„Mama, wie geht das … nie wieder?“
Mehr Fragen als Antworten zu haben, daraus lässt sich kein Text machen. Das ist es, was ich seit Wochen denke, wenn ich um mich herum oder in die Nachrichten schaue. Mir fallen nur Fragen ein, hunderte. Wenn ich an die Landtagswahlen des kommenden Jahres denke und die wahrscheinlich hohen Stimmergebnisse der AfD, oder das viel zu heiße Jahr, in dem sich in Deutschland mehr Wut auf Klimaaktivist_innen richtete, als öffentlich über notwendige Schritte geredet wurde. Wenn noch immer nicht verstanden wurde, dass Armut, erst recht, wenn sie sich verstetigt, wenn sie kleingeredet wird, kein Rezept für eine gesunde Demokratie ist. Wenn Journalist_innen so viel Tod, Angst, Schmerz dokumentieren müssen, dass nur einen Bruchteil davon zu sehen, innerlich zerreißt. Wenn Terror und Krieg noch mehr Einsamkeit hervorrufen, Freund_innenschaften und Gruppen zerbrechen, statt dass Menschen einander beistehen können.
All diese Fragen ergeben einen Zustand, vielleicht eine Emotion, für die es kein passendes Wort gibt, denn Ratlosigkeit trifft es nicht. Dann wäre mein Kopf leer. Wer ratlos ist, zieht sich zurück. Solange man noch Fragen hat, immer wieder neue Fragen formulieren kann, sich traut, sie zu stellen, nach Menschen sucht, mit denen man Fragen nachspüren kann, ist man noch nicht resigniert und kann zumindest nach möglichen Antworten tasten. Wer Fragen stellt, hofft, dass es Austausch geben kann und der Kontakt nicht abbricht, hofft, dass man lernen oder besser verstehen kann. Einander Fragen zu stellen, schafft Nähe. Fragen sind die erste zarte Brücke hin zu Vertrauen. Zumindest sofern man über das Fragen wirklich etwas erfahren will und zulassen kann, dass Antworten nicht immer angenehm sind.
Dennoch fühlt es sich ungenügend an, gerade keinen längeren Text mit Thesen und Antworten schreiben zu können und ich wundere mich über das Gefühl, bis ich mich erinnere, wie viele Situationen es gibt, in denen aufrichtiges Fragen kaum vorkommt oder nicht erwünscht ist. Familien, die sich treffen und denen nur oberflächliche Gespräche gelingen: das vierzehnte Mal dieselbe Geschichte von damals oder Tratsch über die Nachbar_innen. Nachfragen nach dem eigenen Leben, die so unpersönlich und belanglos sind, dass sie bewirken, sich noch fremder zu fühlen. Beziehungen, in denen nur noch nach dem Tag oder der Alltagsorganisation, nicht aber nach Bedürfnissen oder Träumen gefragt wird. Fragen, über die man spürt, dass man als Person nicht interessiert.
Offene, größere, neue Fragen in solchen Räumen zu stellen, sorgt für Unbehagen, denn sie wollen eine emotionale Distanziertheit durchbrechen, Kontakt ermöglichen und anderen die Möglichkeit geben, ihre Rollen zu verlassen, um sich endlich besser kennenzulernen. Vor Anekdoten und Selbstdarstellung in einem Gespräch muss niemand Angst haben, die nerven nur, vor Fragen schon. Fragen machen verletzlich sogar dann, wenn man sie stellt, da man die Kontrolle an die Personen abgibt, die antworten werden. Und es verletzt umso mehr, wenn der Antwort gänzlich ausgewichen wird.
Vermutlich ist es keine deutsche Stärke, Fragen zu stellen – zynisch angemerkt. Denn wäre das genaue, hartnäckige, unbequeme Fragen-Stellen eine etablierte Kulturtechnik, wäre das „Nie wieder ist jetzt“ nicht nur eine Phrase. Viel mehr Menschen in Deutschland wüssten, wie man diese Praxis lebt, wenn sie über stetes Nachfragen besser verstanden hätten, wie das geschah, was sich nie wieder wiederholen soll. Wenn es ein Bewusstsein darüber gäbe, wie viel noch, wie viel immer wieder gefragt und verstanden werden muss, um das Grauen der Shoa, die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Wegsehen der allermeisten Deutschen anzuerkennen, aufzuarbeiten und daraus zu lernen.
