Über Wahrnehmungsverzerrung beim „Spiegel“, die Funke-Mediengruppe und einen ehemaligen Kinderstar
Der Übermedien-Newsletter von Lisa Kräher
Liebe Übonnentin, lieber Übonnent,
Medienschaffende sind ja sehr gut darin, kleine Beobachtungen über Politiker einzufangen und ihnen eine große Bedeutung zu geben. Ganz so, als könne man aus einzelnen Verhaltensweisen der Politiker oder dem, wie sie etwas gesagt haben, ableiten, wofür sie stehen.
Armin Laschets Lacher während der Flutkatastrophe 2021, zum Beispiel, galt für viele als Beweis dafür, dass der CDU-Politiker keine Kanzler-Qualitäten habe. Oder die herzlichen Bussi-Bussi-Begrüßungen zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron: sie wurden in Medien gerne als Symbol für gute Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich gedeutet.
Marc Pitzke, US-Korrespondent des „Spiegel“, meinte kürzlich in einem Auftritt von Kamala Harris den Beleg für das Problem gefunden zu haben, dass die US-Vizepräsidentin nicht auf Anhieb erklären könne, „wofür sie steht“. Und das ist aktuell, wo Harris als mögliche Ersatzkandidatin für Joe Biden gilt, natürlich gar nicht gut. Die Stimmen derer, die sich Biden lieber im Retirement wünschen als im nächsten Präsidentschaftswahlkampf, sind ja nicht mehr zu überhören. Ist Harris da ein gutes Back-up? Aus Sicht von Pitzke offenbar nicht.
Die „vielsagende Szene“, so schreibt der Autor, spielte sich vor ein paar Tagen in New Orleans ab. Harris war Gast des „Essence Festivals“, einer Veranstaltung für afroamerikanische Kultur. Dort sprach sie auf dem Podium mit der Festival-Chefin und Unternehmerin Caroline Wanga unter anderem über die Familie, in der Harris groß geworden ist, und über die anstehenden Wahlen.
Marc Pitzke beschrieb Harris’ Auftritt im Einstieg seines Texts, der am Mittwoch beim „Spiegel“ erschienen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ist, jedenfalls so:
„Schon die erste Frage trifft den Kern des Problems. ‚Wer ist Kamala Harris?‘, ruft die Moderatorin. Harris ist gerade zu den Klängen des Beyoncé-Hits ‚Freedom‘ auf die Bühne getreten und in einen weißen Ledersessel gesunken, sie stutzt, als verstehe sie nicht. Dann murmelt sie: ‚Die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten.‘
Schnell merkt Harris: Dieser lahme Witz reicht nicht. ‚Und... und..und ich bin eine Ehefrau‘, fügt sie hinzu. ‚Ich bin eine Tante. Ich bin eine beste Freundin. Ich bin eine gute Köchin!’ Doch erst nach einem Diskurs über ihre jüngsten, kreolischen Lebensmitteleinkäufe (Tasso. Schinken, Andouille-Wurst) findet sie die erwünschte Antwort: ‚Und, ähm... und ich... ich bin eine Kämpferin für die Leute.‘ Sie sagt das leise, unsicher, fast rechtfertigend. Artiger Applaus, nächste Frage.“
Ich weiß nicht, ob Marc Pitzke dasselbe Video wie ich gesehen hat bzw. ob er bei einer anderen Veranstaltung war. Aber wenn er den Auftritt von Kamala Harris meint, von dem es auch ein Video bei YouTube (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gibt, das der „Spiegel“ in seinem Text verlinkt hat, dann ist das, was er schreibt auch mit der allergrößten Interpretationstoleranz einfach: falsch.
Kamala Harris stutzt in diesem Video nicht, sie murmelt nicht, sie wirkt auch nicht unsicher oder leise oder rechtfertigend. Man muss das nicht witzig finden, dass Kamala Harris, auf die Frage, wer sie eigentlich ist, sagt: „Die Vize-Präsidentin der Vereinigten Staaten“. Denn es ist eigentlich gar kein Witz. Es ist, wenn man Caroline Wangas Anmoderation vorher gesehen hat, eher ein selbstbewusstes Unterstreichen der Tatsache: sie, Kamala Harris, eine Schwarze Frau, ist die Vize-Präsidentin der USA. Die erste Schwarze Frau in diesem Amt.
