Studie: Zahl der Toten im Gazastreifen zu niedrig?
Einige Medien berichten über eine gestern veröffentlichte Studie, die zu dem Ergebnis kommt, dass das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium die Zahl der Toten in Gaza zu niedrig angegeben hat.
Die Studie steht auf so schwachen Beinen, dass es schwerfällt, nicht von einer Gefälligkeitsstudie zu sprechen.
Gestern wurde eine Studie im Lancet veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kommt, dass das von der islamistischen Terrororganisation Hamas geführte Gesundheitsministerium die Zahl der Toten im Gazastreifen zu niedrig angegeben hat.
Man muss davon ausgehen, dass diese Studie in Zukunft für die Propaganda genutzt werden wird.
Schaut man sich die Studie genauer an, steht sie mindestens auf sehr schwachen Beinen. Mindestens.
Ich möchte den Veröffentlichenden nichts unterstellen. Aber das Ding ist so wirr, dass man zumindest unterstellen muss, dass logische Bedingungen und Ergebnisoffenheit vernachlässigt wurden.
Versuchen wir es einmal für Laien von hinten aufzurollen, dann wird es verständlich.
Ein Beispiel vorweg
Ein Professor an der medizinischen Fakultät der University of California in San Fransisco veröffentlichte 2018 eine Studie, die nachweisen sollte, dass E-Zigaretten Herzinfarkt verursachen.
Dazu nahm er die Zahlen eines Surveys zum Thema Tabak, der jährlich in den USA durchgeführt wird. Und an den Zahlen erkannte er, dass die Zahl der Herzinfarkte bei denen, die E-Zigaretten nutzten, doppelt so häufig war, wie im Bevölkerungsdurchschnitt.
Die Nummer wurde weltweit durch die Medien getrieben. Vermutlich, weil sie Medienagenturen „zugespielt“ wurde.
Es ergaben sich einige Probleme.
Beispielsweise, dass der Professor selber in dem Gremium der Journals saß, das darüber entscheidet, welche Studien veröffentlicht werden. Beispielsweise, dass der Professor überall als „Mediziner“ beschrieben wurde, obwohl er Ingenieur ist und niemals jemanden untersucht hat. Beispielsweise, dass fast ausschließlich alle, die eine E-Zigarette regelmäßig nutzen, vorher geraucht haben. Vor allem aber, dass die Erhebung nicht von Ärzten beantwortet wurde, sondern von den Nutzern selber.
Hat ihnen jemand gesagt, dass sie vielleicht einen Herzinfarkt hatten, beispielsweise eine Krankenschwester, trugen sie das natürlich ein.
Nachdem andere Wissenschaftler die Studie geprüft haben, kamen sie zu dem Schluss, dass sogar Herzinfarkte einberechnet wurden, die passierten, bevor es überhaupt E-Zigaretten gab.
Die Studie musste von dem Journal zurückgezogen werden, eigentlich eine schallende Ohrfeige für jeden Wissenschaftler.
Doch darüber berichtete kein Medium mehr. Der Zirkus war längst weitergezogen.
Der Professor war seit Jahrzehnten für seien Zusammenarbeit mit dem Pharmariesen Johnson & Johnson bekannt, der auch das Institut, an dem er seine Professur hatte, mit Millionen bezahlt hat.
Solche Dinge kommen in der Wissenschaft ständig vor. Der Laie bekommt davon nichts mit. Und glaubt natürlich, wenn Wissenschaftler etwas „herausfinden“, dann sei das auch so. Und sie verlassen sich darauf, dass Nachrichtenmedien solche Studien prüfen. Doch das passiert grundsätzlich nicht. Nie.
Viele Forschende oder ihre Institute und Organisationen verfassen dazu sogar selber Pressemitteilungen, oder veröffentlichen Beiträge dazu auf entsprechenden Plattformen, die dann an die Agenturen weitergereicht werden. Die schreiben dann nur noch ab.
Die Studie und die Wissenschaftlerinnen
Die im Lancet veröffentlichte Studie trägt den Titel „Traumatic injury mortality in the Gaza Strip from Oct 7, 2023, to June 30, 2024: a capture–recapture analysis“. Auf Deutsch etwa: „Sterblichkeit durch Trauma-Verletzungen im Gazastreifen vom 7. Oktober 2023 bis 30. Juni 2024: eine Capture-Recapture-Analyse“. (DOI: 10.1016/S0140-6736(24)02678-3 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
In den Medien wird häufig wiedergegeben, die Veröffentlichenden kämen von verschiedenen Universitäten. Das ist falsch, beziehungsweise das gilt für jeden Wissenschaftler. Sie haben lediglich auch Verbindungen zu anderen Unis; in Yale, Cambridge und Nagasaki.
