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Die Königin des Undergrounds

Kiki de Montparnasse, Man Ray und die Urgründe moderner Seh- und Wahrnehmungsformen.

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Bevor ich Ihnen heute eine sehr bemerkenswerte Künstlerin und einen Künstler vorstelle, ein kleiner Hinweis. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich meine Videoshow "FS Misik", die einige Jahre pausierte, neuerdings wieder auf dem Portal "Zackzack" wieder aufgenommen. Hier, für den Fall, dass es Sie interessiert, der Link zur jüngsten Ausgabe mit dem Titel "Das Ende des Kapitalismus?"

https://www.youtube.com/watch?v=SlQonul_k2M (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt – und wie ein eminenter Geist der Erneuerung, von Verwandlungszeiträumen? Diese Frage gehe ich ja unter anderem in meinem Buch „Das große Beginnergefühl – Moderne, Zeitgeist, Revolution“ nach. In den Künsten entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen sich durchsetzen, etwa in der Poesie, im Roman, in sonstigen erzählerischen Formen, beginnend mit dem realistischen Roman, oder etwa mit der Formensprache einer Dichtung, in der der Text gleichsam zum Text spricht, musikalisch, rhythmisch, mit Klangzauber. In den bildenden Künsten geht es von der naturalistischen Darstellung über zur bildnerischen Gestaltung dessen, was der Künstler und die Künstlerin sieht, nicht die Wirklichkeit wird dargestellt, sondern bereits die Wahrnehmungsweise des Künstlers. 

Impressionistisches „Flimmern“, das auch schon die neuen Empfindungen einer beschleunigten Welt, den Schock der Plötzlichkeit, den Blitz des schnellen Eindrucks wiedergibt. Weiter geht es auf dem Weg in die Abstraktion, über den Kubismus in die völlige Gegenstandslosigkeit. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades von Marcel Duchamp und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ sein kann. Die Kunst wird geistiger, lebt von der Idee, ein Kunstwerk wird nicht geschaffen, man denkt sich quasi eines aus. Das Pathos der geraden Linien und geometrischen Formen wandert von der bildenden Kunst im engeren Sinne in die Architektur, mit Bauhaus, International Style, klassischer Moderne und durchdringen somit auch den Alltag. Feedbackschleifen verbinden die Kunstrevolutionen mit Erneuerungen der Geisteswelt, etwa der Psychoanalyse oder dem Stil der Introspektion des Subjektes, das nicht nur nach Draußen schaut, sondern mit viel Aufmerksamkeit nach Innen hört. Geistige Strömungen, politischer revolutionärer oder reformerischer Elan und künstlerischer Stilwandel wirken aufeinander ein, etablieren einen „Zeitgeist“, der ja die Eigenschaft hat, ohne einzelnen Autor zu sein, durch die Impulse, die aufeinander von vielen Seiten einwirken, geschaffen zu werden. Nicht aus dem Nichts, aber doch auch nicht zielgerichtet, entsteht er, „einfach so“, ist man geneigt zu sagen, aber das ist zugleich auch falsch. Hinzu kommen technologischer und gesellschaftlicher Wandel, der Beitrag der Maschine oder der Eisenbahn zu neuen Wahrnehmungsweisen darf ebenso wenig unterschlagen werden wie die Massenkultur des urbanen Lebens in anschwellenden Metropolen, in denen wir nicht mehr nur unseren bekannten Nachbarn begegnen, sondern Passanten, die flüchtige Eindrücke hinterlassen, und in denen viele unterschiedliche Milieus und Kulturen nebeneinander her leben und aufeinander einwirken. An manchen Orten bilden sich verdichtete Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen, im Wien des Fin de Siecle, in den zwanziger Jahren in Berlin, über lange Jahre in der Hauptstadt der Moderne, in Paris. 

