Abgetrieben
Liebe Leser:innen,
ich sitze im Zug nach Washington, wo ich den Wahlabend bei der Watchparty der DC Democrats verbringe und beruhige mich mit meiner „ESC Chill“-Spotify-Playlist.
Ich habe den Newsletter wegen einiger großer Arbeitsprojekte leider nicht ganz so engagiert durchgehalten, wie erhofft. Aber trotzdem hat es sich gut angefühlt, wieder eine Stelle zu haben, an der ich meine Gedanken ordnen konnte und kluge Rückmeldungen dafür bekommen habe – vielen Dank.
Und weil das hier mein eigener kleiner Garten ist, verderbe ich mir jetzt die Reputation mit einer klaren Prognose: Ich glaube fest, dass Kamala Harris extrem unterschätzt und die Wahl deutlich gewinnen wird.
Let's go.
Warum ich so optimistisch bin:
Ich bin der Meinung, dass ein überzeugender Sieg von Harris mit um die 300 oder mehr Wahlleuten wahrscheinlicher ist als ein Sieg von Donald Trump und will auf drei Gründe eingehen.
Die Medien haben das entscheidende Thema dieses Wahlkampfs nicht verstanden: Abtreibung.
Als Kamala Harris vor einigen Wochen bei der freundlichen Mittags-Talkshow „The View“ zu Gast war, ist bei mir der Groschen gefallen: Frauen in den USA sind unfassbar wütend auf die Republikaner und die männerdominierten Medien und Umfrageinstitute übersehen das. Die Sendung moderieren fünf Frauen unterschiedlichen politischen Überzeugungen, die Archetype reichen von der republikanischen Wine Mom bis hin zur linken Hollywood-Schauspielerin Whoopie Goldberg. Ungeachtet dieser politischen Meinung waren sie im Gespräch mit Harris so spürbar angewidert von der Abtreibungs- und Gesundheitspolitik der Republikaner, dass es mich lange hat inne halten lassen. Denn die männliche Kommentar-Kaste hält dieses Thema immer noch für Chichi. Ein Senatskandidat in Ohio hat sogar bei einer Wahlkampfveranstaltung gesagt, er könne gar nicht verstehen, warum sich ältere Frauen überhaupt noch mit dem Thema beschäftigen, wo es doch für längst nicht mehr relevant sei.
Eine von drei US-Frauen kann derzeit keine Abtreibung legal vornehmen lassen. Donald Trump sagt, er sei ein Beschützer der Frauen, „ob sie das wollen oder nicht.“ Er beschreibt Kamala Harris als „low-IQ“ und „dumm“ – und nun wirklich jede Frau kennt die Wut darüber, dass ein weniger als mittelmäßiger älterer Mann sie so beleidigt. Wenig haben Frauen bei meinen Reisen durch die USA häufiger zitiert als JD Vances Beleidigung von „kinderlosen Katzenfrauen“.
Es gibt deshalb Zeichen, dass die Umfragen zu vorsichtig sind.
Den Instituten sitzen die Wahlen 2016 und 2020 in den Knochen, bei denen sie Donald Trumps Zustimmung unterschätzt haben. Sie waren von der deutlich höheren Unzufriedenheit vieler Menschen überrascht, die sonst eigentlich nicht wählen und auch nicht bei Anrufen oder Online-Aufforderungen auf Umfragen antworten. In diesem Jahr haben sie das korrigiert und solche Bevölkerungsgruppen stärker gewichtet. Es ist gut möglich, dass sie es damit übertrieben und übersehen haben, welche Gruppen dieses Mal überraschend stark zur Wahl gehen.
Für mich sind das Frauen in gleich drei wichtigen Kategorien: Schwarze, die begeistert über die erste Kandidatin sind, die ausschaut wie sie; ältere, die sauer sind, dass ihre Töchter und Enkelinnen weniger Rechte haben als sie; jüngere, die Angst haben, dass die Konservativen und Radikalen nicht bei Schwangerschaftsabbrüchen Halt machen, sondern als nächstes die Pille und andere Verhütungsmethoden untersagen.
In den zwei Abschlusswochen hat Trump versagt.
Vor zwei Wochen war mein Optimismus beinahe verschwunden. Eine weitere Reihe an Umfragen hatte Gleichstand und gar leichte Rückstände in wichtigen Swing States für Harris vorhergesehen und meine Kalkulation war, dass nur noch Trump einen Termin von nationaler Bedeutung auf dem Kalender hatte: Seine Rallye im New Yorker Madison Square Garden.
Schon bei der Ankündigung wurden da zwar Erinnerungen an eine Nazi-Wahlkampfveranstaltung in den 1930er-Jahren laut, aber dass sich Trump dann so sehr an das historische Vorbild halten würde, hat mich überrascht. Neben den “Katzenfrauen“ drang nämlich plötzlich ein weiterer Spruch zu vielen Menschen durch, der Spruch von Comedian Tony Hinchcliffe, dass Puerto Rico ein einziger Müllteppich im Ozean sei. Wirklich alle meine Latino-Freunde haben aufgehorcht, allein eine Hand voll Musik-Superstars auf Instagram haben den plumpen Scherz an ihre mehr als 700 Millionen Follower geteilt. Darin stößt nicht nur der Scherz auf, sondern auch, wie die 20.000 Besucher des Events gehässig mitlachen.