(Gut, das mag jetzt meine Interpretation sein, denken Sie sich vielleicht. Aber das Format „Chief to Chief“, in dem das Gespräch stattfindet, sei eines, das sich „mit Schwarzen Frauen auseinandersetzt, die in der Gemeinschaft, in Unternehmen und an vielen anderen Stellen eine wichtige Rolle spielen“. Das sagt Wanga, bevor Harris auf die Bühne kommt. )
Man kann von Harris’ politischen Fähigkeiten oder Werten halten, was man will. Und wenn der „Spiegel“-Korrespondent den Eindruck hat, dass die Biden-Vize Schwächen hat, kann er das natürlich so schreiben und kritisieren. Er sollte dafür nur bessere Belege finden als einen Auftritt, der objektiv nicht so stattgefunden hat, wie er ihn beschreibt.
Es stellt sich auch die Frage: Hat denn niemand in der „Spiegel“-Redaktion mal kurz in das Video zur Veranstaltung geschaut, die Pitzke da in zwei Absätzen am Anfang seines Texts so detailliert beschreibt? Gerade beim „Spiegel“, der gerne betont (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), dass kein anderes Medienhaus in Deutschland „sich eine so gut ausgestattete Mannschaft an Faktencheckern“ leiste, müsste das doch Standard sein. Wenn ein Reporter der einzige Augenzeuge eines Ereignisses gewesen ist, lassen sich seine Schilderungen in der Redaktion natürlich nur schwer bis ins Details überprüfen. Aber hier gibt es ein Video, das der „Spiegel“ im Text sogar als Quelle verlinkt.
Ich habe am Donnerstag beim „Spiegel“ nachgefragt, ob man denn findet, dass sich die Beschreibung des Autors mit dem, was im Video zu sehen ist, deckt, inwiefern solche Beschreibungen gegengeprüft werden, und ob der Text durch die sagenumwobene „Spiegel“-Dokumentation gegangen ist. (Sie wissen schon, diese „gut ausgestattete Mannschaft an Faktencheckern“, die kein anderes Medienhaus in Deutschland so hat.)
Kurz nach der Anfrage änderte der „Spiegel“ den Text und merkte darunter an:
„In einer früheren Version dieses Textes wurde ein Auftritt von Kamala Harris stellenweise nicht akkurat beschrieben. Wir haben die Passagen geändert (11. Juli 2024)“
Die „Spiegel“-Pressestelle wies uns in ihrer Antwort auf die Korrektur hin und schrieb außerdem, dass die Redaktion Beschreibungen von Autoren „stichprobenweise“ prüfe, „aber nicht in jedem Fall“. Der Text sei nicht von der „Spiegel“-Dokumentation geprüft worden; sie prüfe zwar einen Großteil der Texte, aber nicht alle.
In der veränderten Passage „stutzt“ und „murmelt“ Kamala Harris nun nicht mehr, sie „antwortet“ nur noch. Ihr Witz ist nicht mehr „lahm“ und dass sie eine „Kämpferin für die Leute“ sei, sagt sie jetzt nicht mehr, „leise, unsicher, fast rechtfertigend“, sondern sie sagt es einfach.
(Immer noch steht nach der Korrektur da: „Schnell scheint Harris zu merken: Dieser Witz reicht nicht.“ Aber schauen Sie sich die Stelle (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) (ab Min. 10:00) einfach mal an und bewerten Sie die Reaktion des Publikums und der Moderatorin selbst.)
Auch wenn die Beschreibung der Szene jetzt zumindest teilweise korrekter ist, stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist das denn dann überhaupt noch eine „vielsagende Szene“ (diese Formulierung ist geblieben), die die These des Autors stützt, dass Kamala Harris nicht erklären könne, wofür sie stehe? Ich finde nicht. Die Szene erfüllt keinen Zweck mehr und es wäre konsequenter gewesen, die beiden Absätze ganz zu streichen. Aber dann wäre der schöne szenische Einstieg kaputt gewesen, den sie beim „Spiegel“ ja so lieben.
