Passer au contenu principal

Über Journalismus als Geröllsammlung, Fensterguckerei und Wagenknecht-Werbung

Der Übermedien-Newsletter von Stefan Niggemeier.

Liebe Übonnentin, lieber Übonnent,

im Landkreis Diepholz soll ein Mann am vergangenen Sonntag ein 17-jähriges Mädchen getötet und Tage später eine 30-jährige Frau mit einem Messer schwer verletzt haben. Die Polizei fahndete nach einem Verdächtigen, und bei „Focus Online“ machte man sich an die Arbeit.

Die Redakteure Malte Arnsperger und Thomas Sabin vermeldeten nicht nur die Daten aus der Fahndung und fügten Informationen einer Lokalzeitung hinzu, wonach der Gesuchte Andreas B. (den sie mit vollem Namen nannten) vor einigen Jahren wegen versuchten sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen, Freiheitsberaubung und Körperverletzung verurteilt worden sei. Sie tauchten bei ihrer Recherche nach den Hintergründen des Gesuchten auch tief ins Internet und die Archive der örtlichen Zeitung hinab, und nichts, was sie dort zu dem Namen des Verdächtigen und seinem Umfeld fanden, erschienen ihnen offenbar zu irrelevant, um es nicht in ihren Artikel über die Fahndung zu kippen.

B. gehöre zu einer Familie, die einen traditionell-landwirtschaftlichen Familienbetrieb führe, notierten sie. Das Gebiet, in dem dieser Betrieb liege, sei eines der größten zusammenhängenden Heidegebiete Niedersachsens, wussten sie. Die Familie verkaufe dort Weihnachtsbäume und halte eine Herde Schafe, berichteten sie. Nebenbei betrieben sie Ackerbau und Schweinemast, staunten sie.

Die „Focus Online“-Redakteure zitierten wörtlich von der Internetseite des Betriebes der Familie, zu der der Gesuchte gehören soll, sie baue „mit großer Begeisterung“ Nordmanntannen und Blaufichten an. Sie erwähnten, dass die Familie B. beim Verkauf der Bäume nach eigenen Angaben Wert auf fachkundige und persönliche Beratung lege und dass ihre Kunden die Möglichkeit hätten, ihren Baum selber zu schlagen, woran besonders die Kinder ihre Freude hätten.

Sie zeigten ein Foto, auf dem Andreas B. zu sehen sei, wie er für seine 25-jährige Mitgliedschaft in der Ortsfeuerwehr geehrt wurde, und erzählten, dass neben ihm sein Vater stehe, der für seine 40-jährige Mitgliedschaft geehrt wurde.

Sie referierten ausführlich, dass der Hof „offenbar“ regelmäßig vor Weihnachten einen Weihnachtsmarkt abgehalten habe, worüber die lokale Zeitung wiederholt berichtet habe. Sie zitierten aus einem Bericht, wonach der Markt größer geworden sei als in der Anfangszeit, das Konzept aber im Grunde unverändert geblieben sei. Sie gaben wörtlich folgende Schlüsselpassage aus einem Artikel wieder: „Neben einer ausgesuchten Auswahl an Holzarbeiten, Dekorationsartikeln, Schmuck und Strickwaren kommen kulinarische Spezialitäten auf dem Markt besonders gut an.“

Schon 2014, protokollierten die „Focus Online“-Redakteure eifrig, habe es in einem Zeitungsbericht geheißen, dass die Familie Blaufichte und Nordmanntannen „rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest“ auf dem Hof in Kirchdorf anbiete, „auch zum Selbstschlagen“. Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest!

Eine von ihnen namentlich genannte Frau, die die Frau des jetzt Tatverdächtigen sei, wird mit dem zitiert, was sie vor Jahren laut Zeitungsbericht gesagt haben soll: dass das mit den Weihnachtsbäumen zunächst ein Hobby gewesen sei, man es aber nie bereut habe, dahinter stehe und richtig Lust dazu habe.

Später änderten die Profi-Rechercheure von „Focus Online“ die Formulierung „die Frau des jetzt Tatverdächtigen“ unauffällig in „offenbar die Mutter des jetzt Tatverdächtigen“, mei, Details.

Nachdem der Gesuchte gefasst wurde, entfernte man bei „Focus Online“ die Fotos des Verdächtigen – außer im Video, das immer noch in den Artikel eingebunden ist. Auch sein Nachname wurde aus dem Artikel entfernt und nur noch abgekürzt – außer in der Überschrift und im Vorspann, wo er immer noch ausgeschrieben zu lesen ist.

Es ist eine Sisyphos-Arbeit, die Seiten von „Focus Online“ jeden Tag mit immer neuen Unmengen an Inhalt vollzuröllen, und irgendeine Art von Innehalten oder Nachdenken oder gar Weglassen ist an diesem endlosen Content-Fließband offenbar nicht vorgesehen. Man kann dort nicht arbeiten, wenn einem nicht eh alles egal ist.

