Was zur Hölle bedeutet "Privilegien reflektieren"?
Es ist kein neues Phänomen (oder eher: Problem), dass bestimmte Missstände nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden können, ohne instrumentalisiert zu werden. Diese Instrumentalisierung dient in der Regel zur Verstärkung des Problems, was notwendige Debatten gefährlich machen kann.
Das kennen wir aus innermigrantischen Debatten, die nicht ausgetragen werden können, ohne rassistisch instrumentalisiert und gegen diese Gruppen verwendet zu werden. Dabei haben beinahe alle (marginalisierte) Gruppen auch interne Probleme. Sie sind in der Regel alles andere als homogen und die Ungleichheiten innerhalb dieser Gruppen führen, so wie überall auch, zu gewaltvollen Verhältnissen.
Im migrantischen oder nicht-weißen Kontext bestehen beispielsweise große Unterschiede. Migrantisch ist nicht gleich migrantisch, auch innerhalb der Gruppen bestehen Gewalt- und Machtverhältnisse.
Beispielsweise gibt es privilegierte BIPOCs, die akademisierte oder weiße Eltern(teile) haben. Es gibt genauso jene, deren Zuwanderungsgeschichte nicht an Verfolgung liegt, die also keine Familientraumata erben. Wer weniger marginalisiert ist, hat eine leichtere Last zu tragen, erlebt weniger Gewalt, kann sich viel leichter verwirklichen als jene, die marginalisierter sind. Wer privilegierter ist, ist mehr auf einer Ebene mit der Mehrheitsgesellschaft, wird eher zugehört, kommt eher rein. Auch diese Privilegien können zu Gewaltanwendung führen, wenn sie nicht reflektiert werden. Genauso wie die weiße, cisgeschlechtliche, christliche (oder christlich sozialisierte) Mehrheitsgesellschaft müssen auch Menschen aus Minderheiten ihre Privilegien reflektieren. Das heißt: Sie müssen einen Reflexionsprozess starten und herausfinden, was an ihren Lebensbedingungen, an ihren Biografien, hilfreich und gut für sie war, und was eher ein Hindernis. So finden sie heraus, wo unten und oben ist: Wer es schlechter hat, wer es besser hat. So verorten sie sich in der Gesellschaft, in der sie leben. So wissen sie, wo sie Macht haben, und wo nicht. Das ist unverzichtbar. Für alle.
Es ist beispielsweise ein Privileg, nicht fliehen zu müssen. Es ist ebenso ein Privileg, selber keine Migration erlebt zu haben. Es ist ein Privileg, akademisierte Eltern(teile) zu haben. Es ist ein Privileg, nie in dem Land gelebt zu haben, aus dem die (Groß)Eltern stammen. Es ist ein Privileg, einen weißen Elternteil zu haben. Es ist ein Privileg, einen christlichen Elternteil zu haben. Es ist ein Privileg, eine EU-Staatsbürgerschaft zu haben. Es ist ein Privileg, studiert zu haben. Es ist ein Privileg, sich die Kultur und die Sprache des Landes, in dem man lebt, nicht erst als Erwachsene aneignen zu müssen, sondern darin aufzuwachsen und davon geprägt zu werden.
Wenn wir uns genau anschauen, welche BIPOCs den Aufstieg schaffen, sehen wir, dass es in der Regel äußerst privilegierte BIPOCs sind. Das heißt es sind in der Regel jene, die eigentlich nicht wirklich aufsteigen.
Sobald wir über dieses Thema sprechen, kommen Rechte um die Ecke und wollen uns aufgrund unserer Privilegien die Diskriminierung kategorisch absprechen. Das ist gefährlich, denn die Diskriminierung ist ja trotzdem da, ist immer noch gewaltvoll, kostet immer noch Leben. Selbst wenn wir nicht zwingend mit Rechten zu tun haben, gibt es jene solidarische(re) weiße, die, ohne ein tiefes Verständnis der Zusammenhänge, Partei ergreifen. Da sie aber eben durch eine weiße Brille auf uns schauen, tendieren sie, sich eher mit privilegierteren BIPOCs zu solidarisieren. So reproduzieren sie bestehende Gewaltverhältnisse.
Vor allem aus diesen Gründen brauchen wir unsere sicheren Räume, in denen wir ohne Störung und Gewalt diskutieren und unsere Probleme lösen können.