Tatsächlich verantwortlich ist die Fakultät für Epidemiologie und öffentliche Gesundheit der London School of Hygiene & Tropical Medicine.
Der Professor für Epidemiologie Francesco Checchi und die Professorin für Reproduktionsepidemiologie Oona Campbell.
Die drei weiteren Wissenschaftlerinnen haben eine gewisse Nähe zum Nahen Osten und zueinander. Sarah Aly hat im Kopf ihres X-Accounts den Hashtag „FreePalestine“ stehen und postet sehr viel zum Gazakrieg. Ähnliches gilt für Zeina Jamaluddine, die ihren Abschluss an der Amerikanischen Universität in Beirut gemacht hat. Hanan Abukmail hat ihren Doktor an der Islamischen Universität in Gaza gemacht.
Am Ende der Studie steht, dass das Konzept der Studie von Zeina Jamaluddine stammt und die anderen beiden daran mitgearbeitet haben. Die beiden Professoren haben angeleitet.
Die Danksagungen gehen ausschließlich an Menschen mit arabischen Namen.
Um zu erklären, was diese Wissenschaftlerinnen (Mann mitgedacht) getan haben, muss man etwas ausholen. Obwohl es eigentlich in der Überschrift steht.
Die Rückfangmethode
Mal angenommen, man will wissen, wie groß eine Gruppe von freilebenden Schimpansen ist. Dann stellt man Fallen auf, markiert die gefangenen Tiere und lässt sie wieder frei.
Dann stellt man ein weiteres Mal Fallen auf und macht das Gleiche. Und wenn Schimpansen dabei sind, die schon markiert waren, kann man daraus Schätzungen ableiten, wie groß die Gruppe ist.
Das ist so etwas wie eine umgekehrte Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ist die Anzahl der Tiere, die bereits markiert waren, groß, ist wahrscheinlich, dass die Gruppe eher klein ist. Denn umso kleiner die Gruppe, desto wahrscheinlicher ist ja, dass sie wieder eingefangen werden.
Umso öfter man das wiederholt, umso genauer wird die Schätzung.
Damit das aber überhaupt funktionieren kann, müssen Bedingungen erfüllt sein.
Vor allem muss die Wahrscheinlichkeit, für jedes Individuum der Gruppe gefangen zu werden, gleich groß sein.
Versucht man das mit irgendwelchen Lockködern, wird das schon nicht mehr funktionieren. Denn selbst der blödeste und verfressenste Schimpanse wird ja irgendwann lernen, die Köder nicht mehr anzufassen. Weil er dann immer ganz müde wird und irgendwelche Leute ihm ein Halsband umlegen, nachdem er stundenlang doof im Käfig rumgewartet hat. (Mit Retrievern könnte es funktionieren.)
Diese Logik des Rückwärtsrechnens der Wahrscheinlichkeit, um auf die Größe einer Gruppe schließen zu können, nennt man „Rückfangmethode“. Oder im Englischen „capture–recapture analysis“.
Und diese Wissenschaftlerinnen sind auf die grandiose Idee gekommen, das auf die Toten im Gazastreifen anzuwenden.
Hut ab schon einmal bis dahin.
An dieser Stelle wage ich mich mal soweit aus dem Fenster zu unterstellen, dass das nicht ganz ergebnisoffen war. Ich habe eher das Gefühl, es sollten von vorn herein möglichst hohe Zahlen an Toten erreicht werden. Und man hat eine Methode gesucht, um diese zu produzieren.
Das ist grundsätzlich erstmal nichts Verwerfliches, zumindest rein wissenschaftlich nicht. Denn vor jeder Studie muss ja erstmal eine Idee stehen. Auch wenn sie moralisch oder ethisch nicht so ganz ok ist: entscheidend ist der Weg zum Ergebnis. Ist der sauber, ist das Ergebnis sauber, ob es einem Gefällt, oder nicht.
In diesem Fall ist es aber so, dass bereits die zwingende Bedingung, dass die Wahrscheinlichkeit für alle Individuen einer Gruppe gleich ist, nicht beachtet wurde. Die Methode kann also dafür nicht die beste sein. Um das mal ganz vorsichtig zu formulieren.
Die Hamas-Daten
Um zurückrechnen zu können, braucht man also verschiedene Datensätze. Im Schimpansen-Beispiel wären das die verschiedenen Versuche des Einfangens.
Was haben die Wissenschaftlerinnen also gemacht?
Sie haben einmal die Daten des Gesundheitsministeriums zu den Gefallenen genommen. Also die Zahlen der Hamas. Von denen ja bereits gezeigt wurde (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), dass sie nicht so ganz passen können.
