."

Immerhin, eine kleine Anerkennung. Auch über die Benachteiligung von Alleinerziehenden ist er sich im Klaren und fordert eine Steuerreform. Dennoch halte ich seine Grundaussage und speziell die gerade zitierte Stelle für sehr problematisch, geradezu entlarvend.

Denn was deutlich wird: Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, ordnet er Kinderbetreuung nicht dem Bereich "Work" zu. Und die Anerkennung, dass Kinderbetreuung nicht leicht ist, hält ihn nicht davon ab, eine Ausweitung der Erwerbsarbeit zu fordern, als könnten sich Menschen einfach frei dafür entscheiden.

Wo sollen die Kinder denn hin?, möchte man ihm entgegenhalten. Aber nicht nur das. Wer organisiert denn den Alltag der Kinder, der Familie, der Ehemänner, die gerade im Geschäftsessen sitzen? Dass der mentale und emotionale Load, der zur Betreuung, Erziehung und Versorgung von Kindern und der Wahrnehmung ihrer Termine noch hinzukommt, und dass das alles viel Arbeit ist, die oft schön ist, und dennoch reichlich Zeit und Kraft kostet, ist Männern wie Sebastian Ebel offenbar nicht bewusst, weil Männer wie Sebastian Ebel diese Arbeit so selten machen.

Ich finde diese wiederkehrenden Interviews mit Wirtschaftsbossen und Politikern aus persönlicher und journalistischer Sicht schwer erträglich. Nicht nur ärgert mich, dass diese Positionen wieder und wieder in den Medien auftauchen. Es mangelt auch an Kritik seitens der Interviewenden. Jedes Mal, wenn jemand “Mehr Arbeit!” sagt, stellen sich doch unzählige Fragen, die beantwortet werden müssen.

Ich habe in der letzten Ausgabe meines Newsletters (Opens in a new window), gemeinsam mit der Hilfe Künstlicher Intelligenz, viele Fragen formuliert, die kritische politische und Wirtschaftsjournalist*innen ins nächste Interview mitnehmen können, wenn sie mal wieder mit Politiker*innen und Wirtschaftsvertreter*innen sprechen, die längere Arbeitszeiten fordern und die Faulheit der Bürger*innen beklagen.

Es sind Fragen, auf die wir als Gesellschaft Antworten brauchen. Ich habe diese Fragen in dem oben erwähnten Post bei Linked In (Opens in a new window) geteilt, was eine intensive Diskussion ausgelöst hat. Der Beitrag wurde nach nur einem Tag 10.000 Mal angezeigt. Auch auf der Plattform Threads (Opens in a new window) habe ich große Resonanz auf den Fragenkatalog erhalten.

Deshalb möchte ich diese Ausgabe nochmals nutzen, um die Fragen zu wiederholen und den Katalog zu erweitern. (Gerne teilen mit denjenigen, die diese Fragen an der richtigen Stelle adressieren können oder einfach direkt an Verfechter längerer Arbeitszeiten senden!)

Alle, die die Fragen schon aus der letzten Ausgabe kennen, können an dieser Stelle aufhören zu lesen. Vielleicht empfiehlt sich eine kleine Liegekur oder eine Unterhaltung über das Wesen der Zeit. Wenn möglich an der frischen Luft, das ist gut für die Lungen. Von Mundstückzigaretten und Genever rate ich hingegen ab.

Meine Fragen an Politiker und Wirtschafsbosse, die “mehr Arbeit” fordern:

  1. Wie rechtfertigen Sie die Forderung nach „mehr Arbeit“, wenn gleichzeitig Millionen Überstunden unbezahlt bleiben und viele Beschäftigte bereits an ihrer Belastungsgrenze arbeiten?

  2. Was unternehmen Sie, um die Rekordfehlzeiten in den Unternehmen zu reduzieren und die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern?

  3. Welche konkreten Pläne gibt es, um das Kinderbetreuungssystem so auszubauen, dass Eltern in den Arbeitsmarkt zurückkehren und ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten können?

  4. Welche Fehlanreize in unserem Steuersystem oder Sozialsystem hindern Menschen an einer höheren Erwerbstätigkeit, und wie können diese abgeschafft oder reformiert werden?