Eine Debatte, die durch äußere Akteur*innen enorm gestört und teilweise verhindert wird, ist die Debatte um die Rechte und Freiheiten von Sexarbeiter*innen. Die Branche wird von enormer Gewalt konfrontiert, sowohl im Alltag im Berufsleben, als auch auf einer politischen Ebene.
Calypso Fae, selber Sexarbeiterin, hat die Kolumne des Monats geschrieben, und sich thematisch auf die Situation von trans Sexarbeiter*innen konzertriert. Ich habe ihren Text gerne gelesen und habe viel daraus gelernt. Ganz zum Schluss befinden sich paar weitere Leseempfehlungen.
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Ayran-Man und ich wünschen gute Lektüre!
Die Saure Kolumne
There is no trans liberation without sex work decriminalization
Von Calypso Fae
Hinter dieser Parole hatte ich die große Ehre September 2020 den Demozug zum Abschluss der Sex Work Action Week in Berlin anzuführen. Hinter diesen Worten stehe ich mit Pride und Trauer gleichzeitig. Pride, weil ich als trans Sexarbeiterin stolz auf meinem Job bin und durch meine Arbeit einen positiven Beitrag für die Entwicklung der Gesellschaft leisten möchte. Trauer, weil ich weiß, dass viele trans Menschen in meiner Branche leiden, und viele Details im Umgang mit und in der Darstellung von trans Menschen in meiner Branche den Fortschritt der Rechten aller trans Menschen behindern.
Sexarbeit ist der Brotverdienst von vielen trans Menschen. Insbesondere für trans Frauen in vielen Ländern ist es unmöglich, ihren Lebensunterhalt anderweitig zu verdienen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Auch in Deutschland ist Diskriminierung am Arbeitsplatz eine Tatsache, die viele aus dem „bürgerlichen“ Arbeitsmarkt ausschließt und so in Armut oder in die Sexarbeit treibt.
Als trans Menschen in der Sexarbeit haben wir aber auch unsere eigenen Kämpfe. Dass die Sexbranche in weiten Teilen frauenverachtend ist, sollte schon klar sein: keine ernste Politik der Sexarbeit kann diesen Fakt bestreiten. Wo es Misogynie gibt, gibt es auch Transmisogynie und Transfeindlichkeit — und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dabei spielen fast alle, die mit der Sexarbeit zu tun haben, eine Rolle: die großen Betreiber, die uns anstellen oder unsere Angebote für uns bewerben, unsere Kolleg*innen und Kund*innen.
Die größten kommerziellen Angebote für Paysex und Porno bestreiten alle Behauptungen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), dass sie transfeindlich sind oder Transfeindlichkeit und falsche Ideen über Transsein verbreiten. So sprechen sie die Weiblichkeit oder Männlichkeit ihrer binären trans Inserenten ab, in dem sie „transsexuell“, „weiblich“ und „männlich“ als Kategorien von Dienstleistenden darstellen, die sich gegenseitig ausschließen — als ob ich nicht weiblich und trans sein könnte. Einige Angebote, insbesondere im Porno-Bereich, nutzen Begriffe wie „Shemale“, „Tranny“ und „Transe“, die außerhalb der Sexbranche als transfeindlich und zutiefst beleidigend verwendet werden. Unsere Kolleg*innen behandeln uns teilweise wie verkappte Kunden und nicht als Arbeitskamerad*innen, z.B. weil sie männliche Kunden haben, die gerne weibliche Klamotten in ihrer Sessions tragen und den Unterschied zwischen uns und TV-Fetischisten nicht sehen.
Ist es ein Wunder, dass Menschen, die über trans Menschen von den Angeboten der Sexbranche lernen, uns dann missgendern, mit Schimpfwörtern beleidigen und es nicht besser wissen?
Rund zwei Monaten nach der Demo in Berlin hatte ich das große Privileg, eine Runde zum Erfahrungsaustausch unter einer kleinen Gruppe trans Kolleg*innen zu leiten. Im Rahmen dieses Austausches haben wir eine Liste unserer Forderungen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erstellt. Wir halten eine Sexarbeit ohne Transfeindlichkeit für möglich und erstrebenswert. Nicht nur für uns als trans Sexarbeitende, sondern für alle trans Menschen, die unter der Transfeindlichkeit leiden, die durch unsere Branche in die breitere Gesellschaft exportiert wird.
Calypso Fae ist trans und Domina. Sie kommt aus England und wohnt und arbeitet in Berlin.
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