Wie steht's ums Kanzler*inamt?
Die Medien sind voller Takes und Spins, wer warum Kanzler*in wird oder auch nicht. Gefühlt gibt es alle paar Tage ein neues Narrativ. Ich will hier einen möglichst entspannten Blick auf die aktuelle Lage werfen.
Eine Sache vorab
Im Folgenden werde ich auf Politik blicken als wäre es ein Pferderennen, als ginge es bei Wahlen nur darum, wer Erster, Zweiter, Dritter wird. Das ist an sich eine sehr schädliche Herangehensweise. Politiker*innen entscheiden täglich über Privilegierung und Ausgrenzung, Armut und Reichtum, Leben und Tod. Manche Wahlergebnisse bedeuten deshalb schreckliches Leid für viele Menschen. Der Blick auf Politik als Pferderennen tut so, als ginge es nur darum, auf das gewinnende Pferd zu setzen, unabhängig davon, welche Politik dies bedeuten würde.
Warum also dieser Artikel? Dieser Pferderennen-Frame ist medial allgegenwärtig. Selbst in Artikeln über die Ideen von Parteien, mit Problemen umzugehen, wird alles in Relation gesetzt zu den Umfragewerten der Partei. Der Frame wird auch von manchen Gruppen eingesetzt, um die Situation für bestimmte Gruppen und die, die sie vertreten, aussichtslos erscheinen zu lassen. Um Menschen zu entmutigen, überhaupt zur Wahlurne zu gehen oder für sich und gesellschaftlich ausgegrenzte Menschen zu kämpfen. Ich will dem hier etwas entgegensetzen. Einen realistischen Blick auf die Situation. Denn der realistische Ausblick stimmt eigentlich sehr optimistisch. Es lohnt sich, für ein besseres Zusammenleben zu werben.
1. Wer kann überhaupt Kanzler*in werden?
Ich fürchte, viele in der Bevölkerung nehmen an, nur Laschet habe aktuell realistische Chancen aufs Kanzler*inamt. Schließlich "führt" seine Partei in Umfragen und damit im "Pferderennen". Doch um Kanzler*in zu werden, braucht ein*e Kandidat*in die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - und selbst Laschets Partei ist weit davon entfernt, als Fraktion mehr als 50 % der Sitze des Bundestages zu besetzen. Also wird eine Koalition mit anderen Parteien nötig. Koalieren können theoretisch alle Fraktionen miteinander, normalerweise stellt die größte Fraktion einer Koalition dann den*die Kanzler*in. Realistisch sind allerdings nicht alle Koalitionen.
2. Welche Koalitionen sind realistisch?
Ich würde davon ausgehen, dass keine Koalition zustande kommen wird, die so oder so ähnlich nicht zuvor schon einmal im Bund oder in den Bundesländern ausprobiert wurde. Soweit ich das überblicken kann, waren in Koalitionen nie mehr als drei Fraktionen beteiligt (außer in der etwas chaotischeren Anfangsphase unseres Parteiensystems, als es etwa in Bayern eine Viererkoalition gegen die CSU gab). Und soweit ich das überblicken kann, haben weder CDU/CSU noch FDP jemals mit der Linken in Bund und Ländern koaliert. Sie sind zugleich die einzigen beiden Parteien, die in einer Ministerpräsidentenwahl mit der AFD gestimmt haben.
3. Welche Koalitionen hätten Stand 01.08.21 eine Mehrheit?
Für diese Frage nehme ich den Wahltrend von Dawum, welcher Umfragen verschiedener Umfrageinstitute gewichtet, als Grundlage, weil dieser wenigen Schwankungen unterliegt. All denen, die ein transparenteres, ungewichtetes, aktuelles Bild wollen, empfehle ich an dieser Stelle einen Blick auf die "politische Stimmung", wie sie von der Forschungsgruppe Wahlen (Auftraggeber*in: ZDF) ausgewiesen wird. Wenngleich wir einige qualitativ hochwertige Umfragen haben, wird das letzte, möglichweise abweichende Wort an der Wahlurne gesprochen.
Stand 01.08.21 hätten laut Dawum diese realistischen Koalitionen eine Mehrheit:
CDU/CSU + Bündnis'90/Die Grünen
CDU/CSU + SPD + FDP
CDU/CSU + FPD + AFD
Bündnis'90/Die Grünen + SPD + FDP
Letztlich gibt es also zwei realistische Koalitionsmöglichkeiten, in denen Laschet Kanzler würde, und eine realistische Koalitionsmöglichkeit, in der Baerbock Kanzlerin würde. Der Spin, dass Baerbock aus dem Rennen ist, ist also völlig abwegig.