Diese Woche neu bei Übermedien:
(S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Unterzeichner der „Hamburger Erklärung“ (von links nach rechts): Peter Kropsch (dpa) Carsten Brosda (Hamburger Senat), Julia Becker (Funke-Mediengruppe), Kai Gniffke (ARD). (Foto: dpa / Wendt)
Journalistisches Greenwashing (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | #UseTheNews, eine Initiative der dpa, bekennt sich zu ihrer Verantwortung für seriösen Journalismus. Zu den Unterzeichnern gehört ausgerechnet auch Julia Becker von der Funke-Mediengruppe, deren Medien sich im Zweifel nicht der Wahrheit, sondern den Klicks und der Auflage verpflichtet fühlen, schreibt Stefan Niggemeier. (Ü)
Songs in Dauerschleife (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Warum laufen manche Titel gefühlt ständig im Radio, während es andere nie ins Programm schaffen? Wie trifft eine Musikredaktion ihre Entscheidungen? Johanna Bernklau hat für unsere Serie „Wieso ist das so?“ mit Robert Morawa, Musikchef bei Bayern 3, gesprochen. (Ü)
Fake-Anzeigen mit Peter Maffay (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)| Das Unternehmen Google verspricht Transparenz, wer hinter den einzelnen Anzeigen steht, die er ausspielt. Doch die Überprüfung der Werbetreibenden ist immer noch nicht vorgeschrieben. Das macht es Betrügern unnötig leicht, schreibt Stefan Niggemeier. (Ü)
Schreiben Medien die Wahlergebnisse in Frankreich schön? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Bei den Neuwahlen in Frankreich sei ein Rechtsruck verhindert worden, war in deutschen Medien zu lesen – obwohl der rechtsextreme Rassemblement National die meisten Stimmen holte. Holger Klein ruft an bei der SZ-Redakteurin Kathrin Müller-Lancé.
Sommerinterviews mit Weidel und Chrupalla (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Mit Faktenchecks entlarven ARD und ZDF falsche und irreführende Informationen in ihren Sommerinterviews. Dennoch verbreiten die Sender die Gespräche unverändert weiter – muss das sein, fragt Martin Rücker. (Ü)
Kein Aus für den Genderstern (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Die modernen Genderformen mit Satzzeichen im Wort stehen nach wie vor nicht im Amtlichen Regelwerk der deutschen Sprache. Aber der Rechtschreibrat will die Entwicklung weiter beobachten und hat differenzierte Empfehlungen für Schulen. Von Stefan Niggemeier.
Ü = Exklusiv für Übonnent:innen
Am Donnerstag gab es eine traurige Nachricht. Es wurde bekannt, dass der Schauspieler Benji Gregory bereits im Juni gestorben ist. Wenn Ihnen der Name nichts sagt, Sie aber Ende der 80er, Anfang der 90er schon ferngesehen haben, dürften Sie ihn aus der Sitcom „Alf“ kennen. Darin spielte er Brian, den kleinen Sohn von Kate und Willy Tanner.
Woran genau Benji Gregory gestorben ist, ist unklar. Und inwiefern Details dazu überhaupt in die Öffentlichkeit gehören, ist aus meiner Sicht sowieso fraglich. Denn nach seiner großen Rolle als Kind an der Seite von „Alf“ und später ein paar Nebenrollen in anderen Produktionen, zog sich Gregory vor mehr als zwanzig Jahren aus der Schauspielerei zurück – seitdem stand er auch nicht mehr in der Öffentlichkeit.
Viele Medien berichteten am Donnerstag dennoch groß über die Umstände seines Todes, obwohl diese ja, wie gesagt nicht genau geklärt sind. Wobei es das Wort abschreiben besser trifft als berichten. Viele Texte speisten sich zu großen Teilen aus der Exklusiv-Meldung des US-Klatschportals TMZ. „Das ist zur Todesursache bekannt“, teaserte die „Berliner Zeitung“, um dann im Text zu schreiben, dass die Todesursache „noch nicht ganz geklärt“ sei, und was die Schwester des verstobenen vermutet. Die Todesumstände seien „tragisch bis mysteriös“ raunte das ARD-Magazin „Brisant“.
Die Schwester des Verstorbenen habe TMZ auch erzählt, dass Gregory Depressionen, bipolare Störungen sowie Schlafprobleme gehabt habe. Die meisten Medien übernahmen diese Info. Ich kann verstehen, wenn bei Lesern dann die Vermutung entsteht, Gregory hätte sich möglicherweise etwas angetan – auch wenn es konkret so nicht in den Berichten stand. Auch ich selbst hatte diesen Gedankengang beim Lesen sofort. Und in den Redaktionen war das wohl auch so, denn sonst hätten sie bei „T-Online“ oder „Brisant“ ja keine Hilfsangebote verlinkt, bei denen man anrufen kann, wenn man Depressionen hat oder über Suizid nachdenkt. Weil Medien bei diesem Thema ohnehin sehr sensibel und zurückhaltend sein sollten, frage ich mich, warum diese Info zu Gregorys angeblichen Gesundheitszustand überhaupt in den Meldungen stand.
Es gab auch einige wenige deutsche Medien, die den Punkt mit der Depression in ihrer Meldung weggelassen haben, tagesschau.de und das ZDF zum Beispiel. Da hatte offensichtlich jemand in der Redaktion mal kurz über Relevanz und journalistische Verantwortung nachgedacht.
Schönes Wochenende,
Ihre Lisa Kräher