Sehweisen und Wahrnehmungsweisen

Die Wahrnehmungsweisen können aus den Konformismen befreit werden, genauso wie sie in Konventionen gefangen sein können. Die Schreibweisen des Journalismus operieren mit konventioneller Sprache, interpretieren alle Geschehen mit vorgefassten Textbruchstücken, rauben, wie Karl Kraus anmerkte, den Lesern „eigene Wahrnehmung und schwächten das Vorstellungsvermögen“. Jüngst bemerkte etwa Siri Hufstedt, die Wahrnehmung sei „ihrem Wesen nach konservativ und voreingenommen, eine Art von Rollenfestlegung… Meistens, wenn nicht gerade Gorillas an unser Küchenfenster trommeln, sehen wir, was wir zu sehen erwarten“. Neue, exzentrische Sehweisen zu entwickeln, multiple Sehweisen, neue Wahrnehmungsformen jenseits des Gewohnten, ist keine leichte Aufgabe und manche Künstler grübeln, pinseln und formen jahrelang (man denke nur an Alberto Giacometti, der Jahrzehnte brauchte, bis er den charakteristischen Stil entwickelte, den man heute mit seiner „Handschrift“ verbindet). Susan Sontag, die große Spürnase der neuen Schreib- und Sehweisen, ging in ihren Tagebüchern hart mit sich selbst ins Gericht: „Mein Verstand ist nicht scharf genug … meine Wahrnehmungsweisen sind letztlich zu konventionell.“ 

Kiki…

Mark Baude hat eben mit „Kiki Man Ray: Art, Love and Rivalry in 1920 Paris“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es schaffte, in die Kreise rund um das Café Rotonde hineinzukommen, und als „Kiki de Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Underground gekürt. Montparnasse, das Künstlerviertel, war damals mehr ein räudiges Dorf an der Peripherie. Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschichts-Geschöpf in den Künstlerkreisen, die in erheblichen Maße aus den Bildungsschichten entsprangen. Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen fünf Cousins und Cousinen aufgezogen wurde. 

Die markante Schönheit Kiki war Muse der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man Ray hat mit ihr seinen Stil erprobt – aber sie war mehr als nur ein Modell. Beziehungsweise: Das „Modell“ wandelte seinen Charakter, von der passiven Figur, die Modell stand, zur aktiven Figur, die selbst der Kunst ihre Handschrift aufdrückte. Früher mögen Modelle die Herzen der Männer gebrochen haben, doch jetzt brachen sie auch aktiv die Kunsttraditionen. In den Cafés sang Kiki eigene Lieder und eigene Texte, sie war eine Künstlerin des Flüchtigen, wurde sogar zum Vorbild einer Edith Piaf, sie malte und schrieb eine Autobiografie, deren englische Ausgabe mit einem Vorwort von Ernest Hemingway, eines ihrer vielen Bekannten, veröffentlicht wurde. Arno Breker, der Bildhauer, der später zu Hitlers führenden plastischen Künstler werden sollte, bewunderte sie und nennte sie „zweifelsohne die glamouröseste (Frau in Paris), ein wahres Phänomen“. Um sich bei Laune zu halten und ihre dunklen Stimmungen zu bekämpfen, trank sie viel. Kokain half auch. Andre Breton, der Papst der Surrealisten, Duchamp, Paul Éluard, Djuna Barnes, Georges Braque, der Maler Léger, die ganze Bubble möblierte ihr Leben. „Kiki war der Star einer Reality-Show in einer surrealistischen Zeit“, schreibt Braude. Sie hat Spuren hinterlassen, aber in die Kunstgeschichte ging sie nicht ein, auch, weil die Geschichtsschreibung sich immer noch auf die genialen Männer konzentrierte, aber auch, weil ihre Kunst eine Flüchtige war. Einen Tanz, eine Pose, einen Gesang, der in Kneipen vorgetragen wird, kann man nicht verkaufen. Man kann aber eine Fotografie verkaufen, die eine Pose einfängt. 

Sie hatte einen scharfen und auch durchaus kritischen Blick auf die „Genies“ und aufgeblasenen Wichtigtuer um sie herum. Breton, Tzara, Picabia und die anderen Dada-Revoluzzer porträtierte Kiki als dumme Kinder aus guten Familien, die ein gefährliches Spiel spielten, bestens ausgestattet mit dem Geld ihrer Familien. „Leute, die die Bourgeoisie attackierten, aber exakt das selbe Leben lebten wie die Leute, von denen sie vorgaben, dass sie sie am liebsten am Scheiterhaufen verbrennen wollten… Sie waren zu zynisch für mich. Ich habe sie nie richtig verstanden.“ Über Man Ray schrieb sie, sie habe früh gewusst, dass er ein großer Künstler würde. „Er machte seine besten Fotos mit mir, er verstand meinen Körper, meinen Typ. Am Ende war ich es, das Modell, ich war es, die ihm seinen Genius gab.“ Und: „Wir waren frei, zu entscheiden, wen wir wollten. Wir waren befreite Frauen. Wir haben ein Konzept erfunden, und mehr noch, wir taten es, ohne es zu wissen.“ In einem zeitgenössischen Zeitungsbericht ist über die Untergrund-Königin zu lesen: „Ihr Name wird nicht in die Kunstgeschichte eingehen, aber sie half einer ganzen jungen Generation zu träumen, indem sie sie unterhielt.“ Sie war damals noch keine dreißig Jahre alt. Bald geht sie in das über, was sie die „Dämmerung ihres Lebens“ nennt. Verarmt, kaputt, von Alkohol und Drogen ruiniert stirbt Kiki mit 52 Jahren. 

