Tonband und Tradition
Die Erkenntnis des eigenen Alterns trifft uns alle unterschiedlich, aber wir alle haben Momente der plötzlichen Erfahrung des fortschreitenden Lebens. In körperlich fordernden Berufen geht das vermutlich meist mit echten, physiologischen Schmerzen einher, als Historiker eher mit der Erkenntnis des eigenen Eintritts in die Zeitzeugenschaft. Denn Zeitzeug:innen, das lernen wir schon in den ersten Semestern, sind ziemlich anstrengend und alt – meist sitzen sie als Seniorenstudierende in den vorderen Reihen der Vorlesungen (und das schon 20 Minuten vor Beginn, weshalb sie auch in überbelegten Veranstaltungen wichtige Plätze wegnehmen) und beanspruchen das Primat der eigenen Erinnerung über den Forschungsstand der Zeitgeschichte.
Werden wir dann älter, erinnern wir uns weiterhin mit Grauen gerade an die grauhaarigen Zahnwälte, die dem Ordinarius für Neuere und Neueste versuchen zu erklären, dass seine Kanzleramtsaktenkenntnis nichts sei gegenüber ihrer ungefähren Rekapitulation aus zeitgenössischen Tageszeitungen, aber wir merken auch, dass wir genau dieser Generation immer näherkommen, und natürlich schmerzt das beträchtlich.
Ein Beispiel: In den vergangenen zwei Wochen bestand meine per Algorithmus kuratierte TikTok-Startseite zu einem beträchtlichen Anteil aus entsetzten Reaktionen von in den 1980er Jahren geborenen Menschen über ein Satirevideo (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), in dem eine junge Person, als Figur eher unter 20 angelegt, versucht eine Musikkassette abzuspielen, die sie auf dem Flohmarkt erworben hat. Sie präsentiert stolz die Kassetten und das (urhässliche) Abspielgerät, scheitert zunächst an der richtigen Bedienung, fragt dann ob das Einwegmedien seien – so weit, so vorhersehbar. Was allerdings die Gemüter der Generation Ü30 in Wallung brachte, war eine kleine, unscheinbare Wortwahl:
„There's a whole bunch of bands on this one thing, so it should be a really great representation of, like, late 1900s music.”
Es ist bei der folgenden Entrüstung nicht immer ganz klar, ob die Reagierenden sich der satirischen Dimension des Videos bewusst sind und mitspielen, oder ob sie ganz offen entsetzt sind über die Bezeichnung „Späte 1900er-Musik“. In jedem Fall trifft sie klar ins Mark, denn sie ist für Menschen zwischen (grob) 30 und 50 vermutlich der prägnanteste Kontakt mit der Historisierung ihres eigenen Lebens.
Nun werden die Historiker:innen die hier mitlesen vermutlich einwerfen, dass das aber gar keine Historisierung im eigentlichen Sinne ist, und sie haben Recht: Darunter versteht man nämlich gemeinhin den Übergang eines Vorgangs der Vergangenheit von einem Ereignis hin zu einer betrachtbaren Einheit. Das klingt furchtbar abstrakt, ist aber eigentlich ganz einfach: Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war zunächst einmal eine Verkettung von verschiedenen Ereignissen und Entscheidungen von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Kompetenzen und Interessen, und er beeinflusste die Welt und die in ihr lebenden Menschen derart, dass eine kühle Betrachtung kaum denkbar war. Durch eine Historisierung dieser Kette an Ereignissen und Entscheidungen machen wir daraus aber das historische Ereignis Kriegsausbruch, weil wir selbst nicht mehr unmittelbar davon betroffen sind und auch keine inhaltlichen Interessen mehr daran haben, uns nicht mit einer Seite gemein machen. Das nur als radikale Verkürzung des Prinzips, wer sich hineinfuchsen will, sollte bei Docupedia (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) weiterlesen.
Und dennoch ist das, was vielen Leuten da auf TikTok wiederfahren ist, auch eine Form, eine Art Frühphase, der Historisierung, vielleicht auch einfach seine Grundbedingung: Aus dem eigenen Leben wird eine Biografie und diese Biografie wird Teil einer Geschichte und hat nicht mehr unmittelbar mit der Gegenwart zu tun. Das, was wir aus Kunst und Medien als Marker einer Vergangenheit kennen, passiert nun mit unserer eigenen Lebenswelt.
Das lässt sich ebenfalls in der Serie „Bupkis“ des amerikanischen Tausendsassa Pete Davidson schön erkennen, die sich aus einer überspitzten und fiktionalisierten Lebensgeschichte seiner selbst speist: In der zweiten Folge, die einen Rückblick in Davidsons Kindheit kurz nach dem 11. September (an dem sein Vater, ein Feuerwehrmann, in Serie wie Realwelt ums Leben kam) darstellt, singt sein Onkel im Auto sehr laut „My Sacrifice“ der Band Creed: Einen solchen Einsatz von Popkultur als Marker einer vergangenen Zeitepoche kennen wir ansonsten beispielsweise aus „Wayne’s World“ (1992) mit seiner bekannten Intonation von „Bohemian Rhapsody“ (1975). Sie funktionieren instinktiv, solange wir nicht selbst zur Epoche der Mitlebenden dieser Musik gehören. Erreichen sie dann die Phase unserer eigenen Lebenserfahrung, erkennen wir nicht nur unseren eigenen Altersprozess (wir können es auch Verfall nennen), sondern auch die Ablösung unserer eigenen Alterskohorte durch die nächstjüngeren Generationen, für die „My Sacrifice“ ein Oldie ist wie es für uns „Stairway to Heaven“ war.
Und so ähnlich funktioniert es auch bei den „Late 1900s“: Plötzlich wird hier eine Wortwahl verwendet, die wir aus früheren Jahrhunderten kennen, von Frauenwahlrechtsprotesten, Kaiserreich und ähnlichem. Dass wir jetzt selbst Teil der Spätphase eines Vorjahrhunderts sein sollen, klingt dann umso schmerzhafter. Dass es am Ende auch noch um den Soundtrack des Tom-Cruise-Films „Cocktail“ geht, fällt dann kaum noch ins Gewicht.
Was sonst noch kommt:
Ich bin am kommenden Mittwoch in Berlin auf der re:publica und spreche dort über Werbung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ich bin quasi als Letzter vor der Verabschiedung dran und freue mich, wenn trotzdem jemand vorbeikommt!