  5. Wie können die Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmer*innen so gestaltet werden, dass sie möglichst lange im Arbeitsmarkt verbleiben, jedoch zu Bedingungen, die ihren Lebensumständen und Bedürfnissen gerecht werden?

  6. Warum bleibt die Arbeitslosigkeit trotz des Bedarfs an Arbeitskräften auf hohem Niveau, und wie ließe sich die Wiedereingliederung verbessern?

  7. Wie soll das Fachkräftepotenzial von Frauen, Migrant*innen und anderen benachteiligten Gruppen besser genutzt werden, und welche Strategien sehen Sie, um bestehende Barrieren abzubauen?

  8. Wie kann die Digitalisierung der Arbeitswelt so gestaltet werden, dass sowohl die Produktivität als auch das Wohlbefinden der Beschäftigten gefördert werden?

  9. Wie wollen Sie die Arbeitsbedingungen in Berufen mit hohen körperlichen oder emotionalen Anforderungen verbessern, um Fehlzeiten zu reduzieren und Langzeitausfälle zu verhindern?

  10. Welche zusätzlichen Maßnahmen sind geplant, um Burnout, Stress und andere psychische Belastungen in Unternehmen präventiv zu bekämpfen?

  11. Was tun Sie, um den öffentlichen Nahverkehr so auszubauen, dass lange Pendelzeiten für Arbeitnehmer*innen verringert werden und Arbeitsplätze in ländlichen Regionen attraktiver werden?

  12. Welche Auswirkungen erwarten Sie von längeren Arbeitszeiten auf die Produktivität und Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen? Gibt es Studien, die dies belegen?

  13. Wie sollen Arbeitgeber dazu angeregt werden, Arbeitsplätze besser an die Lebensphasen der Arbeitnehmer*innen anzupassen, zum Beispiel durch Teilzeitmöglichkeiten für Eltern oder Sabbaticals für ältere Mitarbeitende?

  14. Welche Rolle spielt das Konzept des lebenslangen Lernens in Ihren Plänen, um die Beschäftigungsfähigkeit von Menschen in einer zunehmend dynamischen Arbeitswelt zu gewährleisten?

  15. Welche Konzepte zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie halten Sie für besonders vielversprechend?

  16. Wie soll die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen geschlossen werden, damit Care-Arbeit gerechter zwischen den Geschlechtern verteilt werden kann, ohne dass Frauen dadurch wirtschaftlich benachteiligt sind?

  17. Wie tragen Sie dazu bei, dass Beschäftigte konzentriert, ablenkungsfrei und unbehelligt von irrelevanten Besprechungen arbeiten können?

  18. Warum liegt der Fokus auf „mehr Arbeit“ statt auf höherer Wertschöpfung?

  19. Wie rechtfertigen Sie „mehr Arbeit“ angesichts des Klimawandels und der Notwendigkeit, Wachstum und Konsum zu überdenken? Sollte die Wirtschaft nicht nachhaltiger und weniger arbeitsintensiv gestaltet werden?

  20. Was ist Ihre langfristige Vision für die Zukunft der Arbeitswelt?

  21. Wie sieht eine optimale Balance zwischen wirtschaftlicher Produktivität und den Bedürfnissen der Arbeitnehmer*innen aus?

  22. Berücksichtigen Sie eigentlich die steigende Zahl von Arbeitnehmer*innen, die nach sinnstiftender Arbeit streben, anstatt bloß mehr Stunden zu leisten? Welche Alternativen bieten Sie für dieses Bedürfnis? Was haben Sie überhaupt zu bieten, um Menschen davon zu überzeugen, mehr zu arbeiten?

Wenn du weitere Fragen hast – oder Antworten geben kannst –, schick sie mir. Du kannst direkt auf diese Mail antworten oder mir an mail@stefanboes.de (Opens in a new window) schreiben.

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Meine aktuellen Termine:

9. Januar 2025: Salzburg, Afro-Asiatisches Institut: Haben wir unsere Zeit im Griff? (Opens in a new window), Zeitwerkstatt, 17–20 Uhr

Anfragen für Vorträge, Lesungen und Workshops an mail@stefanboes.de (Opens in a new window)

Danke für deine Zeit und bis bald,
Stefan

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