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Heute vor 60 Jahren ereilte die Stadt Hamburg jene Sturmflut, die nach gängiger Auffassung aus dem Innensenator Helmut Schmidt den späteren Bundeskanzler machte. Diese Umweltkatastrophe ist eines der ersten Ereignisse, an denen ich das Konzept der Medialisierung verstanden habe. 

Eigentlich gibt es nämlich beim regional sehr begrenzten Ereignis "Sturmflut 1962" nur drei Menschengruppen, die es für historisch signifikant halten: Die Dabeigewesenen, Menschen aus Hamburg und Sozialdemokrat:innen (wegen Schmidt, ne).

Allen anderen ist es, wenn überhaupt, durch seine massenmediale Überpräsenz bewusst, die sich maßgeblich daraus speist, dass mit Spiegel, Axel Springer und NDR die drei Hauptnachrichtenquellen der Bonner Republik ihren Sitz in der Freien und Hansestadt hatten.

Zum 60. Jahrestag gibt es ein Twitter-Projekt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), das meines Wissens nach das dritterfolgreichste Projekt dieser Art (Echtzeit-Nacherzählung) im deutschsprachigen Twitter ist, wenn man die Follower:innenzahlen zugrunde legt. Die anderen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) beiden (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), noch erfolgreicheren Projekte, bei aller Bescheidenheit, habe ich mit konzipiert und insgesamt zu verantworten. Ich maße mir also an, eine gewisse Expertise zu besitzen. „60 Jahre Hamburger Flut“ ist weitgehend gut gelungen, es erzählt dicht, es gibt spannende Originalquellen, es war Geld da, um dpa-Fotos zu lizenzieren.

Das gibt mir etwas Hoffnung, nachdem ich das Format eigentlich 2015 für weitgehend auserzählt hielt. Viele halbwegs digitalaffine Historiker:innen hatten offenbar den Eindruck erlangt, mit einer ausreichenden Quellenbasis sei ein solches Twitterprojekt quasi ein Selbstläufer, und zeigten doch eigentlich nur zwei der Hauptprobleme unserer Disziplin im 21. Jahrhundert:

· Die fast allgegenwärtige Unfähigkeit, mit Technik umzugehen (weil es 2015, zu @DigitalPast, noch keine Twitterthreads gab, hat sie bis @HHFlut1962 auch niemand eingesetzt).

· Die flächendeckende Unfähigkeit (oder der Unwillen?), gut zu erzählen.

Insbesondere Letzteres brachte viele ambitionierte Projekte zum Scheitern, erst recht, wenn sie das Ergebnis universitärer Projektlehre waren: niemand lernt an deutschen Hochschulen, ordentlich zu erzählen. Das Erzählen hat für die etablierte Geschichtswissenschaft immer etwas Anrüchiges, etwas von Erfindung und Fiktion. Deswegen sind selbst die Bestseller deutscher Historiker:innen oft derart unlesbar­ trocken, dass schon das Verwenden des Fernsehserienwortes „Staffel“ im letzten Buch von Hedwig Richter als Beleg für deren blumige Sprache in Rezensionen erwähnt wird.

Diese Unfähigkeit, in Text gleichzeitig verantwortungsvoll und unterhaltsam Geschichte zu vermitteln, hat sehr unangenehme Folgen für uns: Unsere Geschichtsvermittlung wird uns von Journalist:innen und im weitesten Sinne Contentproduktionen weggenommen, die sich nicht um Gewissenhaftigkeit, um langfristige Auswirkungen ihres Tuns oder um Branchenstandards wie den Beutelsbacher Konsens kümmern müssen. Ich könnte hier abschweifen zu @ichbinsophiescholl, das bewahre ich mir aber für die kommende Woche auf.

Bleibt die Frage, wie wir als Historiker:innen in den Sozialen Medien wieder attraktive Angebote machen können. Dass die Abonnent:innenzahlen in den letzten Monaten und Jahren zuverlässig vierstellig wurden, sagt wenig aus; weil mittlerweile glücklicherweise mehr von uns auf den Plattformen unterwegs sind, lässt sich schon komplett innerhalb der Echokammer Histotwitter eine stattliche Zahl von Abonnierenden erreichen, die für den nächsten Förderantrag gescreenshottet werden kann – weniger als vierstellig gleicht einer kräftigen Ohrfeige. Wer mit dem etablierten Werkzeugkasten der Produktverkäufer, mit Calls to Action und Like-Aufrufen, an die Sache herangeht, wirkt krampfhaft nach Aufmerksamkeit suchend.

