Was erlaube Urlaub?
Fühlen wie Flasche leer? Ab in den Urlaub!
Urlaub? Warum eigentlich Urlaub?
Was ist das überhaupt für ein Konzept?
Urlaub soll der Erholung dienen – nur hat offenbar jeder eine andere Vorstellung davon. Das sehe ich spätestens beim Doomscrolling durch meinen Instagram-Feed: ferne Strände, Retreats, Sonnenuntergänge in Slow-Mo. Yogaposen am Infinity-Pool. Meeresrauschen, das klingt, als sei es mit dem Synthesizer eingespielt worden.
Niemand postet sich in durchgesessener Jogginghose mit Chipskrümeln auf dem Bauch. Dabei wäre das vermutlich das ehrlichste Bild von Erholung. Aber nein – Urlaub allein genügt nicht. Er muss bewiesen werden. Öffentlich. In Echtzeit. Mit Filter. Und Drohnenaufnahme.
Denn Urlaub zählt heute nur, wenn er geteilt wird. Echtzeit-Storys, Boomerangs vom Pool, philosophische Zitate vor Sonnenuntergängen – als wäre Erholung nur real, wenn sie gefilmt wurde. Ich frage mich, wie viele Menschen im Urlaub einfach nur Urlaub machen. Also so richtig – ohne Content, ohne Pose, ohne Angst, etwas zu verpassen.
Gefühlt sind meine Instagram-Kontakte ständig unterwegs. Wie machen die das? Vielleicht wirkt es nur so, weil heute schon ein Cappuccino mit Hafermilch im Straßencafé als Mikroabenteuer auf Insta inszeniert wird.
Was mache ich falsch? Ich weiß es: kurz vor meinem eigenen Urlaub scrolle ich durch die Bilder anderer. Und weiß schon jetzt: Meine Reise wird anders aussehen.
Vor der Abfahrt spiele ich Tetris mit Koffern. Dann: Kinder auf den Rücksitz verfrachten, Diskussion über Sitzordnung, Snacks und Playlist. Und dann der Klassiker: Stau. Das Navi verspricht sechs Stunden Fahrt, die Hauptreisezeit macht daraus neun.
Im Auto läuft Benjamin Blümchen in Italien. In Dauerschleife. Während ich mich durch den lebhaften italienischen Verkehr manövriere, kurvt Benjamin mit dem Rollermobil durch Pisa. Irgendwann kann ich das Hörspiel nicht mehr vom echten Straßenverkehr unterscheiden. Ich bremse jedes Mal, wenn es bei Benjamin hupt.
Ankunft im Hotel. Check-in an der Rezeption mit müdem Lächeln und leichtem Vorwurf: „Wir hätten um 16 Uhr mit Ihnen gerechnet.“ Ich auch.
Eine Woche später dasselbe Spiel rückwärts. Verspäteter Check-out, erneuter Stau, zurück ins traute Heim – Glück allein? Nein. Statt Herberge: Wäscheberge. Und Mailberge. Das war es dann mit dem Urlaub. Bitte beim nächsten Mal wiederholen.
Sieht so Erholung aus? Ich würde fast sagen: Nein. Und doch machen wir es immer wieder. Weil es angeblich dazugehört. Weil wir sonst „ausbrennen“.
Dabei zündeln wir schon beim Packen an der Lunte.
Urlaub ist für mich das neue Arbeiten. Nicht, weil ich dabei besonders viel leiste – sondern weil wir ihn genauso minutiös planen, abstimmen, beantragen und durchorganisieren müssen. Und weil er mittlerweile denselben Stress verursacht wie der Job, den ich doch eigentlich kurz hinter mir lassen wollte. Out of Office – im Ausnahmezustand.
Früher, in den Achtzigern, als ich Kind war, schien das alles einfacher. Eine Woche Camping an der Adria, ohne generalstabsmäßige Planung. Morgens Brötchen holen, nachmittags UNO spielen, abends Grillen. Heute sollte es mindestens Bali sein. Oder etwas mit Retreat. Detox. Gerne auch „Workation“ – was im Grunde bedeutet, dass ich meine E-Mails unter Palmen beantworte. Aber mit Mocktail.