Der zweite Datensatz war dann der einer öffentlichen Erhebung.
Diese wurde über Google Forms vom Gesundheitsministerium der Hamas eingerichtet, wo jeder Gefallene melden kann. Inzwischen wird diese auf der Plattform des Hamas-Ministeriums geführt.
Also sind das ja auch Zahlen der Hamas.
Foto: Screenshot der Eingabemaske des Hamas-Ministeriums.
Der dritte Datensatz sind Zahlen, die von Social Media kommen.
Es gibt u.a. auf Instagram und Telegram Seiten, auf denen man Vermisste oder Gefallene veröffentlichen kann. Genannt sind in der Studie u.a. „Gaza shaheed“, „Martyrs of Gaza“ (beide Instagram) und „The Palestinian Information Center“ (Telegram).
Die Verlässlichkeit dieser Zahlen, in wie nah sie an der Hamas sind, kann man sich vorstellen.
Dann haben die Wissenschaftlerinnen diese drei Datensätze miteinander abgeglichen. Also wie viele Gefallene auf mehreren Listen auftauchen. Um beim Schimpansen-Beispiel zu bleibe, wären das also die Schimpansen, die mehrmals in die Falle gehen.
Und daraus haben sie dann mit der „capture–recapture“ Methode ausgerechnet, wie groß die Gruppe der Gefallenen wohl ist.
Wissenschaftliches unterfüttern des Genozid-Narrativs
Lässt man das für einen Augenblick wirken, wirkt es erst richtig.
Es wurde nachgewiesen, wie ungenau und aufgebauscht die Angaben der Hamas sind (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Die Wissenschaftlerinnen haben nun einfach mehrere ungenaue Angaben genommen, die mehr oder weniger auch von der Hamas kommen, um sie miteinander hochzurechnen.
Und da wundert es dann doch, dass der Lancet so etwas überhaupt veröffentlicht.
Die ganze Studie mach auf mich den Eindruck, sehr bemüht zu sein. Es wird sehr viel Energie darauf verwendet, die drei Datensätze zu legitimieren. Was nicht notwendig wäre, wenn sie zuverlässig wären.
Beispielsweise wird erklärt, wie zuverlässig die Zahlen der Hamas bei vorherigen Angriffen waren. Und es werden Zahlen reingeworfen, die nun wirklich nichts darin zu suchen haben. Beispielsweise Schätzungen des Euro-Med Monitor. Einer Lobbyorganisation mit Sitz in der Schweiz, die von einem Palästinenser gegründet wurde. Und die mindestens Kontakte zur Hamas haben muss, wie eine Veröffentlichung von ihrem Gründer Ramy Abdu zu den befreien Geiseln (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gezeigt hat.
Ich bin sicher, ich könnte das ganze Ding noch weiter zerlegen. Aber dafür ist mir meine Zeit zu schade.
Beispielsweise wird gesagt, dass die Identifikationsnummern, die jeder Palästinenser mit seiner Geburt erhält, auf die korrekte Länge geprüft wurden. Bedeutet, sie wurden nicht geprüft, ob da tatsächlich reale Personen hinter stehen. Sondern lediglich, ob sie die korrekte Anzahl Ziffern haben.
Durch kleine Aussagen verraten die drei Wissenschaftlerinnen meiner Meinung nach die tatsächliche Kompetenz und Motivation.
Beispielsweise wird darauf hingewiesen, die Zahl der Gefallenen sei „außergewöhnlich hoch“… im Vergleich zu anderen Konflikten im Gaza-Streifen. Militärisch ist das, als würde man den Falklandkrieg mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichen.
Weiter wird behauptet – ohne Quellenangabe – die Mehrheit der Gefallenen seien Frauen, Kinder und Alte gewesen. Obwohl die eigene Grafik etwas völlig anderes zeigt. Und diese Behauptung aus dem UN-Report (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ebenfalls bereits widerlegt ist; durch den eigenen Text.
Die angeblich zu erwartenden 186.000 Toten aus einem Leserbrief an den Lancet, die inzwischen gerne von der Propaganda als „Studienergebnis“ aufgebauscht werden, werden zwar skeptisch erwähnt. Aber man kann sie ja mal erwähnen.
Und so steht dann auch in der Interpretation der Wissenschaftlerinnen zu lesen:
„Diese Ergebnisse unterstreichen die dringende Notwendigkeit von Interventionen, um weitere Verluste an Menschenleben zu verhindern und wichtige Muster in der Kriegsführung aufzuzeigen.“
Meiner Meinung nach dient das ganze Ding einzig dem Zweck, den Genozid-Narrativ weiter befeuern zu können.