Ich glaube, das Problem des qualitativen Niedergangs deutscher Social-Media-History liegt in ihrem anfänglichen Erfolg begründet: denn Erfolg institutionalisiert, das bekomme ich immer wieder seufzend aus Universitäten berichtet. Der Erfolg und auch die Qualität der frühen Projekte, ganz gleich auf welcher Plattform, lag auch in ihrem Graswurzelmoment: Kreativität erwächst vor allem dort, wo sie sich nicht in etablierte Hierarchien, Geschäftsabläufe und Antragslogiken einpassen muss, sondern einfach mal machen kann. Selbst als wir für @DigitalPast bzw. das im Propyläen Verlag erschienene Begleitbuch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Geld erhielten, redete uns als fünfköpfigem Team in die tatsächliche Twitterarbeit niemand herein, weil sie nicht Teil des Buchvertrags war. Lokale Initiativen, die mittlerweile oft beeindruckend digital sind, bestehen nicht selten nur aus Idealist:innen, die selbst wenn sie Geld für ihre Projekte wollten nicht einmal wüssten, wo man solches herbekommt.

Solange es keine verstetigt finanzierten Stellen (hört auf zu lachen!) für digitale Geschichtsprojekte gibt, so lange wird Antragslogik verhindern, dass diese Projekte spontan auf neue Entwicklungen oder eigene Erkenntnisse reagieren können, denn was im Konzept steht ist heilig. Ein solches System führt immer dazu, dass Etabliertes reproduziert wird, um ein Scheitern auszuschließen. Risiko wird auch gar nicht belohnt: Wer als Professur, Museum, Geschichtsagentur ein solches Projekt macht und fünf Mal auf Twitter bewirbt, wird schon von selbst auf seine 800 bis 2.000 Follower:innen kommen, das ist mehr als jeder Jubiläumsband und somit automatisch ein Erfolg. Dagegen ist nicht viel zu sagen, außer dass damit sämtliche bislang ungenutzten Potenziale dieser Medien verpasst werden.

Was es also braucht ist entweder, und das wäre die schlechtere der beiden Optionen, wieder mehr Idealist:innen, die solche Projekte ohne jegliche Bezahlung machen, nur um sie einmal auszuprobieren. Oder es bräuchte Geldgeber, also meist Stiftungen oder Fördertöpfe, die genug Vertrauen mitbringen, um einer Gruppe von kreativen Köpfen Geld zur Verfügung zu stellen ohne auf den Wortlaut des Eingangskonzeptes zu beharren, die Scheitern als einen Teil des Erkenntnisprozesses betrachten, die nicht unmittelbar messbare Ergebnisse verlangen. Bei vielen IT-Firmen gibt es "Side Project Time", in der Entwickler:innen an Dingen arbeiten können, die sie interessieren, ohne dafür klare Aufträge oder Zielfenster zu bekommen. Warum sollte so etwas im Bereich der historisch-politischen Bildung nicht möglich sein?

Es tut mir leid, dass Ausgabe #2 gleich so schrecklich selbstreferenziell geworden ist. Darin liegt vielleicht auch ein Kern des Problems: Ein Großteil unseres möglichen Publikums interessiert sich nicht dafür, wer das Projekt macht, finanziert hat, inhaltlich verantwortet oder auch nur, ob die verwendeten Bilder ordnungsgemäß lizenziert oder illegal verbreitet werden. Gleichzeitig haben sie, meiner Erfahrung nach, ein sehr genaues Gespür dafür, wann man sie nicht ernst nimmt: 

Wenn die Followerzahl das Projektziel ist und nicht die Follower.

Was sonst noch war:

· Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen hat einen sehr schönen Artikel über „Gernelesen“ geschrieben, ein Prinzip, das sich auch Historiker:innen hinter die Ohren schreiben könnten: Lesen muss keine Qual sein, und ein Lektürekanon kann sich auch ändern: https://www.wallstein-verlag.de/openaccess/9783835350854-020.pdf (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)[PDF]

· Um das Vermächtnis von Nelson Mandela zu bewahren und zu ehren, wurde sein Zuhause, das ein Symbol seiner Präsidentschaft und seines Kampfes gegen die Apartheid war, nun… ach, glaubt mir ja eh niemand: https://twitter.com/ReutersAfrica/status/1493605906533294085 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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