SPÖ: Eine brandgefährliche Situation
Österreichs Sozialdemokraten torkeln in einen Wettbewerb um die Parteiführung, und niemand hat einen Plan.
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Die SPÖ schlingert chaotisch immer mehr in die Krise, niemand scheint mehr irgendeine Art von Restkontrolle zu besitzen, im Cockpit sitzt niemand am Steuer. Für meine deutschen Leser*innen: Sie haben das vielleicht wahrgenommen. Die Sozialdemokratie ist nach einer Reihe von Wahlniederlagen und dauerndem Führungsgeplänkel endgültig in eine Führungskrise geraten, die bisherige Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner und ihr ewiger Rivale, der burgenländische Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil, sollen jetzt die Konkurrenz via einer Mitgliederbefragung entscheiden. Wenn sie an den absoluten Basics interessiert sind, sie können sie hier nachlesen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Aber sehen wir uns die Chronologie der Ereignisse an – und die erschütternde Kopflosigkeit der Akteure.
Zunächst: Es hatte sich abgezeichnet, dass die Führungskrise in diesem Frühjahr, wahrscheinlich schon nach den Kärntner Landtagswahlen und vor den Salzburger Wahlen eskalieren würde. Man hätte sich irgendwie darauf vorbereiten können, die Möglichkeit integrierender Konsenskandidaten ausloten können. Aber nichts davon ist geschehen. Niemand hatte einen Plan, oder gar einen Plan B. Obwohl jeder wusste, dass man ihn höchstwahrscheinlich benötigen würde.
Nächstes Kapitel: Unmittelbar nach der Kärntner Landtagswahl ist die amtierende Vorsitzende, Pamela Rendi-Wagner, in die Offensive gegangen, hat nicht den Fortgang ihrer Demontage abgewartet, sondern ihrerseits frontal ihren burgenländischen Gegenspieler angegriffen. Botschaft: Die Partei steht schlecht da, weil ihre Führungsrolle untergraben wurde. Die Landtagswahlen seien auch deshalb verloren gegangen, weil Doskozil quer schoss. Ja: Im Grunde habe er die Niederlagen absichtlich herbeigeführt, damit die Parteichefin danach ablösereif ist. So falsch lag sie mit all dem nicht. Ihr Plan war offenkundig: Einen schnellen Parteitag erzwingen, dort eine Abstimmung durch die Delegierten zu gewinnen – und den Führungsstreit zu ihren Gunsten entscheiden.
Einschub: Was die verschiedenen sonstigen gewichtigen Player in der Partei eigentlich dachten oder vorhatten, kann man nur erahnen. Wahrscheinlich meinten sie, man könne bei so einem vorgezogenen Parteitag die Parteivorsitzende schon zum Sieg tragen, möglicherweise dachten sie auch, dass Doskozil sowieso nicht den Mumm haben würde, anzutreten.
Dann der nächste Move: Hans Peter Doskozil gab bekannt, antreten zu wollen, aber nicht auf einem Parteitag, bei dem nur Funktionäre wählen können, sondern bei einer Mitgliederbefragung, bei der alle Sozialdemokraten quasi in einer Urwahl entscheiden. Dass das im Statut gar nicht vorgesehen ist, hat er wohl nicht bedacht, aber das Problem lässt sich lösen. In der Form: Es gibt eine unverbindliche Mitgliederbefragung, die aber alle als verbindlich behandeln.
Was Rendi-Wagner und die verschiedenen anderen Machtzentren der Partei offenbar nicht einmal in Planspielen bedacht hatten: Wenn das Instrument der „Urwahl“ einmal in der Diskussion ist, kann man sie nicht mehr verhindern und sagen, „nö, wir machen Delegiertenentscheid beim Parteitag“. Dann würde man sich ja sofort diskreditieren, und eine „demokratischere“ Entscheidungsform zugunsten einer „weniger demokratischen“ ablehnen. Wir leben im Jahr 2023. So etwas hält niemand mehr durch. So stolperte man in eine Parteipräsidium-Sitzung, die gar nicht mehr anders konnte, als genau dieses Prozedere zu wählen.
