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Einschätzung: USA verweisen Israel auf seinen Platz

Netanjahu

Am Montag hat der UN-Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet, in der er eine Waffenruhe für den muslimischen Fastenmonat Ramadan verlangt, ebenso wie die sofortige Freilassung der israelischen Geiseln. (Resolution 2728)
Diese Resolution ist völkerrechtlich bindend.

Möglich wurde das durch eine Enthaltung der USA.
Das wiederum sorgt in Israel für große politische Unruhe.

Dahinter stehen meiner Eisnchätzung nach zwei Konflikte, vielleicht sogar drei Konflikte, die wenig mit den palästinensischen Zivilisten zu tun haben.

Konflikt Israels Innepolitik

Der erste Konflikt ist in den USA.
Präsident Biden und Donald Trump befinden sich im Wahlkampf. Und Biden gerät immer mehr wegen seiner Unterstützung Israels unter Druck.

Der zweite Konflikt ist in Israel.
Die sehr rechte Regierung Netanyahu ist an der Regierung, weil sie eben jene Menschen in der Bevölkerung adressiert.
Mit dabei ist u.a. auch die Schas, eine Partei der ultraorthodoxen Juden, die sich vor allem aus sephardischen Juden (Spanien, Nordafrika, Osmanisches Reich) und Mizrachim („orientalische“ Juden) besteht. Also im scharfen Kontrast zu den zumeist europäischen Juden und israelischen, palästinensischen Arabern steht.
Die Orthodoxen Juden machen nur 13% der Bevölkerung aus, die israelischen, palästinensischen Araber 20%. Israel ist ein sehr vielschichtiges, multikulturelles Land.

Nun steht ein neuer Gesetzesentwurf auf dem Programm, das die Wehrpflicht neu regeln soll. Männer müssen bisher drei Jahre dienen, Frauen können zwei Jahre dienen. Orthodoxe Juden, die einem religiösen Studium nachgehen, werden von der Wehrpflicht ausgenommen.
Im neuen Gesetzentwurf soll es weiterhin eine Bevorzugung der orthodoxen Juden geben. Was die meisten, säkularisierten Israelis - zu denen auch Muslime und Christen gehören - natürlich sauer macht.
Wird diese Bevorzugung jedoch gestrichen, droht die Regierungskoalition zu zerbrechen. Netanjahus Likud hat selber zwar 29%, die derzeitige Regierung wird aber aus fünf Parteien gebildet. Und aus dieser Gemengelage rekrutieren sich auch die völkerrechtswidrigen Siedler.

In deutschen Medien wenig beachtet wurde ein bereits am Freitag verabschiedetes Gesetz, das weitere zehn Quadratkilometer Land im Westjordanland annektiert. Dort sollen neue Wohnungen für Siedler entstehen. Die größte Annektion seit 1993.
Das wurde ausgerechnet dann veröffentlicht, als US-Außenminister Blinken zu Gesprächen mit Netanjahu in Tel Aviv war.

Bereits am Wochenende zwitscherten die Vögelchen, dass die USA sich bei der nächsten Abstimmung zu einer Resolution enthalten werden.
Es ist nur meine persönliche Einschätzung, aber ich halte die zeitliche Nähe für keinen Zufall. Für mich ist die Enthaltung ein deutliches Zeichen der USA „So ja nun nicht. Wir machen nicht jeden Unfug mit.“

Ein militärisches Problem

Ein drittes Problem sehe ich derzeit beim militärischen Vorgehen.
Ich betone aber ausdrücklich, dass ich mir kein abschließendes Urteil erlauben kann. Ich bin kein selbsternannter Experte, ich kann die strategischen und vor allem taktischen Details vor Ort schwer beurteilen. Aber die Meldungen der letzten Zeit hinterlassen mindestens Fragen, eher ein Geschmäckle.

Im Mai 1967 stürmten US-Truppen den strategisch unbedeutenden Hügel 937 in Vietnam. Die vietnamesischen Truppen hatten mehrere Hügel untertunnelt und überall Stellungen und Bunker eingerichtet. Und sie beharkten die US-Truppen mit Mörsern von oben.
Vereinfacht gesagt: Kamen die Amerikaner nach langen, erbitterten Nahkämpfen endlich irgendwo an, war keiner mehr da. Sie zogen sich in ihre Stellungen zurück, die Vietnamesen kehrten zurück, und das Spiel begann von vorne. Erst als die Amis drei Tage ununterbrochen durchkämpften, konnten sie den Hügel einnehmen.
Der Hügel wurde Hamburger Hill genannt, weil er aus Soldaten Hackfleisch machte. Von der schlecht informierten und organisierten Einsatzleitung kam immer nur wieder „Vorrücken!“
Das ist über 50 Jahre her.