Die Frage ist nur, welche Kombination die Parteien zustande kommen lassen. Alle sind realistisch, doch jede der Koalitionen wäre für mindestens eine Partei eine bittere Pille zu schlucken. Die Grünen wollen ein Bündnis ohne CDU/CSU, die SPD ebenso. Die FDP dagegen will Laschet als Kanzler. Niemand will mit den Stimmen der AFD Kanzler werden, doch das Thüringische Modell kann in Verhandlungen gut als Drohszenario eingesetzt werden. Das werden lange Verhandlungen, aber sowohl Laschet als auch Baerbock könnten die nötigen Mehrheiten zusammenbekommen.
Dieses Bild ist außerdem sehr stabil: Laschet hätte diese Mehrheiten seit seiner Nominierung als Kanzlerkandidat und auch Baerbock hatte seit ihrer Nominierung als Kanzlerinkandidatin bis auf zwei Sonntag bislang immer ihre Mehrheit beisammen.
4. Wer hätte zwar aktuell keine Mehrheit, ist aber dennoch noch im Rennen?
Bis zur Wahl kann sich noch einiges wandeln, gerade auch von Landtagswahlen kennen wir enorme Veränderungen kurz vor der Wahl. Woran kann also festgemacht werden, ob ein Kandidat noch im Rennen ist?
Ich will hier das schlechteste Ergebnis eines Kanzlerkandidaten ever als Messlatte nehmen. Als Martin Schulz 2007 der aussichtsreichste Kandidat gegen Angela Merkel war, fehlten ihm am Wahlabend 7,4 Prozentpunkte, um ins Kanzler*inamt einziehen zu können. So alternativlos in Koalitionsverhandlungen wie Merkel 2017 war zuvor nie ein*e Kanzler*in.
Olaf Scholz kürzester Weg ins Kanzler*inamt wäre es aktuell, in der Kombination "Bündnis'90/Die Grünen + SPD + FDP" die Grünen zu überholen. Dazu fehlen ihm momentan gerade einmal 3,2 Prozentpunkte.
Auch Christian Lindner ist nicht weit abgeschlagen: Diese Woche verringerte sich sein Abstand zu den Grünen auf 7,2 Prozentpunkte. Auch das ist besser als Schulz 2017. Im Gegensatz zu Scholz, der seit seiner Kandidatur nur für etwa einen Monat hinter Schulz' Bilanz gelegen ist und damit sehr stabil im Rennen liegt, ist Lindners Stellung noch recht frisch.
5. Fazit
Die Zukunft ist beeindruckend offen. Wir sollten uns von Spins und Takes, die das Gegenteil behaupten, nicht verunsichern lassen. Es kann gut werden.
Weitere Gedanken zur Wahl
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Eigentlich will ich hier immer mit einer Musik-Empfehlung enden, aber ehrlich gesagt hänge ich musikalisch noch immer beim Eurovision Song Contest fest. Deshalb stattdessen hier eine Guck-Empfehlung: "Der Raum" mit Eva Schulz ist ein neues Politikformat, bei dem die Gäst*innen in einen thematisch gestalteten Escape-Room gesteckt werden. In einer der Folgen geht es um Fleischkonsum, in der anderen um das Bildungssystem. Polit-Junkies werden dabei zwar nicht viel neues lernen, aber es macht einfach mega Spaß zuzuschauen. Auch die Diskussionen sind eine Wohltat: Dadurch, dass alle Teilnehmer*innen gemeinsam den Escape-Room lösen müssen und durch die Aufgaben die Diskussionen ständig mit Fakten unterfüttert werden, bleiben die Debatten konstruktiv und respektvoll. Plasberg und Co. können einpacken.
https://www.ardmediathek.de/sendung/der-raum-oder-politik-talk-mit-eva-schulz/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9zZGIvc3RJZC8xMzQ0/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Danke für's Mitlesen! Wenn euch der Beitrag gefallen hat, könnt ihr ihn auch gern mit anderen in sozialen Medien oder per Mail teilen — hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) kann man sich für den Newsletter anmelden. Für Feedback und weiterführende Gedanken könnt ihr, glaube ich, einfach auf die Mail antworten. Probiert's mal aus, dann weiß ich auch, ob's wirklich klappt ;)
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Stefan