In den angeblich moderierten Leserkommentaren häufen sich derweil nicht nur Wünsche, dass man „bei Flüchtlingen“ doch bitte auch Bilder zeigen und komplette Namen nennen sollte. Sondern auch halb amüsierte, halb empörte Reaktionen wie diese:

„Fehlt da nicht noch der Steuerbescheid aus 2022 für diese Firma/Bauernhof?“

„Ein Unding, hier die ganze Familie der öffentlichen Empörung preiszugeben. (…) Die stellen ja nicht gewerbsmäßig Gewaltverbrecher her.“

„Ist es hier nun eine Werbung für seine Zuverlässigkeit um die Kundenbetreuung mit Bild oder was?“

„Sehr interessant mit den ganzen Weihnachtsbäumen.“

„Hab das Gefühl, hier wird mehr über das Weihnachtsbaumgeschäft geschrieben, als über den Täter.“

Das letzte ist kein Gefühl, sondern Tatsache.

Diese Woche neu auf Übermedien

Guck mal, wer da guckt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Boris Rosenkranz über Stephan Lambys merkwürdigen Film, in dem Politiker aus Fenstern starren. (Ü)

Nun auch in „Zeit“ und „Bild am Sonntag“: Wagenknechts Medienhype-Partei (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Johannes Hillje über Gratiswerbung durch die Dauergründungsshow.

Mehr Fakten und weniger Skandalgetöse würden dem vergifteten Klima gut tun (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Andrej Reisin über die Aufregung um Enthüllungsgeschichten von Bonhoff bis Aiwanger. (Ü)

Müssen Böhmermann und das ZDF dem Ex-BSI-Chef Schmerzensgeld zahlen? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Holger ruft an ... bei Jurist und Journalist Felix W. Zimmermann. (Podcast)

Verkehrsministerium macht falsche „Bild“-Meldung noch falscher (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Stefan Niggemeier über einen erstaunlich falschen Tweet über junge PKW-Halter.

Südkoreanische Aufräum-Routinen der Glückseligkeit (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Mirella Precek über ihre geheime Leidenschaft: Putz- und Aufräumvideos.

(Ü): exklusiv für Übonnenten

Am vergangenen Donnerstag veröffentlichte die ARD positive Nachrichten in eigener Sache (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre): „Die ARD ist für die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ein wichtiger Anbieter für verlässliche Berichterstattung in hoher Qualität.“ Dies sei das Ergebnis der repräsentativen ARD-„Akzeptanzstudie“ 2023. Sie basiert auf einer Umfrage unter Über-14-Jährigen, die der Senderverbund ungefähr alle zwei Jahre in Auftrag gibt. Die aktuelle fand zwischen 2. März und 3. April statt.

Und, tatsächlich, das Vertrauen in die ARD ist immer noch hoch. Man verliert das angesichts der heftigen Diskussionen um die vermeintlichen und tatsächlichen Versäumnisse der ARD manchmal aus den Augen. Auch andere Umfragen bestätigen immer wieder die hohe Wertschätzung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch im Vergleich zu anderen Medienangeboten.

Trotzdem enthalten die wenigen, dürren Zahlen, die die ARD aus der aktuellen Studie veröffentlicht, auch deutliche Warnsignale. An einer Stelle deutet die Pressemitteilung der ARD das selbst an, nur um sofort darüber hinwegzubügeln:

„69% vertrauen den Angeboten der ARD. In der Akzeptanzstudie 2020 betrug der Wert 75%, nach der Corona-Pandemie nahm die Wertschätzung aller Medienanbieter ab. Darum ist dieser Wert trotz Rückgang als stabil zu bezeichnen.“

Ist er? Also, es ist ja hilfreicher Kontext (wenn auch im Zweifel erst recht beunruhigend), dass dieser Vertrauensverlust kein spezifischer ARD-Vertrauensverlust ist. Aber das macht den Wert noch nicht „stabil“. Insbesondere, wenn man sich die Mühe macht, den Wert von 2018 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) rauszusuchen: Damals stimmten noch 79 Prozent der Befragten der Aussage zu, „die Angebote des ARD-Medienverbundes bieten vertrauenswürdige Hinhalte".

Das ist immerhin ein Rückgang um zehn Prozentpunkte in fünf Jahren.

Die ARD hat auch gefragt, ob sie „verlässliche Berichterstattung in hoher Qualität“ liefert. Sie teilt mit, dass dem aktuell 73 Prozent der Befragten zustimme. Was sie nicht mitteilt: Im Herbst 2020 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) waren es noch 81 Prozent.

Damals hatte sie auch abgefragt, ob die Menschen finden, dass die ARD „ihr Geld wert“ sei und „verantwortungsbewusst mit den Rundfunkbeiträgen“ umgehe. Immerhin 69 bzw. 57 Prozent stimmten dem zu. Wäre doch interessant zu wissen, wie die Antworten in diesem Jahr ausfielen. Die ARD scheint aber dazu bislang nichts veröffentlicht zu haben.

Schönes Wochenende!
Stefan Niggemeier

0 commentaire

Vous voulez être le·la premier·ère à écrire un commentaire ?
Devenez membre de Übermedien et lancez la conversation.
Adhérer