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Wo geht’s hier zum Narrativ?

Carsten Brosda, SPD-Kultursenator von Hamburg, hat sich auf die Suche nach den packenden linken Geschichten gemacht. Herausgekommen ist ein schlaues Buch über Gerechtigkeit, Freiheit, Autonomie und Gemeinschaftlichkeit.

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Unlängst dachte man kurz, der linke, systemkritische Protestsong sei zurück, als in den USA ein rothaariger Rauschebart, der Country-Sänger Oliver Anthony, mit „Rich Men North of Richmond“ einen No.1-Hit landete. Der Song handelt vom beschwerlichen Leben der Arbeiterklasse außerhalb der Metropolen, am flachen Land und in den Kleinstädten, die ihr Leben mit konventionellen Werten leben, den Rücken durchdrücken, die sich nicht schenken lassen, schwielige Hände haben und gerade mal so irgendwie durch’s Leben kommen. Es besingt den Stolz dieser Arbeiterklasse, deren Gefühl, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Er erzählt von denen, die ihre Seele verkaufen, malochen von früh bis spät, für lächerliches Geld. Alle Reichtümer krallen sich die „Rich Men North of Richmond“ (nördlich von Richmond kommt erst Washington und dann New York City), und was noch bleibt, wird für die „Taxes“ – Steuern – abkassiert. Fein raus seien außerdem die Arbeitsscheuen, die Sozialhilfeempfänger, die „Fettsäcke, die das Welfare-System melken“. Streicht man die Sozialleistungen und kürzt man die Steuern, dann wäre alles wieder perfekt in Good-Old-USA.

Upsi, doch nicht so links.

Die ultrarechten Republikaner feierten den Song schon wie eine Hymne. Working-Class-Romantik mit Schlagseite.  Anthony distanziert sich derweil, er habe mit diesen Rechtsradikalen nichts zu tun. Es ist aber so oder so eine Erzählung, die konservative und reaktionäre Weltbilder abruft, oder, wie man heute so schön sagt: Narrative.

Mister Smith geht nach Washington

Manchmal ist der Grat zwischen progressiver Sozialkritik und dem Reaktionären noch viel dünner. Das ist nicht ganz neu. Oft ist die Trennlinie kaum zu sehen. Legendär ist beispielsweise Frank Capras „Mr. Smith geht nach Washington“ aus dem Jahr 1939, mit dem famosen James Stewart in der Hauptrolle. Die Story handelt von Herrn Smith, einem leichtgläubigen, naiven, aber populären Pfadfinderführer, den die Hintenherumdreher in seinem Bundesstaat als Senator nominieren und nach Washington schicken, im Glauben, sie könnten ihn leicht kontrollieren. Herr Smith aus dem ländlichen Mittelwesten, wo noch Anstand und Normalität herrschen, gerät in die korrupte Großstadt mit ihren mafiösen Politikränken. Nach einiger Zeit durchschaut Smith die schmierigen Eliten. Sie wollen ihn vernichten. Am Ende räumt er mit den Korruptionisten auf. Das Faszinierende daran: Wir können das als eine linke Geschichte lesen, mit ihrer Erzählung vom geerdeten, integren Mann aus dem Volk, der mit den korrupten Geschäftemachern aufräumt. Oder als eher reaktionäre Geschichte vom Mann, der tief verwurzelt ist in den traditionellen Werten seiner ländlichen Umgebung, und im liberalen Urbanismus des Moloch Stadt und der verkommenen Regierungszentrale seinen Todfeind erkennt.

Eine Art Kippbild, in dem jeder Betrachter das sehen kann, was er mag.  

Die Geschichte vom einfachen Mann

Heute haben die radikalen Rechten überall auf der Welt eine sehr simple, nur leicht variierende Geschichte zu erzählen: Der normale, einfache, weiße Mann zählt nicht mehr. Seine Arbeit wird nicht respektiert, aber auch seine traditionellen Werte zählen nichts mehr. Er wird von liberalen Eliten in den Großstädten, von Studenten und Akademikern unterdrückt. Ausländer, Frauen, Feministinnen, Schwule, Lesben, alle Minderheiten werden gehätschelt, aber der „regular Guy“, der wird runtergemacht und unterbuttert. Die Champagner-Gesellschaft zieht ihm die letzten Cent aus der Tasche, die woken Tugendterroristen verbieten ihm auch noch das Maul. Aber er erhebt sich jetzt gegen die Böslinge.

Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda hat dieser Tage ein Buch mit dem Titel „Mehr Zuversicht wagen“ herausgebracht, das sich über weite Strecken der Macht des Geschichtenerzählens widmet. Die zentrale These, arg verkürzt: Die Linken und Progressiven hatten einmal die besseren Geschichten. Aber heute haben sie kaum eine verdichtete Geschichte anzubieten. Bei den Linken geht es dann stark um komplizierte Sachverhalte, die kaum jemand versteht; oder sie beklagen alle möglichen Ungerechtigkeiten, ohne dass ein Funke Hoffnung entsteht; die schlaueren Linken wiederum sind voll des Bewusstseins von der Komplexität der Welt und der Ambiguität jedes Sachverhaltes, dass sie am Ende im „Einerseits-Andererseits“ völlig handlungsunfähig werden. Jedenfalls kommt nie etwas heraus, das einem emotional packt.

Kurzum: Die Rechten haben die simpleren, eingängigeren Geschichten. Die Linken haben viel Kopf und wenig Gefühl.

Und jetzt mit mehr Gefühl

Der deutsche Sozialdemokrat Brosda ist erstens Kulturpolitiker, zweitens ein schlauer Mann, drittens unglaublich belesen und Kenner von Filmen und Songs, weshalb er uns darauf hinweist: Der Fundus packender Zeilen findet sich nicht zuletzt in der Kunst, in den Songs „von Joni Mitchell, Bob Dylan, Patti Smith, Leonard Cohen und Nils Koppruch, den Romanen von Don DeLillo und Tony Morrison, den Filmen von Joel und Ethan Coen oder den Texten von Kurt Tucholsky“.

Für die „Kraft der Kunst (…) sollte sich Politik dringend mehr interessieren“, proklamiert er.

Kunst und der Bewegungscharakter von Kunstrevolutionen hat sowieso immer einen wesentlichen Beitrag zu einem progressiven Klima (dem berühmten „Zeitgeist“) geleistet, der dann der Linken günstig war, von Heine über die Wiener Moderne, über zu Picasso, Braque und Co. bis zur 1960er-Jahre-Avantgarde, ohne die weder die Revolten der Sixties noch die progressiven Reformregierungen von Kreisky, Brandt und anderen möglich gewesen wären.

Brosda cruised vom Folk-Song bis zum zeitgenössischen Hip-Hop, von den Filmen Hollywoods zu Bruce Springsteen bis zum intellektuellen Pop von Tocotronic.

Kunst, von Film bis Song, ist erst einmal sehr gut darin, Ungerechtigkeiten zu Sprache zu bringen. Seien es die Verwundungen der Ausgegrenzten, der Zorn der Unterdrückten, die „Storys still untold“, sei es die Schinderei der Arbeiterklasse. In den Sechzigern wurde noch das harte Leben besungen, mit dem man die Familie durchbringt, heute geht’s schon darum, dass es nicht einmal mehr dafür reicht, wie man in Bob Dylans Workingman’s Blues #2 von 2006 nachhören kann: „The buyin‘ power oft he proleatriat‘s gone down / Money‘s getting shallow and week.“ Malochst du von 9 bis 5, kommst du nicht mehr durch.

