Balance und Veränderung (3)
Im Münchener Haus der Kunst verschwinden Menschen. Sie wehren sich nicht und lassen es geschehen, wenn der Nebel sie verschluckt. Der Nebel, der drinnen aus einem raumgreifenden rechteckigen Becken aufsteigt, dessen Fläche die irisierenden Fensterscheiben spiegelt, die hoch oben in die Decke eingelassen sind, und gleichzeitig Nebelfetzen zeigt, die vorüberziehen und verschwinden. Draußen gleitet der Nebel an der Ostseite des Hauses vom Dach, deckt die zu, die da stehen und ihre Handy Kameras auf ihn richten, löst sich auf. Der Nebel hinterlässt Spuren auf der Haut, die Menschen, die er eingehüllt hat, sind verändert für ein paar Momente. Der Nebel hat ihnen etwas hinzugefügt, und sie haben es hingenommen, sie haben stillgehalten, damit er sein Werk tun kann.
Fujiko Nakaya, die Künstlerin, die weltweit rund 100 Nebelskulpturen geschaffen hat, sagt über ihre Arbeit:
„Wenn man die Natur mit dem eigenen Körper erlebt, bleibt die Qualität des Erlebnisses wirklich haften. Das ist etwas anderes, als wenn man mit Worten gesagt bekommt, was man tun soll….
Für mich ist die Natur nicht ein Objekt der Schönheit, sondern die Schönheit liegt in der Beziehung, die der Mensch zur Natur entwickelt. Durch diese Beziehung gewinnt er/sie die instinktive Weisheit, Entscheidungen zu treffen, die die Natur erhalten.“
In ihrem Buch „Geflochtenes Süßgras (Opens in a new window)“ erzählt Robin Wall Kimmerer, wie indigene Kulturen Richtungsfeuer anzündeten, wenn die Rückkehr ihrer Boote zu lange überfällig war, damit die Ausgefahrenen an der unwegsamen Küste leichter den Heimweg fänden. Wie schließlich, wenn die Fischer in ihren Kanus, beladen mit der Fülle des Meeres, zurückgefunden hatten, die Heimkehr mit Tänzen, Liedern und Herzen voller Dankbarkeit gefeierte wurde.
Durch Feuer geleitet und mit Zeremonien und Herzen voller Dankbarkeit empfangen wurde auch Bruder Lachs bei seiner mühsamen Reise den Fluss aufwärts, Bruder Lachs, der Nahrung im Kanu seines Körpers brachte und das Überleben während des Winters sicherte. Vier Tage lang zogen die Lachse ungehindert zu ihren Laichplätzen. Am fünften Tag begann das Fischen. Der erste Lachs wurde auf Farn gebettet zum Mittelpunkt einer Dankesfeier.
„Nimm nur, was du brauchst und lass alles andere vorbeiziehen“, lehrten die Alten die Jungen, „dann reicht der Fisch für immer.“
Sobald die Trockengestelle voll waren, wurde das Fischen eingestellt.
59% der 11 Millionen Tonnen Lebensmittel, die in Deutschland jährlich weggeworfen werden, entfallen auf private Haushalte. In einer Umfrage (Opens in a new window), die Wissenschaftlerinnen der University of Bath mit einem internationalen Team unter 10.000 Kindern und jungen Erwachsenen 2021 in 10 Ländern durchführten, geben 75% der Befragten an, sich vor der Zukunft zu fürchten. 85% waren der Meinung, die Menschen hätten bei der Fürsorge für die Erde versagt.
Lachse sind Wunderwesen des Stoffwechsels, sie werden im Süßwasser geboren, leben jahrelang im Salzwasser und beschließen ihr Leben im Süßwasser. Als die Flüsse noch nicht begradigt und den Zwecken der Schifffahrt oder Energiegewinnung unterworfen waren, konnten die Lachse ungehindert zu ihren Geburtsstätten zurückkehren, um dort zu laichen und für den Fortbestand ihrer Art zu sorgen. In Deutschland wurden die Flüsse zu Wirtschaftsgütern. In den 1950ziger Jahren war der Lachs bei uns ausgerottet.
Vor kurzem lief ich für eine halbe Stunde in Magdeburg herum. Es gibt sicherlich noch ein anderes Magdeburg. Das Magdeburg, dem ich begegnete, ist eine Stein- und Betonwüste. Die massiven Häuserblöcke um den Bahnhof herum zwingen mir den Weg auf. Es ist heiß und staubig, kein Grün weit und breit, die Fahrbahn sechsspurig aufgerissen, eine Unterführung entsteht, eine Plane am Bauzaun informiert über die Tonnen von Beton und die Kilometer von Stahlträgern, die hier verbaut werden. Höher als der Magdeburger Dom ist ein Vergleichsmaßstab.
Ich denke mir, wer die Unwirtlichkeit einer Stadt erfahren möchte, sollte an einem Hochsommertag genau hierher kommen.
Die Unwirtlichkeit ist gleichzeitig eine Lektion in Unwirklichkeit. Wo berührt der beton- und stahlprotzende Straßenmoloch das Leben von Menschen? Ist Verkehrsplanung, die sich gegen ein 700 Jahre altes Sakralgebäude aufmandelt, auf Augenhöhe mit den Menschen? Andererseits, vielleicht ist die Referenz gar nicht so unzutreffend. Wir feiern die Ankunft von Schiffen und Kraftfahrzeugen und errichten ihnen kathedralenartige Straßen zu Wasser und zu Land.