Der Autor Max Czollek erklärte die Aufgabe von Erinnerungskultur bei den Römerberg Gesprächen im November (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) auf diese Weise:
„Es muss darum gehen, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.“
Ich nehme meine kleine Tochter im November das erste Mal mit zum Stolpersteine-Putzen, wir stellen ein Licht dazu. Es fällt mir schwer, es ihrem Alter entsprechend in Worte zu fassen, an welche Menschen die Steine erinnern. Viel schwieriger ist es jedoch, zu erklären, was das mit heute zu tun hat. Ihr zu erzählen, was damals passiert ist, fühlt sich für die Gegenwart absolut unzureichend an. Was soll sie lernen aus einer Erzählung, die zunächst vor allem verstört und Angst auslöst? Während ich die Bedeutung der Stolpersteine erkläre und sie, die gerade Lesen lernt, laut die Namen der Frauen vorliest, die nicht mehr leben, merke ich, wie unvorbereitet ich bin darauf, so mit meinem Kind über Erinnerung an den Holocaust so zu sprechen, dass es meinen eigenen Werten entspricht und dass ich in meiner Zeit bleibe.
Erinnere ich mich an den Geschichtsunterricht meiner Schulzeit habe ich zu dem oben zitierten Verständnis einer Erinnerungskultur, die gegenwartsbezogen ist, nichts gelernt. Welche Schlüsse ziehen wir aus dem Vergangenen für heute? Wie verhalten wir uns? Nicht nur an Gedenktagen, sondern an jedem Tag.
Mir wurde in der Schule nicht nahegelegt, meinen Großeltern Fragen zu stellen darüber, was sie getan haben oder nicht – es wurde nicht gelehrt, wie man die Gegenwart so ausstaffiert, dass Nazis die Lust verlieren, statt sich gemütlich einzurichten. Eher wurde mir familienintern vermittelt, ich solle meinen Opa nicht „nach dem Krieg“ fragen, wenn er von sich aus nicht erzählen wolle, als sei das Interesse daran die Verletzung; dabei war und ist das Vorenthalten des Erfahrungswissens der Täter_innen und Mitläufer_innen aus dieser Zeit das, was unverschämt ist. Das kein Kriegstrauma entschuldigt. Denn das Schweigen und selektive Erzählen hat die Gegenwart fragiler, statt resilienter gemacht hat. Täter_innen und Mitläufer_innen von damals hätten fragen müssen, immer wieder: ,Was wollt ihr wissen?‘ oder ,Habt ihr verstanden, was ihr tun müsst, damit sich solche Verbrechen nie mehr wiederholen?‘
Die Erinnerungskultur, die ich kennengelernt habe, verortet die Ermordung von Jüdinnen und Juden, von Homosexuellen, Behinderten, Sinti*zze und Rom*nja als Ungeheuerlichkeit der Vergangenheit; als abgeschlossenes historisches Phänomen, das zwar beschrieben werden muss und an das man erinnert, aber das die Gegenwart nur mechanisch berührt. Wie die Vergangenheit sich bis heute immer wieder zeigt und lebendig bleibt, spüren und sehen zu viele Menschen nicht.
Björn Höcke ist kein skurriler Zeitreisender, sondern teilt sich mit allen in Deutschland lebenden Menschen, egal, wie nah sie der AfD stehen oder wie stark sie sich gegen sie stellen, die gleiche Gegenwart. Wir stellen diese Gegenwart miteinander her. Man mag für sich selbst zu dem Schluss kommen, dass man mit rechtsextremen und autoritäten Bestrebungen nichts zu tun hat und sich davon intellektuell distanzieren kann, doch zeitlich ist jede_r damit verbunden. Dieser Gleichzeitigkeit entkommen wird nicht.