Gerechtigkeit, Freiheit, Gemeinschaftlichkeit

Gerechtigkeit, Autonomie und Freiheit sowie Gemeinschaftlichkeit, das sind seit jeher, konstatiert Brosda, die großen Thematiken in jener Kunst, die vibrierend mit progressiven Weltbildern wechselwirkt. „Die Verwerfungen unserer Gesellschaft lassen sich nicht auf Gerechtigkeitsfragen beschränken, sondern berühren ebenso die individuelle Autonomie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Die Gerechtigkeit kommt meist negativ vor, also als Anklage von Ungerechtigkeiten, oder als präzise Beschreibung derselben.  Aber noch die beschwören eine Würde und stellen sie damit her. Hoffnungsmachender, also positiver, seien immer die Bilder von Freiheit und Autonomie, von einem ganz anderem Leben, jenseits von Zwängen und Konventionen gewesen, die in Song und Film und Literatur gezeichnet werden. „Lauf davon, so schnell du kannst, bevor sie dich bekomm’n“. Freedom’s just another word for nothing left to lose. Die linke „Story“ ist die vom Leben nach den eigenen Präferenzen, aber nicht als Egozentriker ohne Bindungen wie in den Märchen der Libertären, sondern in Gemeinsamkeit der Verschiedenartigen. „You‘ll Never Walk alone“, „Which Side are you on?“ Hier verweist Brosda auf die Zeilen von Brecht, die immer noch einen kleinen Schauer über den Rücken jagen („Wer im Stich lässt seinesgleichen / Lässt ja nur sich selbst im Stich“), dort leiht er sich eine Formel des Soziologen Heinz Bude: „Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt.“

Gerechtigkeit, Autonomie und Gemeinschaftlichkeit – ja, ich denke, mit dem Dreiklang liegt er goldrichtig.

Brosda umkreist sein Thema, das da lautet: Wie können die Linken ihre verschiedenen Konzeptionen wieder zu einer packenden Erzählung zusammenbauen? Erzählt eine Geschichte! Nein, kein Märchen, aber die Aneinanderreihung von Fakten, das Stakkato von Argumenten und der endlose Einkaufszettel detaillierter Forderungen kann die Story nicht ersetzen.

Brosda kiefelt daran, kaut an seinem Thema herum. Es geht um Zeilen, die etwas zum Klingen bringen, weniger um eine linke Spielart populistischer Komplexitätsreduktion, um ein versimpeltes Märchen, das man den rechten Märchen entgegenstellen könnte. Sozusagen: Storytelling mit dem Florett, nicht mit dem Holzhammer. Schließlich hält Brosda ja zugleich das Habermas’sche Postulat vom zwanglosen Zwang des besseren Argumentes hoch, und damit natürlich die aufgeklärte Vernünftigkeit gegen die vereinfachte Botschaft. Man kann finden, dass sich das da und dort beißt, weil der Grat, der den eingängigen Zweizeiler vom versimpelten Linkspopulismus trennt, vielleicht nur ein kleiner ist. Ein bisschen greift Brosda sich alle Gedanken, die ihm gefallen, auch wenn sie sich widersprechen.

Wir brauchen dich und dich und dich

Aber unbestreitbar ist: Die besseren Zahlen, die überzeugenderen Statistiken und die abgewogensten Argumente werden nicht viel helfen, wenn nicht die bewegendere Gefühle mitgeliefert werden. Der Politik, zitiert Brosda Michael Sandel, „fehle eine Sprache, die Hoffnung vermitteln würde.“

Jede Politik soll sich zum Teufel scheren, die das Leben der Menschen – und unter ihnen, der Bedrängtesten – nicht besser, nicht sorgenfreier macht. Auf die schauen, auf die das Schicksal einschlägt. Aufeinander schauen. Die Gemeinschaftlichkeit hochhalten, weil es wieder Zeit ist für mehr Solidarität. Und das alles, damit wirklich jede und jeder ihr Leben so führen kann, wie er und sie will. Mit der Freiheit, die man sich einfach so nimmt. Respekt und Empathie für jederdings. Wollen wir das schnell erreichen / brauchen wir noch dich und dich.

Das wären doch mal ein paar Striche einer solchen Geschichte.

Ein leicht bedienbares Manuel für’s ersehnte Narrativ liefert Brosda vielleicht weniger als einen Werkzeugkasten. Randvoll ist der mit Songzeilen, Lyrics, Storys. Irgendwo streut Brosda Tocotronic ein: „Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung / Transformation aus jedem Klang / Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung / Auf einen Neuanfang.“

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