Auch darüber hinaus hat Trump in den zwei Abschlusswochen des Wahlkampfs überhaupt nichts getan, um Unentschiedene zur Stimmabgabe zu bewegen. Er hangelte sich durch kraftlose Reden vor halbleeren Rängen, fantasierte davon, seine parteiinterne Gegnerin Liz Cheney und Journalisten zu erschießen und landete nicht einen gezielten Angriff auf die Wirtschafts- oder Einwanderungspolitik der Vizepräsidentin. Auch er ist im Wortsinn: abgetrieben.
Hinzukommt, dass die Republikaner in den Swing States deutlich weniger kaum Freiwillige in der Fläche hatten – auf Demokratenseite haben allein am vergangenen Wochenende Zehntausende in Pennsylvania an Türen potentieller Wähler:innen geklopft – Samstagmittag waren es 2.000 Hausbesuche pro Minute. (Von denen in kaum fünf Prozent geöffnet wird, aber das ist ein anderes Thema.)
Der sehr lesenswerte Tom Alberta beim Atlantic (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hat toll klatsch-mäßig die Kämpfe und Intrigen hinter den Kulissen des Trump-Wahlkampfs beschrieben und erklärt, wie es zur Verpflichtung von Hinchcliffe kam.
Worauf ich heute Abend achten werde:
Es gibt einige gute Guides zum Verlauf der Nacht (sehr gut gefällt mir dieser Überblick bei Semafor (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)), deshalb von mir nur knapp: Schon zwischen zwei und drei Uhr deutscher Zeit könnte es erste belastbare Zeichen geben, wie die Wahl gelaufen ist.
Bis dahin melden Georgia (2020 hauchdünn Biden), North Carolina (2020 knapp Trump) und Florida (2020 mit etwa drei Prozentpunkten Unterschied etwas klarer Trump) große Stimmblöcke. Ich werde darauf achten, ob sich aus ihnen ein Umschwung zu Harris von drei oder mehr Prozentpunkten im Vergleich zur Wahl vor vier Jahren und im Vergleich zu den Umfragen ablesen lässt. Sollten die nämlich Harris um diese Differenz unterschätzt haben, dann ist ihr ein landesweiter Sieg nur schwer zu nehmen.
Kurz darauf könnten auch die ersten Zahlen aus den drei Midwest-Staaten kommen, vor allem Michigan zählt meines Wissens nach recht fix. Damit hätten wir dann ein Bild, das sowohl Weiße und Arbeiter (Midwest) als auch Schwarze (Georgia und North Carolina) und Ältere und Latinos (Florida) gut abbildet.
Wichtig bei der Interpretation der Nacht ist weniger der tatsächliche Ausgang (es gibt einfach viele Staaten, in denen ein Sieg Trumps oder Harris’ klar ist), sondern die Frage, ob sie ihre Erwartungen übertreffen. Wenn alle Prognosen von einem 50-50-Rennen ausgehen, dann wird eine Reihe von Abweichungen in die eine oder andere Richtung ein sicheres Zeichen.
Anderswo:
Im heimischen Podcast Bei Burger und Bier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) blicke ich mit Bastian Hartig auf die Nacht voraus.
https://burgerundbeer.podbean.com/e/der-ultimative-leitfaden-zur-wahlnacht/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Für Zeit Online (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) habe ich eine Podcast-Serie zu den 48 Monaten von Trumps erster Amtszeit geschrieben. Vielleicht haben wir ja Glück und müssen uns an diese Zeit nicht mehr erinnern.
https://www.zeit.de/serie/vier-jahre-trump (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Im Übermedien (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)-Podcast „Holger ruft an” habe ich über die fragwürdige Rolle der US-Medien im Podcast gesprochen – und darüber nachgedacht, wie wir Journalist:innen vielleicht generell falsch mit Rechten umgehen.
https://uebermedien.de/99602/sind-klassische-medien-im-us-wahlkampf-bedeutungslos-geworden/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Für die dpa habe ich die Grundregeln der Wahl einfach zusammengefasst, zu lesen beispielsweise beim RND (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
https://www.rnd.de/politik/us-wahl-2024-antworten-auf-die-wichtigsten-fragen-FNDWX2B3URNTLEGVTG3TZBDCWA.html (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Für Krautreporter (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) habe ich mir angeschaut, was Kamala Harris eigentlich erreichen will (frei für 24 Stunden).
https://krautreporter.de/politik-und-macht/5579-das-will-kamala-harris-wirklich?shared=38f81290-55d0-4e9c-9a7c-7409791b8eda&utm_campaign=share-url&utm_medium=editorial&utm_source=mailchimp.com (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Wie Kamala Harris immer sagt:
Weeping may endure for a night, but joy cometh in the morning! (Psalm 30:5)
Best from the train to DC,
Christian
PS: Solltet ihr „WTH, America“ von Freundin oder Feind weitergeleitet bekommen haben, könnt ihr selbst hier den