Unsere Beziehungen sind geprägt vom Wunsch nach Besitzstand, dem Bedürfnis nach Mobilität und dem Wunsch nach Bequemlichkeit. Berühren uns diese Beziehungen, nähren sie uns, sind sie heilsam? Ich würde die Frage verneinen. Wir haben verlernt, was wir wirklich brauchen. Deshalb bauen wir Steinwüsten, in denen Bäume oder Grashalme keinen Platz finden und opfern alte Wälder für ein bisschen mehr Kohle.
Bevor sie die ersten Nebelskulpturen erschuf, filmte Fujiko Nakaya in den 1970iger Jahren die Arbeit einer Spinne. Ihr emsiges Weben des Netzes. Nakaya wollte, dass die Betrachter nicht ihre, sondern die Zeit der Spinne erfahren.
„Wir haben so lange die Natur durch unseren eigenen „Filter“ ausgewählt und wahrgenommen. Ich möchte mit der Natur auf Augenhöhe sein“.
Der Körper in einer Landschaft wird von der Landschaft berührt, die ihn nährt. Der Mensch, der im Rhythmus der Jahreszeiten atmet, versteht, dass sein Dasein nur in der Beziehung zur Natur gesichert ist, die keine Unterwerfung kennt.
Robin Wall Kimmerer erzählt, wie die Eroberer der neuen Welt, die ihr Land zurückließen, die Wertschätzung für das Land und die Rituale, die diese Wertschätzung ausdrücken, vergaßen.
In dieser Weise sind wir alle Usurpatoren. Unsere Körper sind aus der Balance, weil unsere Beziehung zu der Erde, die uns nährt, aus der Balance geraten ist. Aneignung durch Gewalt ist etwas anderes als eine Beziehung auf Augenhöhe.
In seinem Gedicht (Opens in a new window)„Nenne mich bei meinem wahren Namen“, findet Thich Nhat Hanh viele Beispiele, in welcher Weise wir mit allem Leben verbunden sind:
Ich komme stets gerade erst an,
um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.
Ich bin die Eintagsfliege,
die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft.
Und ich bin auch der Vogel, der herabstürzt, um sie zu schnappen.
Ich bin der Frosch, der vergnüglich im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.
Und ich bin die Ringelnatter,
die in der Stille den Frosch verspeist……….
So könnte der erste Schritt aussehen, um wieder etwas Balance herzustellen:
Sich bewusst zu werden, wie alles Leben miteinander verwoben ist, sich erinnern, dass wir Verantwortung tragen, auch für Wälder, Spinnen und Grashalme.
Der nächste Schritt wäre, sich der Beziehungen bewusst zu werden, die wir mit der Welt haben. Sind es Beziehungen der Unterwerfung und Aneignung oder sind es Beziehungen auf Augenhöhe?
Ein weiterer Schritt wäre, Dankbarkeit zu üben. Dankbarkeit gegenüber dem Wasser und dem Wald und den Tieren und dem Wind und der Sonne. Die Liste ist ziemlich lang.
Die Nation der Haudenosaunee stellt die Worte ihres Danksagungsrituals für die natürliche Welt in über 40 Sprachen zur Verfügung. (Ich habe keine deutsche Übersetzung gefunden, obwohl es sie geben muss; dieser Link (Opens in a new window) führt zum englischen Text).
Noch ein Schritt wäre, das Staunen zu üben. Staunen bedeutet, mit Verwunderung und auch Ehrfurcht etwas wahrzunehmen. Können wir das, was uns umgibt, mit Staunen betrachten? Neurobiologisch gesehen ist Staunen Resilienz fördernd. Eine Praxis des Staunens beruhigt Körper und Geist, gibt Hoffnung und Inspiration fürs Weitermachen.
Natürlich können wir nicht an allen Ecken und Enden für Balance sorgen. Schon der bloße Gedanke an das, was alles aus den Fugen geraten ist, fühlt sich überwältigend an.
Deshalb ist es sinnvoll, sich einen kleinen Bereich auszusuchen, für den wir Verantwortung übernehmen. Welche Handlungsmöglichkeiten wir u.a. haben, steht in meinem Manifest (Opens in a new window) der Handlungsspielräume in meiner kleinen Welt.
Als Beispiel ein kleiner Beitrag zur Balance letztens während einer Reise: im Treppenhaus des Hotels entdecke ich Pflanzen die fast vertrocknet sind, während ihre Gefährtinnen in der Lobby kraftvoll gepflegt strahlen. Um das schmutzige und verstaubte Treppenhaus und seine Bewohnerinnen kümmerte sich kein*e.
Ich lief mit meiner Wasserflasche viele Male treppauf, treppab, goss die Pflanzen, sagte an der Rezeption Bescheid. Ja, Peanuts. Und keine Ahnung, ob das die Pflanzen dauerhaft gerettet hat. Doch das ist nicht der Punkt. Ich glaube, dass jede noch so kleine Geste der Fürsorge eine Auswirkung hat. Fürsorge ist beziehungsbildend. Fürsorge wirkt nach außen und nach innen. Fürsorge ist Erziehung zur Großzügigkeit und zum Mitgefühl.
Eine Geste der Fürsorge wäre auch, sich öfter zu fragen: was kostet das außer Geld? Wer zahlt die Rechnung? Ist das ein ausgeglichenes Geschäft? Brauche ich das wirklich oder sind meine Trockengestelle schon gut gefüllt?
In diesem Sinne wünsche ich allen, ihr kleines Feld der Balance zu finden, das sich freudig bestellen lässt. Darin liegt die Kraft der Veränderung.
…………………….
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