Entspannung ist zur Aufgabe geworden. Wer nicht entspannt, hat den Urlaub nicht verstanden. Also wird meditiert, gewellnesst, reflektiert. Der Spaziergang ist ein „Wander-Coaching“, das Abendessen ein „kulinarisches Erlebnis“, die Liege am Pool ein „Selfcare Hotspot“. Und wer nicht aufpasst, hat plötzlich ein Lebensmotto auf der Hand tätowiert: Breathe. Smile. Repeat.
Ich tue mich schwer mit diesem Diktat der Erholung. Schon weil ich keine Lust habe, auf meinem Handy nachzuschauen, wie viele Minuten Achtsamkeit ich heute wieder missachtet habe. Ich stelle mir vor, wie im Cluburlaub ein Animateur mit Headset-Mikrofon und Polyester-Funktionsshirt versucht, mich zum Zumba zu motivieren. Ich würde eigentlich nur schwimmen wollen. In Ruhe. Das könnte ich zu Hause ebenso tun.
Aber selbst der „Staycation“-Urlaub, einst gedacht als kleine Flucht ins Private, ist längst vereinnahmt. Wer zu Hause bleibt, sollte mindestens renovieren, begrünen, fasten, aufräumen – und sich dabei persönlich weiterbilden. Früher verbrachte ich auch mal eine ganze Urlaubswoche – mit Unterbrechungen versteht sich – auf dem Sofa. Bis Netflix mich fragte, „Sind Sie noch da?“. Es war herrlich. Heute würde Instagram mir das Gefühl geben, ich hätte meine Zeit verschwendet.
Vorsicht! Hier folgt eine kurze bildungsbürgerliche Abschweifung:
Interessanterweise ist das Wort „Urlaub“ sprachgeschichtlich verwandt mit „erlauben“. „Urlaub“ kommt vom mittelhochdeutschen Urloup – das hieß: Erlaubnis, wegzugehen. Im Mittelalter mussten Ritter ihre Herren fragen. Heute fragen wir den Chef. Oder den Kalender. Mit entsprechendem Vorlauf natürlich. Ob ein Ritter damals auf die Idee gekommen wäre, eine Urlaubsvertretung in die Schlacht zu schicken, ist nicht überliefert. Im Kaiserreich hatten übrigens nur Beamte Urlaub. Weil sie angeblich körperlich unterfordert waren. Erst 1903 erkämpften sich Brauereiarbeiter ganze drei freie Tage im Jahr. Damals wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, zwei Drittel des Urlaubs mit dem Ausfüllen von Urlaubsanträgen, dem Kofferpacken und der An- und Abreise zu verbringen.
Und was machen wir heute daraus?
Wir bauen einen Lifestyle daraus. Eine Industrie. Eine Erwartungshaltung.
Tiere machen das anders. Sie ruhen sich aus, wenn sie müde sind. Unmittelbar. Und überhaupt – warum muss ein Urlaub immer woanders stattfinden?
Glaubt man Instagram, muss ein gutes Reiseziel mindestens exotisch, unzugänglich und möglichst fotogen sein.
Ist Urlaub nicht dann am besten, wenn er sich nicht wie Urlaub anfühlt – sondern wie Durchatmen? Vielleicht ist das die ursprünglichste Form der Erholung: Nichts tun. Und niemandem etwas beweisen müssen. Ohne Erlebnisdruck und Reiseneid.
Oder wie meine Tochter letztens fragte, nach sechs Stunden Fahrt auf der von Baustellen gesäumten Autobahn, zwei Stunden Stop-and-Go in der gleißenden Sonne und dem Check-in in einem überfüllten Hotel: „Papa, wann fahren wir wieder heim?“
Ich glaube, sie hat recht. Wie heißt es doch so schön: Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. In diesem Sinne: Prost und einen schönen Urlaub!