In einer aktuellen Reportage wurde ein Zug der israelischen Infanterie begleitet. Sie kehrten aus dem Wochenende zu Hause zurück und mussten dabei einige Häuser, in denen bereits gekämpft worden war, erneut sichern. Anschließend wurde ein Tunneleingang gesprengt.
Der Einsatz an Material kam mir öbzon vor, es wurde auf Verdacht geschossen, so etwas habe ich in der Infanterie noch nie gesehen.

Bei einem solchen Einsatz kam es Ende Januar zu einer Katastrophe, die Meldung war kaum in deutschen Medien präsent. In genau der gleichen Situation wurden Sprengmittel gebracht, um einen bereits aufgeklärten Tunneleingang zu sprengen. Nur wenige hundert Meter hinter der Grenze.
Doch die Hamas war bereits zurückgekehrt. Während der Verlegung der Sprengladung wurde eine RPG, eine „Panzerrakete“, auf den Zug abgefeuert.
21 israelische Soldaten starben, es war der tödlichste Tag für das israelische Militär bisher.

Erst vor wenigen Tagen fanden erneut Gefechte beim und im Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt statt. Das Krankenhaus liegt nicht weit von der Stelle entfernt, an der bei Hilfslieferungen LKW gestürmt und Menschen getötet (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) wurden. Es befindet sich also mitten in dem Gebiet, dass Israel eigentlich schon vor zwei Monaten gesichert haben sollte.
Laut Israel wurden 480 Hamas-Kämpfer verhaftet, dutzende Menschen wurden getötet. (Ärzte und Patienten blieben unverletzt.)
Das bedeutet, Israel hat das Gebiet nicht ausreichend gesichert. Sonst hätten nicht fast 500 Kämpfer dort wieder einsickern können. Die deshalb glaubwürdig sind, weil Israel damit im Grunde Fehler zugibt. Es werden mehr gewesen sein.

Regierungskrise steht vor der Türe

Ich sag es mal salopp: Ich weiß nicht, was Israel da gerade macht. Aber ich erlaube mir skeptisch zu sein.

Man kann nicht wieder und wieder versuchen mit einer Feuerwalze nach vorne zu preschen, und das Gelände nicht sichern. Selbst wenn man die Kapazitäten nicht hat, ist es wichtiger nach hinten zu sichern als nach vorne zu gehen.
Deshalb gibt es auch keine dauerhaften, gesicherten Korridore für humanitäre Hilfe. Inzwischen gewinnen palästinensische Klans immer mehr Macht, die ebenfalls bewaffnet sind.

Und ich könnte mir vorstellen, dass das der Hintergrund für die immer häufigeren Warnungen – auch der USA, Frankreichs, Deutschlands und anderer – vor einem Angriff auf Rafah ist. Denn dort würden viele Zivilisten umkommen, wenn Israel dort mit dieser Feuerwalze reingeht. Mit dem Effekt, dass die eigentlichen Kämpfer verschwinden wie die Kakerlaken, wenn man das Licht anmacht. Und an anderer Stelle wieder auftauchen.

Und wenn ich das so sehe, dann wissen das gut ausgebildete und erfahrene Offiziere erst recht.
Es ist Spekulation, aber ein politisch gewolltes Vorantreiben ist naheliegend. Ebenso wie das Verheizen von Menschen für unwichtige Dörfer durch die russische Führung. Nur durch den enormen israelischen Materialaufwand werden hier nicht die eigenen Truppen verheizt.
Ich beginne mir Fragen zu stellen, wenn die israelische Luftwaffe auch jetzt noch dutzende Ziele in Gaza-Stadt bombardiert.

Ich wollte nur einmal diesen persönlichen Eindruck vermitteln, den ich gerade habe. Bei aller angebrachter Vorsicht. Aber meist liege ich ja ziemlich nah dran.

Demonstration in Tel Aviv am Samstag

Foto: Demonstration in Tel Aviv am Samstag. Das sind keine kleinen Demos von Angehörigen der Geiseln mehr.

Netanjahu hat nach der Enthaltung der USA als erstes die Amtsreise einer Delegation in die USA abgesagt. Ausgerechnet während dieser Reise sollte über das weitere Vorgehen in Gaza gesprochen werden.
Die israelischen Medien bezeichneten das gestern u.a. als „Wahnsinn“. Die israelische Regierung beschwört aus innenpolitischer Sturheit eine Krise herauf. Mit der Hamas, dem Militär, geschweige denn den palästinensischen Zivilisten hat das gerade sehr wenig zu tun.
Ich werde immer sicherer, dass die israelische Regierung diesen Krieg nicht überleben wird.

Eine Chance auf Frieden sehe ich auf Jahre nicht.

Sujet Medien und Politik

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