…und Man Ray

Alfred Stieglitz, der legendäre amerikanische Galerist und Mäzen, modellierte für Man Ray „wie ein Künstler sich in der Welt bewegen sollte“, schreibt Mark Baude. „Er predigte, dass ein moderne Künstler nicht weniger als eine Revolution beabsichtigen sollte, dass er die Art und Weise verändern müsse, wie Menschen sehen und denken“. 1890 in Philadelphia als Sohn jüdischer Einwanderer geboren – mit bürgerlichen Namen Emmanuel Rudnitzky – wurde er von allen nur Manny gerufen. Vor- und Nachnamen versimpelte er bald zum Künstlerpseudonym Man Ray. Als Student geriet er in die Künstlerkreise von New York, wo er bald auch Marcel Duchamp kennen lernen sollte, der mit seinem spät-kubistischen Gemälde „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ bei der Modernistenschau 1913 einen regelrechten Skandal auslöste, so sehr irritierte das Bild gewohnte Sehweisen. Duchamp hatte zunächst, weit entfernt, von seiner Berühmtheit nichts mitbekommen. Kurzzeitig geben sie gemeinsam die Zeitung „Dada New York“ heraus. Gemeinsam schifften sie sich später zurück nach Paris. Hier sollte Man Ray die Fotografie revolutionieren und zu einer Zentralfigur in den Kreisen von Dada und Surrealismus werden. Hier lernte er auch Kiki kennen. 

Eine ganze Generation wagte den Aufbruch, eine Generation, die in den Jahren des Ersten Weltkriegs nur Krieg und Tod kennen gelernt hatte, und umso versessener war auf die Fiebrigkeit des Lebens. Man experimentierte mit neuen Technologien, Man Ray fotografierte ohne Kamera, indem er mit seinen „Rayografien“ in der Dunkelkammer Fotopapier belichtete und faszinierende Effekte schuf, in Form von „kameraloser Fotografie“. Später wurde er zum beliebtesten Porträtisten der Künstlerszene. Von seiner Porträtfotografie, die in den neuen Magazinen gedruckt wurde, konnte er mit der Zeit auch leidlich leben. Er war so vielseitig, dass er weniger eine eindeutige Handschrift entwickelte, doch zeigte er schon früh Tendenzen, die später essentiell für die Künstlerexistenz werden sollten, nämlich „seinen Namen als Marke zu etablieren“ (Lisa Ortner-Kreil). Der kleine, schelmische Man Ray war auch eine gewinnende Figur. Er überschritt die Genres, überschritt die Medien, schuf „malerische Fotografien, fotografische Malereien, kinetische Plastiken“ (Veronika Rudofer). Er machte kurze Filme, die einen nachhaltigen Einfluss auf den Avantgardefilm haben sollten. Verfremdete Objekte, die Techniken kombinierten, aber verbunden sind durch die Eigenart, das Verblüffende, Fremde oder Imaginäre des Wirklichen zu offenbaren (Katharine Steidl), somit die Urgründe der Surrealität zu umkreisen. Man Ray umspannte Generationen, porträtierte in den zwanziger Jahren Picasso und wird in späten Jahren Entwürfe für Plattencover der Rolling Stones liefern, namentlich für ihr Album Exile on Main Street. In einer Filmdokumentation sagte er einmal: „Schaut, man sagt, ich wäre meiner Zeit stets voraus. Aber ich sage nein, ich bin meiner Zeit nie voraus. Die andern, sie sind der Zeit hintennach.“

Verwendete Literatur: 

Mark Baude: Kiki Man Ray. Art Love and Rivalry in 1920 Paris. Norton, New York, 2022.

Ingried Brugger/Lisa Ortner-Kreil: Man Ray. Kunstforum Wien. Kehrer Verlag, 2018

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