Jetzt wird es aber erst so richtig lustig: Bis dahin hat Doskozil die Parteivorsitzende Rendi-Wagner und die Mehrheit der Landesparteivorsitzenden und anderen wichtigen Player getrieben, ab jetzt haben sie aber ein gemeinsames Interesse. Nämlich, die Wahl auf sich selbst, also auf eine Konkurrenz zweier Kandidaten zu beschränken. Denn: Die Parteimitglieder sind auf beide einfach nur mehr satt. Auf Doskozil, weil er erstens rechter ist, als die breite Mitgliederbasis der Partei, vor allem aber, weil er teamunfähig und egozentrisch stets seinen eigenen Nutzen über den der Partei gestellt hat und weil er dabei auch brutal und unfair gegenüber der Parteivorsitzenden vorgegangen ist, die noch dazu eine Frau ist. Die allgemeine Meinung ist, selbst unter Leuten, die Doskozil inhaltlich nahe stehen: So geht man mit einer Genossin nicht um. Die Parteivorsitzende wiederum hat in den vergangenen Jahren eine Unzahl an Fehlern selbst gemacht, kommt bei den Leuten nicht wirklich an (natürlich auch, weil sie sich angesichts der Quertreibereien nie freispielen konnte, damit an Lockerheit verlor, sich in einem Bunker mit Getreuen abkapselte etc… also, die Fehler, die sie „selbst“ machte, waren ihr natürlich auch bis zu einem gewissen Grad aufgezwungen). Sie hat sich ein inferiores Team aufgebaut usw. Die allermeisten haben bei ihr wiederum das Empfinden: Mit ihr geht es nicht mehr. Das führt zu der Konstellation, dass die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder, die man jetzt über die Führung befragen wird, der Meinung sind: Wir wollen keinen von den beiden.
Ab dieser Woche soll das Parteipräsidium die genauen Umstände und das Prozedere der Abstimmung festlegen. Am liebsten wäre also manchen gewesen, man macht zwar bisschen Demokratie, aber nur mit den beiden Kandidaten, denn alle wissen: Wenn ein oder zwei gewichtigere Alternativkandidaten antreten, dann werden sowohl Doskozil als auch Rendi-Wagner verlieren. Andererseits dämmert jetzt langsam allen: Wenn man eine Mitgliederbefragung mit allem demokratischen Pomp macht, kann man nicht dekretieren, dass es nur zwei Kandidaten geben kann. Ein Alternativkandidat hat sich schon gemeldet, Niki Kowall nämlich. Jetzt herrscht Panik. Die meisten wissen, dass sie das Kandidatenfeld zumindest formal öffnen müssen, und denken jetzt über restriktive Hürden nach, um Alternativkandidaturen wenigstens noch zu erschweren.
An jeder dieser Etappen hat kaum jemand über den Tag hinaus gedacht. Und so ist es bis heute. Alle Parteivorsitzenden, vom Wiener Bürgermeister bis zu Landesvorsitzenden schwacher Länderorganisationen, wissen, dass es in ihren jeweiligen Mitgliedschaften unterschiedliche Meinungen gibt. Die einen ziehen Rendi-Wagner vor, die anderen Doskozil, die anderen wollen gar niemand von denen, viele wünschen eine Rückkehr von Christian Kern, andere wieder eine ganz frische Alternative. So wagt keiner das Ruder in die Hand zu nehmen. Keiner wagt, einen dritten Kandidaten vorzuschlagen, nach einer Konsenslösung zu suchen. Alle haben Angst, dann einen Teil ihrer eigenen Mitglieder zu verprellen, sich den Streit und den Hader auch noch in die eigene Organisation zu holen. So sind alle gelähmt, das Schiff ist führungslos.