»Damit aus solchen Gegenwarten eine Vergangenheit wird, muß etwas Neues eintreten.« Barbara Adam
Ist die Zeit neu, in der wir leben?
Darüber wütend zu sein, dass es derartige Gespräche mit meinen älteren Verwandten nie gab, ist wenig zielführend. Produktiver kann es sei, sich selbst nach dem Wissen zu befragen, wie eine antifaschistische Gegenwart beschaffen sein muss, oder sich darauf vorzubereiten, dass beispielsweise die eigenen Kinder danach fragen: „Mama, wie geht das … nie wieder?“ Statt darüber zu erschrecken, die Antwort nicht zu haben oder keine, die sehr weit trägt, kann die nächste Frage sein: „Wen kann ich fragen?“ Welchen Menschen kannst du fragen? Einen Menschen, nicht eine Suchmaschine, eine KI oder ein Buch. Es müssen keine Expert_innen sein, mit denen man spricht, gesellschaftlicher Dialog entsteht, wenn man möglichst breit, mit unterschiedlichen Menschen über die Fragen ins Gespräch kommt, auf die man selbst noch keine Antworten hat.
Als im Sommer Friedrich Merz in einem Interview eine Kooperation der CDU und der AfD auf kommunaler Ebene nicht mehr ausschließen will, reagierte sogar mein Magen. Mir ist tagelang schlecht. Einige Menschen, denen gegenüber ich das Thema anspreche, weichen einem Gespräch aus, indem sie Merz als Person abfällig kommentieren. Sarkastische Anmerkungem zum politischen Geschehen stehen sicherlich eher für eigene Unsicherheit oder Resignation, sind aber leider eine Sackgasse. Ich fühle mich nicht ernst genommen in meiner Sorge. In Gesprächen mit Menschen im Sauerland, meiner Heimatregion, höre ich heraus, dass Merz Aussagen sie nichts angehen, das sei halt so. Statt zu erzählen, ob und wie sie darüber im Freundeskreis diskutieren, wo sie widersprechen, bekomme ich zurück: „Schreib du doch mal was.“
»59 Prozent der Deutschen fühlen sich von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert. Und 68 Prozent ziehen sich mehr zurück und mögen es, ihre Ruhe zu haben. Nur 39 Prozent sagen von sich, dass sie sich noch ausführlich über das Weltgeschehen informieren.« (Studie (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
Ein paar der Fragen die ich aktuell habe, sind, wie es gelingt zu vermitteln, dass der Rückzug ins Private und das Ausblenden von Politik nicht das Mittel gegen Unsicherheit und Ratlosigkeit sind. Dass es im Gegenteil gut tut, zu wissen, dass die Welt jede_n etwas angeht. Eine andere Frage ist, wie sich wenigstens das Vertrauen von Menschen ineinander wieder stärken lässt. Wie erfahrbar wird, dass sie handlungsfähig sind, auch dann, wenn ihre Alltagssorgen zu wenig von der Politik aufgenommen werden. Ich frage mich auch, ob es zielführend ist, jede gesellschaftliche Frage, der wir uns stellen müssen, als Krise zu bezeichnen, sodass man vor lauter Krisen weder besonders viel sehen, noch fühlen kann und auch nicht wissen, was wichtig ist. Wer wird von sich denken, etwas beitragen zu können, wenn alles nur noch aus Krisen besteht?
Die Antworten darauf und viele andere Fragen gibt es. Sich auf die Suche nach ihnen zu machen, ohne zu wissen, wie schnell man sie findet, fühlt sich immer noch besser an, als nichts zu tun und niemanden zu fragen und sich stattdessen im Fehlen der Antworten zusammenzutun. Ich muss derweil mal meine Eltern fragen, ob das ,The truth is out there‘-Poster, das in meinem Kinderzimmer hing, noch irgendwo auf dem Dachboden liegt. Wer hätte gedacht, dass es so zeitlos ist.
Bis bald
Teresa
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