Jeder hofft, dass die Sache schon irgendwie mirakulös gut ausgehen werde. Das ist ja auch durchaus möglich, wenngleich nicht sehr wahrscheinlich. Und es gibt nicht nur die „Best Case“-Szenarios, sondern auch die „Worst-Case“-Szenarios. Man stelle sich vor: Es gibt nur die beiden bisherigen Kontrahenten, vielleicht ein, zwei andere dazu, die aber keine realistische Chance haben, andere werden durch hohe Hürden abgeschreckt und Leute wie Kern, Wolfgang Katzian (ÖGB-Chef), Erich Fenninger (Volkshilfe-Geschäftsführer) und andere winken ab. Die Mitglieder sind dann im wesentlichen dazu aufgerufen, zwischen Kandidaten zu entscheiden, die sie eigentlich nicht wollen. Der Wahlkampf kommt nicht so richtig in Gang. Am Ende nehmen nur sehr wenige an der Entscheidung teil. Beispiel: Von den 130.000 Parteimitgliedern stimmen nur 20.000 ab, die anderen sind so verärgert, dass die Wahlenthaltung ihre eigentliche Meinungsäußerung ist. Und dann gewinnt halt ein Kandidat mit 10.000 Stimmen, der nächste hat 9.000 Stimmen. Dann ist das Desaster perfekt. Die Führungsfrage ist natürlich nicht entschieden, die „Lager“ in der Partei haben die vorhandenen Ressentiments noch verstärkt, die Partei ist innerlich zerrissen, der Sieger / die Siegerin hat auch nicht die Stärke gewonnen, die es erlauben würde, integrierend auf die andere Seite zuzugehen. Alle sind noch mehr frustriert als vorher. Und dann ist noch ein Nationalratswahlkampf im kommenden Jahr. Das wird sicherlich ein Spaß, denn dass die politischen Gegner dann mit Genuss darauf hinweisen werden, dass der/die Spitzenkandidat/in nicht einmal von 10 Prozent ihrer eigenen Parteimitglieder gewünscht wurde, darf fix vorausgesetzt werden. Man geht dann quasi schon als halber Verlierer ins Rennen.
Es sollte also zb jedem jetzt schon klar sein: Man braucht nicht nur eine Entscheidung, sondern ein Verfahren, welches die Wahlbeteiligung so hoch wie möglich treibt. Das geht aber nur mit einem lebendigen Wahlkampf und mehreren, wirklich guten Kandidaten. Oder jedenfalls: Wenn man das verabsäumt, herzustellen, dann ist die Gefahr riesengroß, dass die Wahlbeteiligung peinlich niedrig sein wird. Man hat sich in eine Situation größter Gefahr manövriert und niemand nimmt eine Führungsrolle wahr, um diese zu entschärfen. Man hat ein Verfahren von zeitgemäßer Demokratie gewählt – Mitgliederentscheid –, hat aber zugleich auch Angst vor der eigenen Courage. Man diskutiert hohe Antrittshürden, will Neu-Mitglieder von der Teilnahme ausschließen. Dabei ist klar: Wenn man so ein Verfahren wählt, muss man es richtig und entschlossen machen. Mit mehreren, packenden Kandidaten, Debatten wie in Primaries, die Aufmerksamkeit gleich für Mitgliederwerbung nützen (wer sich registriert und 10 Euro bezahlt, darf mitstimmen…) usw.
Selbst dann ist nicht gesagt, dass das gut ausgeht. Niemand soll naiv sein. Die Mitgliedschaft kann linker als die Wählerbasis sein, oder auch rechter, oder auch älter und damit konformistisch, man bekommt vielleicht einen Vorsitzenden, der die Seele der Partei streichelt, aber nicht über diese hinaus wirken kann… Die Dynamik einer Mitgliederbefragung kann auch so sein, dass Kandidaten gewinnen, die in regulären Wahlkämpfen dann keine Chance haben. Ist alles möglich.
Wir sollen auch nicht vergessen: Die SPÖ hat nicht alle Zeit der Welt. Österreich ist in einer schweren politischen Krise. Die rechtsextreme FPÖ liegt in den Umfragen voran, die selbst krisengeschüttelte ÖVP setzt weiter auf einen Rechtskurs vom Schlage Viktor Orbans – und in einem Jahr stehen Nationalratswahlen an, bei denen es lebenswichtig für die Demokratie ist, dass die SPÖ wenigstens relativ stärkste Partei wird. Es geht um verdammt viel. Es geht um Errungenschaften an Liberalität und Demokratie, die die Urväter, von Victor Adler beginnend, erkämpft haben. Und währenddessen torkelt die SPÖ planlos in einen Mitgliederentscheid, der auf verschiedenste Weise desaströs enden kann. Und niemand scheint mit Verantwortungssinn eine Führungsrolle wahrnehmen zu können oder zu wollen.
Es ist ein wenig beängstigend.